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Vor der U-Bahn-Station Arsenalna in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv erinnert ein steinernes Monument aus dem Jahr 1967 an die sogenannte Arsenalwerk-Revolte im Januar 1918. Die Inschrift lautet: „Proletarier aller Welt, vereinigt euch. Am 50. Jahrestag der Oktoberrevolution bekunden die Stadtbehörden von Kyiv die herausragenden Verdienste des Kyiver Arsenals für die proletarische Revolution, der erste Betrieb, der sich im Oktober 1917 in Kyiv mit Waffen auf die Seite der Sowjetmacht stellte.“ Der Gedenkstein enthält eine kleine Verschleifung, denn die relevanten Ereignisse geschahen Ende Januar 1918, also zu einem Zeitpunkt, da es um die territoriale Durchsetzung der Oktoberrevolution auf dem Gebiet des früheren zaristischen russischen Imperiums ging. Arbeiter in dem traditionsreichen Metall- und Rüstungsbetrieb Arsenal (Sawod Arsenal) nahmen mit einem Streik Partei für die bolschewistische Machtübernahme in Russland, und wurden durch Einheiten der Ukrainischen Volksarmee unter Führung des ukrainisch-nationalen Politikers und Militärführers Symon Petljura niedergeschlagen. In einer geläufigen Lesart gilt die Niederlage der Arbeiter des Arsenalwerks als Schlüssel für den Sieg der bolschewistischen Truppen in der Ukraine – und damit für das Ende des kurzlebigen Versuchs, aus dem Untergang des Russischen Kaiserreichs heraus einen unabhängigen ukrainischen Staat zu konstituieren. De facto ging das Ringen um Macht und Einflussbereiche auf dem Gebiet der heutigen Ukraine auch danach allerdings noch bis 1920 weiter.

Ein Film, der zwei Bewegungen gleichzeitig Rechnung tragen soll

1928 drehte Oleksandr Dowschenko im ukrainischen Studio VUFKU (Allukrainische Foto-Kino-Administration) einen Film, mit dem er die Ereignisse rund um das Arsenalwerk von 1917/18 in Erinnerung rief. Arsenal entstand unter den Bedingungen des frühen Stalinismus. Der Filmhistoriker Vance Kepley schreibt von einem „generously budgeted and highly prestigious official project“, mit dem das sowjetische Filmstudio in Kyiv ein „equivalent to Eisenstein and Pudovkin“ anstrebte. Insgesamt vier Prestigeproduktionen sollten filmisch den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution feiern: neben Arsenal noch Oktober von Sergei Eisenstein, Das Ende von Sankt Petersburg von Wsewolod Pudowkin und Moskau im Oktober vom Boris Barnet. Dowschenko war in der Deutung der Ereignisse prinzipiell an die ideologischen Voraussetzungen der damaligen Sowjetunion gebunden, allerdings war er nicht nur Kommunist, sondern auch ein ukrainischer Intellektueller, der an den Nationsbildungsprozessen des frühen 20. Jahrhunderts starken Anteil genommen hatte. In der Konsequenz ist Arsenal ein Film, der zwei Bewegungen gleichzeitig Rechnung zu tragen versuchte: dem proletarischen Universalismus der Revolution und dem patriotischen Partikularismus einer jungen (aus heutiger Sicht und in deren Begrifflichkeit: postkolonialen) Nation. Dieser Widerspruch ließ sich nicht auflösen. „Of all the pictures of the revolution projected on the Soviet screen, Dovzhenko’s Arsenal (1929) alone pictures a tragedy“, schrieb Gilberto Perez, und deutet dabei eine klassische Tragödiendefinition an, nämlich eine Kollision zwischen einseitigen Positionen, „von denen jede etwas Gutes enthält“ (Hegel).

In dem zweiten von insgesamt sieben Kapiteln des „epischen Gedichts“ (so lautet die Gattungsbezeichnung für Arsenal in einem eröffnenden Titel) verlangt ein Mann aus der Ukraine von einem Mann aus Russland an einem „wolhynischen Posten“ (also im Nordwesten der heutigen Ukraine) einen Mantel und Stiefel. „Her mit unserem ukrainischen Mantel, Feind!“ „Her mit unseren ukrainischen Stiefeln.“ Zur Bekräftigung seiner Forderung fügt er noch hinzu: „Seit 300 Jahren hast du mich gequält, verdammter Russe.“ Beide sind Soldaten, die von der Front heimkehren. Ursprünglich Soldaten der Armee des russischen Zaren, muss man dazudenken, viele davon nun Deserteure. Doch das Land, in das sie heimkehren, gibt es nicht mehr. Es ist gerade in einem Prozess, sich neu zu konstituieren: in Russland durch die Revolution der Bolschewiken, mit der die bürgerliche Revolution aus dem Februar 1917 radikalisiert wurde, in der Ukraine durch eine Volksrepublik, die verschiedene Formen von Vertretung durchlief – zuerst ein Parlament (Rada), später ein von Deutschland protegiertes Hetmanat (der Name referiert auf eine Vorgeschichte nationaler Unabhängigkeit im Kosakentum des 15. bis 17. Jahrhunderts), und daraufhin ein Direktorium, also eine Exekutivregierung. Arsenal greift vor allem den historischen Moment auf, in dem die Rückzugsbewegung der russischen Armee aus dem Weltkrieg, beschleunigt durch zahlreiche Desertionen, sich auf die Kräfteverhältnisse nach der Oktoberrevolution auswirkte. Viele Soldaten wollten so schnell wie möglich in ihr Dorf oder in ihren Betrieb zurück. „Die Bolschewiki zeigten sich als einzige größere Partei bereit, diesen Wunsch unverzüglich zu erfüllen, und viele Soldaten identifizierten sich allein aus diesem Grund mit ihnen", schreibt Orlando Figes. Bei Dowschenko ist dieses Verhältnis zwischen Krieg und Heimat entscheidend für den Verlauf von Arsenal. Er beginnt mit einem entvölkerten Dorf, in dem es nur noch resignierte Frauen, hungrige Kinder und Invaliden gibt. In diese Bewegung zurück aus dem Krieg zu den eigentlich wichtigen Aufgaben mischt sich aber nun die Unklarheit darüber, welche Ziele zu verfolgen wären: ein unabhängiger ukrainischer Nationalstaat mit einer tendenziell konservativen Regierung nach dem Idealbild der Kosaken, oder ein kommunistischer Staat, der sich als Avantgarde einer künftigen Weltordnung verstand?

Der nationale Proletarier ist die Figur, die den Widerspruch zwischen ukrainischer Selbstbestimmung und dem marxistischen Universalismus der Revolution überwinden helfen soll.

Dowschenkos Ambivalenz wird in der Szene mit den Stiefeln dadurch deutlich, dass er den russischen und den ukrainischen Soldaten starke Ähnlichkeit verleiht. Damit ist ein Leitmotiv des Films etabliert, denn wenig später müssen sich die Abzurüstenden einer Unterteilung (rasdelenye) unterziehen. Sie müssen angeben, ob sie Ukrainer oder Russen sind. Hier kommt der erste Moment für den zentralen Protagonisten, diese Alternative zu durchbrechen: Tymosh Stoyan versteht sich als „ukrainischer Arbeiter“. Diese Selbstbezeichnung stellt einen Versuch von Dowschenko dar, der inneren Spannung der Revolution als „multiethnisches Phänomen“ gerecht zu werden. Der nationale Proletarier ist die Figur, die den Widerspruch zwischen ukrainischer Selbstbestimmung und dem marxistischen Universalismus der Revolution überwinden helfen soll. Allerdings wird Tymosh für diese Aufgabe durchaus ambivalent gezeichnet. Einerseits „kündigte sich bereits die schablonenhafte Ästhetik des positiven Helden an“, also der Sozialistische Realismus. Es gibt aber auch gegenläufige Facetten. Timosh hat nämlich eine Vorgeschichte in dem ersten Film von Dowschenko, in Zvenigora (1928), der zusammen mit Arsenal und dem anschließenden Zemlja (Erde, 1930) zumeist als Revolutions-Trilogie rezipiert wird. „Ich zeige unserem Land seine Geschichte“, so fasste Dowschenko das Vorhaben seiner Trilogie zusammen. Sie umfasst mit der erzählten Zeit einen Zeitraum von der Invasion der Waräger (und damit der Kiewer Rus) im 11. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre, als in Erde mit der Figur des Kulaks (das Wort war polemisch gegen alle unabhängigen Bauern gerichtet) schon erste Vorzeichen der genozidalen Kollektivierung der Landwirtschaft zu erkennen waren. In Zvenigora sind die Optionen noch auf zwei Brüder verteilt, einen dekadenten und einen vorbildlichen. In Arsenal ist Tymish die einzeln herausgehobene positive Figur. Mit dem Schlussbild des unverwundbaren Proletariers, der mit aufgerissenem Hemd den Schüssen der Feinde trotzt, rief Dowschenko eine ukrainische Legende auf (von dem Bauernführer Olek Dovbush), er schloss also das Pathos der proletarischen Revolution mit der nationalen Identität der Ukraine zusammen. Darüber hinaus öffnete er durch visuelle Bezüge einen deutlich größeren Resonanzraum. Die Filmhistorikerin Julia Sutton-Mattocks hat herausgearbeitet, dass Dowschenko in Arsenal vor allem zwei deutsche Künstler zitiert: Käthe Kollwitz mit ihrem Zyklus über den Weberaufstand in Schlesien 1844, und Willy Jaeckel mit seinen Gravuren Memento über den Ersten Weltkrieg. Dowschenko war während des Kriegs in Deutschland und hatte hier persönliche Bekanntschaften geschlossen. Die Anspielungen auf Kollwitz und Jaeckel dienten ihm nicht nur dazu, das Kino „in a continuum of art historical tradition“ zu zeigen (er hielt zeitlebens daran fest, dass er als Filmemacher im Grunde Maler bleiben wollte). Sie riefen auch historische Konstellationen auf, die als Schlüssel für die Situation in der Ukraine 1917–1920 dienen mochten. Von Jaeckel führt eine motivische Spur zurück zu Goya, der mit einem seiner berühmtesten Bilder den Aufstand in Madrid 1808 gegen das revolutionäre Frankreich verewigte – das Gemälde Die Erschießung der Aufständischen (Der 3. Mai in Madrid) kann als eine Präfiguration des unverwundbaren Tymish gesehen werden, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, denn in Spanien wären die Bolschewiken die Franzosen gewesen. Die Unverwundbarkeit des proletarischen Ukrainers wird damit aber gleichzeitig auch kritisch akzentuiert, denn bei Goya steht ja gerade nicht die Heldenpose im Mittelpunkt, sondern die Schrecken des Krieges. Damit öffnet sich gerade vom scheinbar orthodoxen Ende her die Frage erneut, worum es in Arsenal eigentlich oder insgesamt geht.

Ein allgemeines Panorama menschlichen Leidens im Krieg

Der Film wurde anfangs häufig wegen seiner unklaren Erzählung und seiner episodischen Struktur kritisiert. Dowschenko wollte ursprünglich mit dem Streik im Arsenal beginnen und mit dem Einmarsch der Roten Armee in Kyiv enden – das wäre die Darstellung gewesen, die sich die Partei gewünscht hätte. Er kam aber schließlich zu einer ganz anderen Struktur, die zwar einen Handlungsfaden enthält, aber auch starke Hinweise darauf, dass er sich zu einer Position im ideologischen Sinn nicht entschließen wollte, sondern eher ein allgemeineres Panorama menschlichen Leidens im Krieg schaffen wollte. Der Bogen reicht dann von der resigniert in ihrem leeren Haus stehenden Frau zu Beginn (einem Kollwitz-Zitat) über das geschundene Pferd, das sich sprechend an seinen Peiniger wendet („Du schlägst den Falschen“), die Überbringung des Leichnams eines Revolutionärs zu seinem Grab auf dem Dorf, vor dem die Mutter auf ihn wartet, und ein Kind, das von den Nationalisten während der Streik-Niederschlagung erschossen wird, bis zu Tymish, dessen starke Brust nun eher wie eine pflichtschuldige Konzession an das Programm des sowjetischen Revolutionsfilms wirkt – und zugleich dessen Subversion, durch die „nationalistische“ oder provinzielle Anspielung auf die Volkserzählung von Dovbush. Gelegentlich wird Arsenal sogar als pazifistisch gelesen, eine Position, die sich gegenüber dem Gaskrieg (auf den eine der berühmtesten Szenen des Films eingeht) leicht verstehen lässt. Dowschenko geht aber weiter: Auch die revolutionären Gewalthandlungen geraten in den Sog seiner humanistischen Kritik.

Das Wahre und das Falsche, Gewalt im Namen des Fortschritts und der Reaktion werden tendenziell ununterscheidbar: „(Arsenal) is a lyrical look at the horrors and chaos of war and revolution, centering on the enigmatic figure of Timosh, a «Ukrainian worker», who functions more as a symbol than as the traditional hero of the developing ethos of Socialist Realism. … The action is intentionally difficult to follow, because Dovzhenko wanted to show the rapid flux of events and confused expectations characterizing the Ukrainian situation, in which nationalism and revolutionary ardor were inseparable.“

Gerade in seiner Form erweist sich Arsenal schließlich als genuin ukrainischer Film. Dowschenko bezog sich auf die poetische Gattung der Duma, eine Art Klagelieder, die aus mündlichen Traditionen im 17. Jahrhundert hervorgingen, von Nationaldichtern des 19. Jahrhunderts wie Taras Schewtschenko

programmatisch wiederbelebt wurden und im frühen 20. Jahrhundert von patriotischen Ethnographen wie Porphyr Demutsky (dem Vater von Danylo Demutsky, dem Kameramann von Arsenal) aufgezeichnet und archiviert wurden. Diese ukrainische Gattung versuchte Dowschenko in eine filmische Form zu überführen. Ray Uzwyshyn, einer der besten westlichen Dowschenko-Experten, schreibt in diesem Zusammenhang von der „question of genre as strategy“. Indem der an die Parteidisziplin gebundene und an deren Kriterien gemessene sowjetische Filmemacher zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution eine große Klage anstimmte, unterlief er das universalistische Programm der Sowjetmacht. Denn die ukrainischen Menschen, die unter einem imperialen Krieg leiden, wurden im besten Sinn eines offenen Kunstwerks lesbar auf die Opfererfahrungen nach 1930, die von der imperial auftretenden Sowjetmacht selbst verursacht wurden.

Das Programm einer ästhetischen Moderne

Dowschenko, der zeitlebens ein extrem schwieriges Verhältnis zur Kommunistischen Partei hatte, sah sich in der Rolle eines Propheten. In den kleinteiligen Fraktionierungen der Jahre nach 1917 hielt er es mit den Borotbisten, einer regionalen Gruppe, die einen agrarischen Kommunismus vertrat. Sein ukrainischer Patriotismus verstärkte sich selbst in den 30er Jahren, in denen er immer wieder strategische Konzessionen an die Parteilinie machte. Die innere Distanz war aber in seinen Tagebüchern unüberbrückbar. So zog er schließlich schon im Jahr 1943 den späteren Mythos des Großen Vaterländischen Krieges aus der Perspektive eines ukrainischen Patrioten in Zweifel: „(It is) bad that we (die Sowjetunion) liberate its (Ukraine) people with ill treatment. We, the liberators, to the last man, have all forgotten that we are somewhat guilty before those we are liberating and that we already consider them second category people, unclean, guilty in our eyes, deserters – capitulators – opportunists. We are glorious warriors but we don’t have the normal human goodness to our own kith and kin.“ Dowschenko begriff noch während des Zweiten Weltkriegs, dass die Ukraine auch und gerade als Teil der Sowjetunion eine eigene Größe war, zerrissen zwischen zwei totalitären Regimes, vom Moskauer Zentralismus als ein „Volk zweiter Klasse“ gesehen und behandelt. „The director’s wartime diary reveals that he saw the Soviet state as the principal enemy of Ukraine and Ukrainians“, schreibt Trymbach.

Arsenal wird in dieser Perspektive zu dem Film, in dem Dowschenko vor dem Hintergrund einer bereits deutlich erkennbaren ideologischen Totalisierung einen bestimmten nationalen Horizont (seinen ukrainischen) mit einer anderen Form von Universalismus zu verbinden versucht: mit dem Programm einer ästhetischen Moderne, die mit einer Vielzahl von Strategien der Vielfalt menschlicher (Leidens- und Emanzipations-)Erfahrung gerecht zu werden versucht. Die Revolution, aus der die Bolschewiken ihr Recht auf Gewalt ableiteten, war für Dowschenko ein normatives Faktum, er sah sie aber auch als eine Fortsetzung des Kriegs, und als ein universales Gewaltgeschehen, das er nur in einem ambivalenten Schlussbild zu sistieren vermochte. Mit dieser Einsicht, die er in Arsenal künstlerisch virtuos verschlüsselte, war er tatsächlich ein Prophet im 20. Jahrhundert.

Dank an Anna Medvedovska und Barbara Wurm.

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