Direkt zum Seiteninhalt springen
Doch auch bewaffnete Konflikte schlagen sich auf das Programm nieder. In MANAZIL BELA ABWAB (Houses without Doors) filmt der syrische Filmemacher Avo Kaprealian über mehrere Jahre hinweg den Bürgerkrieg auf den Straßen Aleppos aus dem Fenster seines Wohnblocks. Dabei verknüpft er das Porträt seiner vorwiegend armenischen Nachbarschaft mit Spiel- und Dokumentarfilmbildern vom Völkermord an den Armeniern. Bürgerkriege, erzwungene Migration und die Auswirkungen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse werden auch in anderen Regionen zum Thema, wobei sich die Filmemacher_innen unterschiedlichster filmischer Formen bedienen. Den Alltag eines eher unbekannten Konflikts zeigt die Dokumentation TA'ANG des Chinesen Wang Bing. Während Teile der De'ang-Minderheit mit der burmesischen Armee an der chinesisch-burmesischen Grenze um Unabhängigkeit kämpfen, müssen Frauen und Kinder in provisorischen Zelten in den Tälern des Grenzgebietes unterkommen. Nicht weit entfernt, folgt Regisseur Midi Z in FUI CUI ZHI CHENG (City of Jade) vor dem Hintergrund andauernder Kampfhandlungen der burmesischen Armee mit der Kachin Independence Army seinem Bruder in die titelgebende Jadestadt. Weil die Bergbauunternehmen vor den Kämpfen geflohen sind, suchen in den Minen nun junge Männer auf eigene Faust ihr Glück. Opium lässt sie die riskante Arbeit leichter ertragen. Was bringt Menschen dazu, die so gefährliche Minenarbeit aufzunehmen? Diese Frage stellt auch ELDORADO XXI der Portugiesin Salomé Lamas. Im peruanischen La Rinconada erstreckt sich auf 5100 Metern Höhe am Rand einer Goldmine eine dystopische Welt, die nicht dem 21. Jahrhundert angehören zu scheint. In einer formal radikalen Montage von Bildern und Tondokumenten macht der Film das Ausmaß der Minenlandschaft und der körperlichen Anstrengung offenbar. Ein formales Experiment geht ebenso Philip Scheffners HAVARIE ein, der sich mit der Erfahrung und Erfahrbarmachung von Flucht beschäftigt. Ein dreiminütiger Videoclip eines winzigen Schlauchbootes im Mittelmeer, aufgenommen von einem irischen Touristen auf einem Kreuzfahrtschiff, wird hier auf Spielfilmlänge ausgedehnt. Während im Off die Bootsinsassen, die Küstenwache und der Hobbyfilmer mit ihren eigenen Erfahrungen zu Wort kommen, hinterfragt die Dokumentation gängige visuelle Darstellungen von Krisensituationen. Um Repräsentation von Menschen, denen diese oft verwehrt wird, geht es in einem zweiten Beitrag von Scheffner. Der deutsche Regisseur reicht die Kamera an den Roma Colorado Velcu weiter, damit dieser das neue Leben seiner Familie in Berlin dokumentiert: AND-EK GHES… ist das Porträt eines Neuanfangs, in dem Velcu mit viel Witz selbst dessen Darstellung bestimmt. Um Bilder und Eigenbilder kreist auch Nicolás Peredas und Andrea Bussmanns TALES OF TWO WHO DREAMT, der in einem Hochhaus in Toronto spielt. Eine Familie, ebenso Roma, übt die Geschichten ihrer Vergangenheit für eine Anhörung über ihren Aufenthaltsstatus ein. Dabei lösen sich die Grenzen von Fiktion und Realität, von Gespieltem und Dokumentiertem immer weiter auf, je mehr die Geschehnisse im Hochhaus zu Legenden werden. Guillaume Nicloux schickt in seinem neuen Film Gérard Depardieu als einsamen Jäger in den Wald. In DANS LES BOIS (The Wandering) verliert dieser erst seinen Hund und anschließend seinen Weg. Ein ruhiger Sommerspaziergang wandelt sich so allmählich zu einer fantastischen Wanderung, aus deren Zirkeln er nicht mehr herauskommt. Um eine Suche geht es auch in Eugène Greens wortgewandtem LE FILS DE JOSEPH(The Son of Joseph), einer weiteren französischen Produktion. Vincent, der mit seiner alleinerziehenden Mutter aufwächst, will herausfinden, wer sein Vater ist. Seine Recherchen führen ihn zur Gottesfigur der Pariser Literaturwelt, einem machiavellistischen Fiesling, gespielt von Mathieu Amalric. Nikolaus Geyrhalter wendet sich in seinem jüngsten Film von einzelnen Menschen ab, um der Menschheit als Ganzes nachzuspüren. In einer leeren, von der Natur zurückeroberten, aber doch einst von Menschen gemachten Welt ergibt sich ein unbehagliches Szenario: HOMO SAPIENS ist sowohl Science-Fiction als auch Dokument, zugleich Postapokalypse und Gegenwart. Eine Retrospektive des 8-mm-Films in Japan von 1977 bis 1990 rundet das diesjährige Programm ab. Viele heute bekannte japanische Regisseure haben sich in diesem Medium ausprobiert, nicht nur mit Kurz-, sondern im Unterschied zum Rest der Welt oft auch mit Lang-filmen. So zeigt das Forum unter dem Titel "Hachimiri Madness" die Frühwerke von Shinya Tsukamoto, Sion Sono, Masashi Yamamoto, Nobuhiro Suwa, Shinobu Yaguchi und anderen in digitalisierter Fassung – die meisten dieser Filme, die den rebellischen Punk-Geist der Zeit atmen, sind außerhalb Nippons völlig unbekannt.

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)