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50 Jahre Berlinale Forum und davon 15 Jahre Forum Expanded. Das neue Jahrzehnt beginnt in einer Zeit, die viel Sprachlosigkeit auslöst und umso klarere Worte braucht. Was bedeutet das für ein Programm wie Forum Expanded? Wie verändert eine solche Zeit den kuratorischen Blick? Was erwarten wir von den ausgewählten Arbeiten?

Ein Filmprogramm ist mehr als eine Summe von Einzelwerken. Es stellt Zusammenhänge her, verweist auf ein Außen. Kurzfilmprogramme und Filmausstellungen machen das durch ihr unmittelbares Nach- bzw. Nebeneinander noch erfahrbarer. Das ist nicht neu, erscheint aber wichtiger denn je. In einem Facebookpost schreibt Nanna Heidenreich zur Einzelbetrachtung von Opfergruppen rechter Gewalt: „Es geht, das ist wichtig, hier nicht um ‚Alle‘, aber es hat Struktur. Die müssen wir in den Blick nehmen.“

Die 40 ausgewählten Arbeiten widmen sich den Themen Migration, Rassismus, Sexismus, Staats-gewalt, Kapitalismus, Kolonialismus, Extraktivismus, Klimakrise, Zukunftsangst, Geschichtsverlust und mehr. Vor allem aber verweisen sie auf sich selbst als Teil eines Zusammenhangs, in dem sie entstanden sind.

„Die Worte haben einen Sinn“, ein Satz, der so klingt, als wisse er selbst nicht genau, ob er etwas behauptet oder herbeisehnt, ist der deutsche Titel eines Films von Chris Marker von 1970, der sowohl im Jubiläumsprogramm als auch in der Ausstellung zu sehen ist. Ein junger Mann schaltet sich in das Gespräch zwischen Marker und dem Buchhändler und Aktivisten François Maspero ein, der davon spricht, als Publizist vor allem zu informieren: „Für mich sind wir dennoch Aktivisten in dem Sinne, dass sich unsere Praxis immer auf einen globalen Kontext bezieht.“

Infinity minus Infinity, eine Installation der Otolith Group, komponiert aus Tanz, Musik, Vortrag und Animation einen transhistorischen Raum, in dem die niemals gutzumachende Schuld des racial capitalism nicht losgelöst von den Verbrechen der Klimapolitik gesehen werden kann. Wie Dinge miteinander verwoben sind, ist explizit Thema in Filipa Césars kollektiv entstandener Installation QUANTUM CREOLE. Die Geschichte des Webens wird in unterschiedlichen visuellen Formaten als kreolischer Code und damit als eine Geschichte der Subversion erzählt. Ähnliches geschieht mittels der Bewegungen und Spiele einer Gruppe von Schülerinnen in Maiduguri, Nigeria, in Rahima Gambos Kurzfilm TAT-SUNIYA II. „Tatsuniya“ bedeutet in der Sprache Hausa Fabel oder Rätsel. In JOGOS DIRIGIDOS von Jonathas de Andrade sind es ebenfalls Spiele in einer Gruppe, aber auch deren Gebärdensprache im Nordosten Brasiliens die Gegenerzählungen ermöglichen. Koki Tanaka hingegen konstruiert in seiner Arbeit soziale Gruppen, um sie zu beobachten. In seinem ersten Langfilm ABSTRACTED / FAMILY sind es vier sich fremde Personen mit sehr komplexen Biografien, die er unter einem japanischen Dach vereint.
„I rethink the clicks and flashes that have cast us in history. And I flirt with liberation from the colonial gaze“: MATATA von Petna Ndaliko Katondolo (Kongo) beginnt mit einer Fotosession, die zu einer verschlungenen Serie von Tagträumen, mit historischen Fragmenten verschwimmenden Projektionen und wieder wachrüttelnden Bildern der Außenwelt wird.
Wie man welche Bilder zeigen kann und in welchem Verhältnis sie zu ihrer Geschichte stehen ist Thema in PURPLE SEA von Amel Alzakout und Khaled Abdulwahed: „‚Ich sehe alles,‘ sagt sie. (…) Sie spricht, wütet und filmt gegen die Müdigkeit an, gegen die Kälte, gegen die ausbleibende Hilfe. Gegen das Sterben, damit irgendwas bleibt.“ (Merle Kröger) Ein Teil des Materials, das untrennbar mit der Filmemacherin verbunden ist, die die Kamera am Körper trug, findet Eingang in eine Arbeit von Forensic Architecture: SHIPWRECK AT THE THRESHOLD OF EUROPE, LESVOS, AEGEAN SEA: 28 OCTOBER 2015 rekonstruiert das Bootsunglück nahe der europäischen Küste, bei dem viele Migrant*innen ihr Leben verloren.
Letter from a Guarani Woman in Search of the Land Without Evil, eine Ausstellung bei SAVVY Contemporary, durchforscht das Archiv der audiovisuellen Reise von Patricia Ferreira (Pará Yxapy), der wohl aktivsten Vertreterin des brasilianischen indigenen Kinos.
EXTRACTIONS von Thirza Cuthand befasst sich mit extraktivierenden Industrien und ihrer Resonanz in der indigenen Bevölkerung Kanadas. Der Film ist Teil einer Trilogie, die in der Kanadischen Botschaft zu sehen ist und Raum schafft, um das Thema mit queeren Perspektiven in Verbindung zu bringen. (stss)

Teilnehmende Künstler*innen und Filmemacher*innen: Amel Alzakout/Khaled Abdulwahed, Ayreen Anastas/Rene Gabri, Graeme Arnfield, Caitlin Berrigan, Filipa César, Didi Cheeka, Thirza Cuthand, Jonathas de Andrade, Lucile Desamory/Glodie Mubikay/Gustave Fundi, Anja Dornieden/Juan David González Monroy, Ahmed Elghoneimy, Kevin Jerome Everson, Patricia Ferreira (Pará Yxapy), Forensic Architecture, Rahima Gambo, Margaret Honda, Laura Huertas Millan, Emily Jacir, Ken Jacobs, Ernst Karel/Veronika Kusumaryati, Petna Katondolo, Ayoung Kim, Jonna Kina, Vika Kirchenbauer, Chris Marker, Aline Motta, Maged Nader, Joe Namy, The Otolith Group, Grace Passô/Ricardo Alves Jr., Jenny Perlin, Riwaq, Koki Tanaka, Kika Thorne, Ana Vaz, Anton Vidokle, Anton Vidokle/Adam Khalil/Bayley Sweitzer, Akram Zaatari.

Kuratiert von Stefanie Schulte Strathaus (Leitung), Anselm Franke (Co-founder), Maha Maamoun, Ulrich Ziemons. SAVVY Contemporary: Anna Azevedo.

Eröffnungstermine: Betonhalle im silent green Kulturquartier: 19.2., 19 Uhr, Canadian Embassy: 20.2., 16.30 Uhr, SAVVY Contemporary: 19.2., 19 Uhr.

Gefördert durch:

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