Direkt zum Seiteninhalt springen
Die gemeinsam vom Arsenal und dem www.zmo.de - external-link-new-window>Zentrum Moderner Orient veranstalteten Marokkanischen Filmtage präsentieren ein Programm, das von den gesellschaftspolitischen Veränderungen der letzten zehn Jahre in Marokko zeugt. Der Reformprozess, durchaus von Rückschlägen und Widersprüchlichkeiten geprägt, zeichnet sich auch in den Arbeiten der Filmemacher/innen ab. Unsere Auswahl von neun marokkanischen Spiel- und Dokumentarfilmen aus den Jahren 2001 bis 2010 – die meisten sind erstmalig in Berlin zu sehen – versammelt ein breites Spektrum an Themen und eine Vielfalt künstlerischer Handschriften. Es sind Filme, die Aspekte der jüngeren Geschichte des Landes bearbeiten, sich mit Tabus beschäftigen und die Grenzen von Ausdrucksfreiheit und Zensur austesten. Es sind Filme, die eine Vielfalt ästhetischer Mittel nutzen. Und es sind Filme, die neue Perspektiven eröffnen auf ein arabisches Land im Umbruch.

Vielfalt und Vitalität des marokkanischen Kinos kommen nicht von ungefähr. Im Unterschied zu den anderen Ländern des Maghreb werden staatlicherseits große Anstrengungen unternommen, die Filmindustrie des Landes auszubauen. Ausdruck dessen sind z. B. die Neuausrichtung des Centre Cinématographique Marocain seit 2004 mit der Auflage eines Filmförderfonds, die Gründung des Filmfestivals (2001) und der Filmhochschule (2005) in Marrakesch. Die nationale Filmproduktion wächst stetig und ist heute nach Ägypten die zweitgrößte in der arabischen Welt. Eine Bereicherung für die Filmszene Marokkos ist nicht zuletzt die von Filmenthusiasten im Jahr 2006 eröffnete Cinémathèque in Tanger.

Wir freuen uns sehr, dass wir vier Filmschaffende aus Marokko im Arsenal begrüßen dürfen: Noufissa Sbaï, Yasmine Kassari, Talal Selhami und Swel Noury sind zu Gast.  Neben den Gesprächen im Anschluss an die Vorführungen ihrer Filme werden sie im Rahmen eines Besuchsprogramms eine Woche lang Gelegenheit haben, mit deutschen Verleihern, Regisseuren und Produktionsfirmen in Kontakt zu treten. Außerdem findet am 4.9. eine Podiumsdiskussion statt, die sich dem gesellschaftlichen und künstlerischen Wandel in Marokko widmet. AL OUYOUNE AL JAFFA / LES YEUX SECS (Cry No More, Narjiss Nejjar, Marokko / F 2003, 1.9., im Anschluss Gespräch mit der Produzentin Noufissa Sbaï) In einem abgelegenen Berberdorf in den Bergen Marokkos leben ausschließlich Frauen. Sie verkaufen ihre Körper und empfangen Männer nur gegen Geld. Hier regiert die stolze und schroffe Hala – was sie sagt, ist Gesetz. Die älteren Frauen mussten fortziehen, Babys und Kinder weggegeben werden. Nach 30 Jahren im Gefängnis kommt Mina in das Dorf der Prostituierten zurück, zusammen mit dem Busfahrer Fahd, den sie als ihren Sohn ausgibt. Die Anwesenheit der beiden bringt einiges in Bewegung. Doch lässt sich der destruktive Kreislauf der Abhängigkeit von sexueller Dienstbarkeit durchbrechen? Gibt es eine andere Zukunft für die mittellosen Frauen? Ausgehend von realen Gegebenheiten bringt LES YEUX SECS in farbenprächtigen, eindringlichen Bildern von Landschaften und Gesichtern ein Tabu-Thema zur Sprache. ZAMANE ARRIFAK / LE TEMPS DES CAMARADES (Time of Comrades, Mohamed Chrif Tribak, Marokko 2008, 1.9., Einführung: Sophie Wagenhofer, ZMO / SFB 640) Anfang der 90er Jahre in Tétouan. Rahil entschließt sich gegen den Willen ihrer Familie, nach dem Abitur ein Studium zu beginnen. Sie wohnt mit einer Freundin zusammen, besucht Seminare und den Ciné-Club und lässt die Avancen ihres Kommilitonen Saïd zunächst kühl ins Leere laufen. Die Stimmung auf dem Campus ist stark geprägt von Auseinandersetzungen zwischen marxistischen und islamistischen Studenten. Letztere gewinnen zunehmend an Einfluss. Beide Gruppierungen liefern sich ausgiebige Wortgefechte. Saïd, der sich eigentlich nicht viel aus Politik macht, verstärkt sein politisches Engagement, um sich Rahils Aufmerksamkeit und Zuneigung zu sichern. Inspiriert vom Tagebuch eines einstigen militanten Studenten, erzählt der Film von gesellschaftlichen Konflikten und politischen Ideen zu Beginn der 90er Jahre. ASHLAA / FRAGMENTS (In Pieces, Hakim Belabbes, Marokko 2009, 2.9., Einführung: Bettina Dennerlein, Universität Zürich) Warum denn Filme machen? Der Filmemacher wird von Vater und Mutter freundlich getadelt, dass er immer noch nichts zustande gebracht habe. Ein anderer Vater beklagt voller Schmerz das spurlose Verschwinden seines Sohns vor 30 Jahren. Ein ehemaliger politischer Gefangener berichtet von Folter und dem Wunsch nach Reintegration. Ein alter Mann wäscht sich im Freien. Eine Beschneidung. Eine letzte Rasur. Ein bewegender Abschied. Gespräche über Familie, das Leben und den Tod, Erfolg, Scheitern, Verlust und Trauer. FRAGMENTS ist ein autobiografischer Essayfilm, eine Sammlung von Bildern aus zwei Jahrzehnten, die die Beziehung des in den 80er Jahren ausgewanderten Filmemachers zu seiner Familie, seinem Land und dessen Kultur dokumentieren. Das Home-Movie eines In-and-Out-Siders und eine Reflexion über das Vergehen der Zeit. AYYAM AL WAHM / MIRAGES (Talal Selhami, Marokko 2010, 2.9., im Anschluss Gespräch mit Talal Selhami) Fünf Kandidaten für eine Stelle bei einem in Marokko ansässigen multinationalen Unternehmen wird mitgeteilt, dass sie statt eines Bewerbungsgesprächs einen Test zu absolvieren haben. Sie sollen mit einem Bus an einen unbekannten Ort gefahren werden. Kurz darauf finden sie sich mitten in der Wüste wieder, ohne Fahrer, ohne Handy und mit nur vier Flaschen Wasser im Gepäck. Was nun? Warten, oder versuchen, sich selbst zu helfen? Auf der strapaziösen Odyssee durch die Wüstenlandschaft werden alle unter der sengenden Sonne von ihrer Vergangenheit eingeholt. Bald geht es nicht mehr um den Job, sondern darum, das nackte Überleben zu sichern. Ein Genrefilm, der Thriller-, Horror- und Fantasy-Elemente nutzt, um von individuellen Ängsten, familiären Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu erzählen. AMAKINOUNA AL MAMNOUAA / NOS LIEUX INTERDITS (Our Forbidden Places, Leïla Kilani, Marokko / F 2008, 3.9., Einführung: Sonja Hegasy, ZMO) Zur Zeit des Regimes von König Hassan II (1961–1999) verschwanden Tausende Menschen spurlos. Im Jahr 2004 setzte sein Sohn, König Mohammed VI., eine Wahrheitskommission ein, um die Menschenrechtsverletzungen dieser "bleiernen Jahre" aufzuarbeiten. Der Film begleitet vier Familien bei ihrer Suche nach der Wahrheit: einen alten Marxisten, der Internierung und Folter überlebt hat, aber immer noch am Rande der Gesellschaft lebt und seine Nichten, die sein Schweigen nicht akzeptieren wollen; Frau, Tochter und Enkelin eines Gewerkschafters, deren hartnäckige Nachforschungen ergeben, dass dieser ein Freiheitskämpfer war; den Sohn eines Verschwundenen, der sich sein Leben lang als Sohn eines Verräters fühlen musste sowie einen Überlebenden und dessen Mutter, die noch immer nicht versteht, wofür er damals gekämpft hat. Der Prozess der Rekonstruktion von kollektiver und individueller Erinnerung erweist sich als kontrovers und schmerzhaft. ARRAGUAD / L'ENFANT ENDORMI (Das schlafende Kind, Yasmine Kassari, Marokko / Belgien 2004, 3.9., im Anschluss Gespräch mit Yasmine Kassari) Schon die Hochzeit ist vom Abschied geprägt: Am Tag nach dem Fest brechen die Männer des Dorfes auf, um in Spanien Arbeit zu suchen und lassen ihre Frauen im kargen Nordosten Marokkos zurück. Zeinab ist schwanger und beschließt, den Fötus nach einem jahrhundertealten maghrebinischen Brauch in ihrem Körper einschlafen zu lassen und so die Geburt zu verzögern bis zur Rückkehr des Ehemanns. Das Warten ist hart, die Video-Briefe der Männer wenig hoffnungsvoll, und ihr monotoner Alltag lässt Zeinab zusehends verkümmern. Sie steht zwischen ihrer autoritären Mutter und ihrer selbstbewussten Freundin, die sich gegen die starren Strukturen auflehnt. Ohne viele Worte erzählt der Film über seine Bilder präzise und vielsagend von den Dramen der Migration aus der Perspektive der Zurückgebliebenen. LAHDATE DALAM / UNE MINUTE DE SOLEIL EN MOINS (One Minute of Sun Less, Nabil Ayouch, Marokko / Frankreich 2002, 3.9., Einführung: Regina Sarreiter, ZMO) Kamel, ein junger Polizist in Tanger, wird mit der Aufklärung des Mordes an einem Drogenhändler beauftragt. Unter dringendem Verdacht steht eine Frau, die zur Tatzeit mit ihrem kleinen, schwerkranken Bruder am Ort des Verbrechens war. Sie übt eine große Anziehung auf den introvertierten Kamel aus, dessen einzige Freundin die transsexuelle Bauchtänzerin Yasmine ist. In Form eines temporeichen, spannenden Krimis mit rasantem Soundtrack und unter Nutzung von experimentellen Kameraperspektiven, Jump-Cuts und ausgebleichten Bildern thematisiert der Film offen Themen wie Kindesmissbrauch, Trans- bzw. Homosexualität, Korruption und Drogenhandel. Das hatte heftige Kritik zur Folge und aufgrund der Intervention der Zensurbehörde blieb die Aufführung des Films in Marokko verboten. CINEMA OUARZAZATE (Ouarzazate Movie, Ali Essafi, Marokko / F 2001, 4.9.) Die Kleinstadt Ouarzazate im Süden Marokkos – Sitz von Filmstudios und Schauplatz zahlreicher internationaler Filmproduktionen – gilt als das marokkanische Hollywood. Hitchcock, Pasolini, Huston, Welles, Lean, Scorsese, Scott, Stone u.v.a.m. haben hier gedreht. Wüstenlandschaft, Lehmbauten und Kasbahs bieten eine ideale Kulisse für Bibel-, Sandalen- und Abenteuerfilme. In Ali Essafis Dokumentarfilm werden die Einwohner Ouarzazates, die sich oft ganzjährig ihren Lebensunterhalt als Statisten verdienen, zu den zentralen Protagonisten. Er zeigt, wie sie sich beim Casting mustern lassen, gibt ihren Erfahrungen Raum und entlarvt die bisweilen demütigenden Sitten der Filmbranche. Zum Schluss ein Paradox: Ouarzazate ist zwar ein weltweit beliebter Drehort, doch die Kinos in der Stadt mussten alle schließen. ABOUAB AL JANNA / LES PORTES DU PARADIS (Heaven's Doors, Swel und Imad Noury, Marokko 2005, 4.9., im Anschluss Gespräch mit Swel Noury) Drei Geschichten, drei Generationen im heutigen Casablanca: Ney, ein junger Bauarbeiter, kümmert sich um seine blinde Mutter und seine kleine Schwester. Er will nicht wie seine Freunde nach Europa auswandern und lässt sich aus materieller Not von einem lokalen Bandenchef anheuern. Die Amerikanerin Lisa lebt als Kunsthistorikerin nach dem Tod ihres Mannes allein und nimmt widerwillig einen kleinen Jungen bei sich auf. Smail wird nach 15 Jahren Haft als alter Mann aus dem Gefängnis entlassen und sinnt auf Rache. Die drei Handlungsstränge sind lose verbunden zu einem virtuos montierten, mit Vor- und Rückblenden sowie vielen Rhythmuswechseln arbeitenden Film. Im Kreislauf der Gewalt erscheinen Familienbeziehungen in neuem Licht, und schließlich folgt auf Zerstörung, Zerfall und Trauer ein Neuanfang. Eine Veranstaltung von Arsenal – Institut für Film und Videokunst und Zentrum Moderner Orient (ZMO). In Kooperation mit dem SFB 640 an der HU Berlin und dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL). Mit freundlicher Unterstützung der Botschaft des Königreichs Marokko und des Centre Cinématographique Marocain (CCM). Das Besuchsprogramm für die Filmschaffenden wird durch die Unterstützung des Auswärtigen Amt ermöglicht.

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur