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Im Zentrum der Ausstellung stehen Ottingers großformatige Fotografien, die häufig parallel zu den Filmarbeiten entstanden sind, jedoch ganz eigene visuelle Akzente setzen. Die fulminanten Kostüme aus ihren Filmen, oft aus Alltagsmaterialien bestehend, aber jedes ein eigenes Phantasma, arrangierte Ottinger selbst im Museum zur theatralen Inszenierung. Die Retrospektive, die sich wie die Ausstellung bis zum 2. Dezember erstreckt, versucht, durch eine eigene Anordnung der Werke neue Blickweisen zu ermöglichen. Zahlreiche Gäste begleiten das Programm, um Ottingers Werk in ein historisierendes Verhältnis von Subjektivität und öffentlicher Wahrnehmung zu setzen. Ein Kinoprogramm ist immer eine Reise durch Länder und Zeiten. Doch in kaum einem Œuvre ist dieses Motiv so strukturgebend, dass es bekannte Genres (nicht nur Dokumentar- oder Spielfilm) in sich aufhebt, wie es in dem der Künstlerin Ulrike Ottinger der Fall ist. So schreibt Gertrud Koch (FU Berlin) zu Ottingers erstem Dokumentarfilm über China: "Die Reise ist also von ihrer Form her bereits ein Spiel aus Determination und Unbestimmtheit. Diese bestimmte Bewegung in einen unbestimmten Raum ist das Versprechen der Reise wie des Films auf das Unvorhersehbare, das Abenteuer und die Konfrontation mit den Phantasmen der eigenen Imagination." Dies gilt auch für MADAME X aus dem Jahre 1977, mit dem wir drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung die Retrospektive eröffnen: Die Herrscherin des Chinesischen Meeres appelliert an alle Frauen, ihren zwar bequemen und sicheren, aber fast unerträglich eintönigen Alltag einzutauschen gegen eine Welt voller Gefahren und Ungewissheit, aber auch voller Liebe und Abenteuer. MADAME X wurde zum Angelpunkt queerer Filmgeschichtsschreibung: "Dieser Film hat keine Spur von Ängstlichkeit. Im Gegenteil: denen, die gegen die Faszination dieser ritualisierten, vollkommen ästhetisierten Gewalt stramme Abwehr in Marsch setzen, macht er Angst. Denn auf dem Frauenschiff 'Orlando' sind die Flaggen: Angriff, Leder, Waffen, lesbische Liebe und der Tod mit einer Schönheit aufgezogen, die den Zuschauerblick nicht absolut beherrschen will. Die Ästhetik unterliegt strenger Stilisierung, die ohne Überwältigung sich frei herzeigt." (Karsten Witte) Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch (FU Berlin) hält zur Eröffnung der Retrospektive eine Einführung. (14. & 16. 10. & 29.11.) LAOKOON & SÖHNE (1972/73) ist eine Verwandlungsgeschichte: "Esmeralda del Rio ist eine außergewöhnliche Frau. Sie lebt in einem außergewöhnlichen Land, genannt Laura Molloy. Der Film ist ein Dokument jenes Tages, an dem sie sich an die 'blonde Magie' und eine Kette von Transformationen verlor." (Ulrike Ottinger) Der Film läuft zusammen mit SUPERBIA – DER STOLZ (1986), ein Triumphzug und ein Totentanz. "Superbia, die Hoffart oder Stolz, zieht zu ihrer Hochzeit mit der Welt, die Peitsche in der einen, den Spiegel in der anderen Hand." (Karsten Visarius) Ulrike Ottinger selbst wird in dieses Doppelprogramm einführen. (15. & 20.10.) Die Happening-Dokumentation BERLINFIEBER – WOLF VOSTELL (Berlin-Fieber – Happening für ADA 1, Auto-Fieber – Environment für ADA 1., 1973) zeigen wir als Vorfilm zu BILDNIS EINER TRINKERIN (1979), ein Porträt des Großstadt-Alkoholismus in Gestalt einer Kunstfigur und irgendwie auch ein Happening: "Eine Frau aus Porzellan, mit sehr hohen, nicht mehr wahrnehmbaren Herztönen, zerschlägt sich selbst. Der fremde Ort, an dem sie, die Fremde, dies, ungestört auf ihre Passion konzentriert, zu tun gedenkt, ist Berlin. Die Stadt schien ihr für ihren narzisstisch-pessimistischen Kult der Einsamkeit besonders geeignet. Genauer: geeignet, ihre Bestimmung zu leben; zu leben, um zu trinken; zu trinken, um zu sterben." (Karena Niehoff) Es ist uns eine besondere Freude, dass die Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen (Universität Chicago), die 1984 einen einschlägigen Artikel zu diesem Film in "New German Critique" veröffentlichte ("Visual Pleasure, Fetishism and the Problem of Feminine/Feminist Discourse: Ulrike Ottinger's TICKET OF NO RETURN") eine Einführung halten wird. (15. & 23.10.) Denkt man an Ottinger-Filme, dann denkt man an Stilisierung, Ästhetisierung und daran, dass die Spielfilme in Berlin und die Dokumentarfilme in fernen Ländern entstanden sind. Doch dass das Dokumentarische bei all seiner Erhöhung ins Formvollendete nicht an Realismus entbehrt, sondern diesen genauestens analysiert, beweist COUNTDOWN, mit dem sie 1990 unmittelbar auf die Ereignisse in Berlin nach dem Mauerfall reagierte. "Mit COUNTDOWN ist Ottinger einem chronologischen Ablauf gefolgt. Der Film wurde in Berlin und Umgebung gedreht, zehn Tage lang, bis zur Währungsunion am 1. Juli 1990, mit der 'die erste Etappe der deutschen Wiedervereinigung' eingeleitet wurde. Doch was wird hier ausgezählt? Zusammengebracht oder aufs Neue getrennt? Was wird nicht gezählt und an den Rand gedrängt? Der Willkür des Anfangs entspricht die Willkür des Endes. Doch dazwischen gibt es so viel zu erzählen." (aus dem Film, Text: Eva Meyer) Dazu zeigen wir USINIMAGE, entstanden 1987: "Aus den Berlin-Filmen ausgewählte Industrie- und Stadtlandschaften wurden für USINIMAGE nochmals dokumentarisch aufgenommen und mit den entsprechenden Spielfilmszenen unterschnitten, um dieselbe Landschaft durch künstlerische Verfremdung und Verdichtung neu akzentuieren. Eine Auseinandersetzung mit der Stadtarchitektur, in der der Drehort nicht nur als Folie dient, sondern selbst mit zum Inhalt wird." (Ulrike Ottinger) (17. & 27.10) Zum Abschluss des Monats zeigen wir jenen Film, auf den Gertrud Koch sich eingangs bezog: CHINA. DIE KÜNSTE – DER ALLTAG (1985) ist ein dokumentarischer Film, den Ottinger im Februar und März 1985 in Beijing (Peking) und den Provinzen Sichuan und Yunnan drehte. Der 279-minütige Film ist weitgehend auf genaue Beobachtung der Menschen gestützt und verzichtet auf jeden Kommentar. Lange Einstellungen, die der Dramaturgie realer Vorgänge folgen, und Originalton bekommen im Kontext dieses Films eine besondere Bedeutung. Nur vereinzelte Szenen haben Dialog. Doch Koch schreibt in ihrem Essay, der für das Buch "Ulrike Ottinger – Bildarchive" entstand, eigentlich nicht nur über das Reisen, sondern vor allem über die Groteske: Die hauchdünnen Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation, der spezifischen Wahrnehmungsform der Reise entsprechend, erlaubt, so Koch, "im Bewegungsbild Lebendiges als Ornament zu fassen und in die Fiktion zu überführen". "Schon in ihrem ersten Chinafilm (...)", so schreibt sie weiter, "zieht Ottinger den Witz aus Details, die aus dem Inneren der Bilder aufblitzen wie der Schlitz in der Hose eines kleinen Jungen, der wie zum Abschied übermütig sein Beinchen abwinkelt, so dass, während er in der Menge verschwindet, der Schlitz kurz aufklafft. Solche Momente bleiben allerdings nicht äußerlich, sondern binden sich in die Oberflächenstruktur einer Ästhetik ein, die das Groteske und den Zirkus zu einer Kunstform entwickelt hat." (28. & 31.10.) Damit wollen wir bereits auf das nächste Monatsprogramm verweisen, in dem das Universum der Künstlerin und Regisseurin Ulrike Ottinger noch weiter erschlossen wird. Als Gäste werden neben Ulrike Ottinger bis zum 2.12. erwartet: Anselm Franke, Michaela Wünsch, Heinz Emigholz, Jörg Wiesel und Catherine David. Zu dem einen oder anderen langen Film wird mongolische Hochzeitssuppe oder russische Sakuska serviert. – Dank an Marc Siegel und Kristina Jaspers. Unser besonderer Dank gilt Ulrike Ottinger.

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