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Klischeevorstellungen vom sowjetischen Revolutionsfilm neigen dazu, dessen regionale und nationale Vielfalt auszublenden. Mit der Konzentration auf Filme, die in der Ukrainischen SSR entstanden sind – produziert durch die ökonomisch und politisch weitgehend autonomen Filmstudios der WUFKU (Allukrainische Foto- und Filmverwaltung), – versucht die Retrospektive ein differenzierteres Bild zu vermitteln. Neben dem Produktionsort verweist sie – und dies ist der aktuelle Impuls – auf einen Ort der Überlieferung von Filmen, das Nationale Alexander Dowshenko Zentrum in Kiew, das trotz politischer Krisensituation der letzten Jahre kontinuierlich eine beachtliche Arbeit der Restaurierung, Edition und Vermittlung wertvoller Archivbefunde realisiert.

Der Blick auf die restaurierten und neuvertonten Filme des Dowshenko-Zentrums versucht zugleich das Verhältnis des Politischen und des Ästhetischen neu zu reflektieren. So unterschiedlich sie sind, stellen diese Filme doch die Ereignisse der Revolution dar. Sie sollen nicht als Klassiker des Agitprop vorgestellt werden, sondern als ästhetische Manifeste, die einen Blick nicht nur für Fahnen, sondern für einzigartige Gesichter, nicht nur für Fäuste, sondern für bewegte Körper und Gesten, nicht nur für die Ausbeutung von Naturressourcen, sondern für deren Fakturen und Texturen lehren.

Politik des Rhythmus: Es geht um mehr als ein narratives Bebildern der Geschichte. Der Rhythmus des Films und der Rhythmus der Revolution interagieren auf vielen Ebenen, indem beide neue Wahrnehmungs- und Handlungsräume erschließen – von neuen Routinen der industrialisierten Arbeit über die geopolitischen Transformationen von Stadt und Land bis zur Kollision historischer Epochen in der Überlagerung des Alten und des Neuen. Der Rhythmus des Films organisiert auf der Materialebene selbst eine Reihe sinnlicher Konfliktzonen. Die Effekte poetischer Montage, das Verlassen des Alltäglichen oder umgekehrt, dessen plötzliche Wiederkehr haben politische Wirksamkeit, wenn der filmische Rhythmus das Potential erlangt, in und durch Geschichte neue Zeiträume der Aktion zu eröffnen.

Die Reihe nimmt auch das „große Kino“ des kleinen Genres auf: die selten projizierten und in geringer Zahl überlieferten Trailer und Animationsfilme der sowjetischen Stummfilmzeit. Die Reihe wurde kuratiert und organisiert von Elena Vogman und Georg Witte in Zusammenarbeit mit Stanislav Menzelevskyi.

Programm

NAWESNI (Im Frühling, Michail Kaufman, UdSSR 1929, 1.7.) Ein lyrisches Filmereignis, in dem Michail Kaufman, Bruder und Ko-Autor von Dsiga Wertow, eine eigene Version der „visuell komponierten Kinosymphonie“ seines Bruders, TSCHELOWJEK S KINOAPPARATOM, realisiert. Nicht die Figur des Kameramanns, sondern eine Fülle singulärer und zugleich zyklischer Momente der im Tauwetter zu neuem Leben erwachenden Stadt und ihrer Umgebung rückt hier in den Blick: ein heute unbekanntes Kiew, in dem sozialistischer Fortschritt und nachlebende Vergangenheit zum rhythmischen Porträt verdichtet werden.

ODINNADZATYJ (Das elfte Jahr, Dsiga Wertow, UdSSR 1928, 2.7.) Wertows erste in der Ukraine gefilmte Hymne der sowjetischen Industrialisierung zeigt in rhythmischen Schichtungen der Einstellungen die Wasserkraftwerke an Dnjepr und Wolchow. In einem kühnen Experiment werden die Bewegungsroutinen einzelner Arbeiter mit einem umfassenden Kreislauf der sowjetischen Energieproduktion verschränkt.

SWENYGORA (Alexander Dowshenko, UdSSR 1927, 3.7.) In Swenigoralebt ein alter Mann, „so alt wie die Steppe selbst“. Er bewacht einen tief in den Bergen versteckten Schatz. In zwölf Episoden, die wie durch eine Logik des Traums miteinander verwoben sind, wird die ukrainische Geschichte von den Warägern des 8. Jahrhunderts bis zum Bürgerkrieg erzählt. „Swenigora bin ich“, schrieb Dowshenko, „so gegensätzlich, so visionär, oft unkontrollierbar, durchdrungen vom akuten Sinn für den Konflikt und den Rhythmus aller Zeiten.“ 

DWA DNI (Zwei Tage, Georgi Stabowy, UdSSR 1927, 4.7.) Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee flieht eine großbürgerliche Familie aus ihrer Villa. Ihr Vermögen bleibt unter Aufsicht des Hausdieners zurück. Als die Bolschewiki das Haus stürmen, erkennt der Hausdiener unter ihnen den eigenen Sohn wieder. Das vom deutschen Expressionismus inspirierte Drama steigert sich über den Vater-Sohn-Konflikt hinaus zur politischen Kollision zweier Welten.

ENTUSIASM. SIMFONIJA DONBASSA (Enthusiasmus. Donbass-Symphonie, Dsiga Wertow, UdSSR 1930, 5.7.) Der erste ukrainische Tonfilm besingt die Industrialisierung der Donbass-Region. Er konfrontiert zwei Formen der kollektiven Erregung: religiösen Fanatismus und revolutionären Enthusiasmus. Der Rhythmus zeigt sich in seiner doppelten Wirkmacht: als mobilisierende und als disziplinierende Kraft, als Befeuerer des revolutionären Enthusiasmus und als Regulator neuer Bewegungsökonomien. Wertow experimentiert mit dem assoziativen Potential von Bild und Ton sowie mit ihrer wechselseitigen Austauschbarkeit.

PEREKOP (Iwan Kawaleridse, UdSSR 1930, 7.7.) Perekop ist eine Stadt auf der Landbrücke zur Halbinsel Krim, in der 1920 die Bolschewiki den Sieg über die Weiße Armee errangen. Der avantgardistische Bildhauer Kawaleridse setzt dieses Ereignis im zehnten Jubiläumsjahr als einzigartiges kubistisches Filmporträt in Szene: Der Klassenkampf bezieht immer weitere Bereiche ein – das Land, die Industrie – und schreitet wie eine filmischer Gesang fort. Drastisch-klare Schnitte und skulpturale Großaufnahmen sind seine visuellen Signaturen.

CHLEB (Brot, Mykola Schpykowskij, UdSSR 1929, 7.7.) Ein Soldat der Roten Armee kehrt aus dem Bürgerkrieg in sein Dorf zurück und findet soziale Missstände und Armut vor. Nach dem Vorbild der Kollektivierung führt er Reformen durch, stößt jedoch bald auf Widerstand und überlieferten Aberglauben: Auf gestohlenem Land gehe die Ernte nicht auf. Das lange Zeit verbotene Agitprop-Epos mit lakonischer Erzählweise, konzentriertem Kamerablick und symbolischer Intensität der Alltagsszenen wurde erst in den 1970er Jahren wiederentdeckt.

SCHTURMOWI NOTSCHI (Sturmnächte, Iwan Kawaleridse, UdSSR 1931, 8.7.) In diesem sozialistischen Aufbau-Epos über die Wasserkraftwerke am Dnjepr wollte Kawaleridse die „Poetik der Arbeit“ selbst einfangen. Im Unterschied zu 
den anderen Dokumentationen der Staumauer durchzieht den Film eine kontemplative Feierlichkeit: Ein Arbeiter streift mit einem Akkordeon durch das große Bauterritorium. Wiederholt kommt der Zwischentitel: „Was sehe ich?“ Die Wassermassen des Dnjepr geben in dieser lyrischen Montage die Antwort. Sie begleiten, neben intensiven Detailaufnahmen, wie ein Bilderchor den stürmischen Arbeitsalltag.

TSCHELOWJEK S KINOAPPARATOM (Der Mann mit der Kamera, Dsiga Wertow, UdSSR 1929, 9.7.) Ein Film über die demiurgische Kraft des Films. Wertow verstand ihn als „theoretisches Manifest“, Pilotprojekt einer „absoluten Kinografie“, die sogar auf Zwischentitel verzichtet. Die Montage-Rhythmik und die Dynamik ihrer Intervalle bewirken eine neue Organisation von Bewegungen: von Körpern, Dingen, Maschinen und Transportmitteln im Tagesverlauf einer Stadt. Die poetische Montage der Aufnahmen aus verschiedenen Städten (Kiew, Moskau, Odessa) schafft „Nähte“ und Kreuzungen zwischen Hand und Gesicht, Auge und Kamera, Körper und Haus, Geburt und Tod. Film stellt sich hier aus als Medium rhythmisch organisierter Isomorphien zwischen Mensch und Technik.

ARSENAL (Arsenal, Alexander Dowshenko, UdSSR 1929, 10.7.) Ein herausragendes Beispiel für die Verdichtung historischer Prozesse mittels poetischer Montage. Dowshenko betonte, angesichts des „Riesenhaften“ der Ereignisse sei es die Aufgabe des Films, „das Material unter dem Druck vieler Atmosphären zusammenzupressen“. ARSENAL erzählt eine zentrale Episode der Revolution: den Arbeiteraufstand in der Kiewer Munitionsfabrik im Januar 1918. Ein Gefüge visueller Echos lässt die vorrevolutionäre Epoche und die Zeit des Ersten Weltkriegs nachhallen. (ev, gw) 

In Kooperation mit Willi Reinecke (Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule der Freien Universität/FSGS). Dank an die FSGS und an das Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin für die großzügige Unterstützung sowie an Barbara Wurm für ihre sachkundige Beratung.

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