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Den Begriff Direct Cinema hatte Albert Maysles in Umlauf gebracht. Beschrieben werden sollte damit jenes bis dahin kaum realisierbare Ideal der teilnehmenden filmischen Beobachtung von Ereignissen ohne kontrollierenden Eingriff – ein Projekt, an dem er und sein Bruder David, aber auch andere Filmemacher arbeiteten. An eine Ur-Szene des Direct Cinema hat sich Richard Leacock in einem Interview erinnert: "Nichts ist schwieriger, als die Probe eines Symphonieorchesters auf Film zu bannen. Ein oder zwei Schnappschüsse? Kein Problem. Jedoch mit einer einzigen Kamera eine genaue und nachvollziehbare Idee davon zu vermitteln, was sich zugetragen hat – das ist extrem schwierig. Die Kamera muss mobil sein, sie muss leise sein, sie darf nicht durch Kabel mit dem Mikrofon verbunden und die Tonqualität muss hervorragend sein." Das Ziel, die bis dahin gebräuchliche, schwerfällige Synchrontonausrüstung durch die Entwicklung einer neuen, handlicheren zu ersetzen, hatte Ende der 50er Jahre Richard Leacock und Robert Drew zusammengebracht. Drew kam vom Journalismus – er war Bildredakteur und Reporter bei der Illustrierten Life gewesen – und wollte die Methode der unbemerkten Aufnahme ("Candid Photography"), die zum Markenzeichen des Magazins geworden war, auf den Film übertragen. Beim letztjährigen Dokumentarfilmfestival in Leipzig erzählte der heute 88-jährige Robert Drew: "Ich suchte nach Talenten, um eine neue Form des Filmemachens umzusetzen. Leacock war mir als eines dieser Talente früh ins Auge gestochen. Ich heuerte ihn für PRIMARY an, wo er auch seinen Freund Pennebaker einschleuste, mit dem er an der Entwicklung von neuen Aufnahmegeräten tüftelte. Der wiederum hatte zwei Brüder im Schlepptau, Albert und -David Maysles, von denen ich noch nie gehört hatte – aber warum hätten wir es nicht miteinander ausprobieren sollen? So entstand aus meinem kleinen Laden, mit dem ich Reportagen für Time-Life und den Sender ABC machte, praktisch über Nacht die Drew Associates und damit ein Powerhouse, in dem wir uns ebensowenig mit den Verkrustungen des Spielfilms abfinden wollten wie mit der auferlegten Behäbigkeit des traditionellen Dokumentarfilms." Zur Eröffnung der Filmreihe zeigen wir den von Drew und seinen Associates gedrehten PRIMARY (Drew Associates, USA 1960, 12.3., Einführung: Ralph Eue & 21.3.), der als das erste "offizielle Werk" des Direct Cinema gilt: ein Bericht über die Vorwahl zur Präsidentschaft mit den beiden Widersachern Hubert Humphrey und John F. Kennedy. Dank einer speziell für diesen Film entwickelten 16mm-Bild- und Tonausrüstung konnten sich die Filmemacher erstmals so durch ein gegebenes Geschehen bewegen, wie es sich Dokumentaristen seit mehreren Jahrzehnten erträumt hatten. Wie sehr das Bedürfnis nach einer Vitalisierung des Non-Fiction-Films zu dieser Zeit in der Luft lag, zeigt auch der gänzlich unabhängig gedrehte Film SUNDAY (Dan Drasin, USA 1960, 12.3., Einführung: Ralph Eue & 21.3.): Nachdem sich mehr als zehn Jahre lang regelmäßig sonntags Folksänger auf dem Washington Square in New York City versammelt hatten, verbot die Stadtverwaltung im Sommer 1960 diese Treffen. Über die Ereignisse an einem dieser Sonntage drehte der damals 18-jährige Dan Drasin zusammen mit zwei Freunden einen Film. Drasin begann in jenem Jahr gerade sein Studium der Philosophie an der Columbia University. SUNDAY wurde von Emile de Antonio verliehen, und Andy Warhol, der den Film zufällig zu sehen bekam, nannte Drasins Film ein Erweckungserlebnis, welches in ihm überhaupt erst den Wunsch auslöste, selbst Filme machen zu wollen. THE CHILDREN WERE WATCHING(Drew Associates, USA 1961,12. & 21.3.) geriet den Machern zu einer fulminanten Reportage, die zum ersten Mal unmittelbare Bilder von offenem Rassismus auf die US-Fernsehbildschirme brachte: "Aufgebrachte weiße Eltern wollten verhindern, dass ihre Kinder gemeinsam mit Kindern dunkler Hautfarbe unterrichtet werden und attackierten all jene, die sich für deren Integration einsetzten." (Constantin Wulff) Formales Meisterstück und inhaltliche Synthese der Zusammenarbeit zwischen Drew, Leacock, den Maysles und Pennebaker in den Jahren zwischen 1960 und 1963 ist CRISIS (Drew Associates, USA 1963, 12. & 21.3.): Star-Movie einerseits – in den Hauptrollen die amerikanischen Politiker John F. Kennedy, Robert Kennedy, George C. Wallace – höchst ambivalente "Documentary Fiction" andererseits. Mit beachtlichem Produktionsaufwand – u. a. vier parallel arbeitenden Teams – spürten die Macher dem Konflikt zwischen der liberal-demokratischen Kennedy-Administration und dem konservativ-demokratischen George C. Wallace, Gouverneur von Alabama, filmisch nach. Zentraler Konfliktpunkt: die Zulassung schwarzer Studenten zur Universität. Es ging um die Darstellung von Mechanismen der Macht hinter den Kulissen, um gegensätzliche politische Stile und die zur Verfügung stehenden Alternativen. CRISIS ist ein Monument des politischen und medialen Erregungsklimas der frühen 60er Jahre. THE CHAIR(Drew Associates, USA 1963, 13. & 20.3.) wurde für die Serie Living Camera produziert und dokumentiert die leidenschaftlichen Bemühungen des jungen Chicagoer Rechtsanwalts Don Moore, den Schwarzen Paul Crumb vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren. "Ein Courtroom-Drama: die letzten Tage vor der drohenden Hinrichtung, die minutiösen Vorbereitungen der Tötungstechnik, das Warten in der Todeszelle und vor allem das halbstündige Argumentationsgefecht zwischen Verteidiger und Staatsanwalt." (Constantin Wulff) 1963, nach der Fertigstellung von CRISIS, zerbrach der Produktionszusammenhang der Drew Associates. Die Beteiligten positionierten sich zwar weiterhin auf dem gleichen Feld, aber an unterschiedlichen Ecken. Ein hervorragendes Beispiel für Leacocks Suche nach intimeren, äußerlich weniger dramatischen Sujets ist HAPPY MOTHER'S DAY (Richard Leacock, Joyce Chopra, USA 1963, 15. & 23.3.), ein Film voll sardonischem Humor, der das öffentliche Spektakel rund um die Geburt von Fünflingen in einer Kleinstadt begleitet. Unversehens wurde HAPPY MOTHER'S DAY zu einem Porträt der sich entwickelnden amerikanischen Mediengesellschaft. SHOWMAN (Maysles Bros., USA 1963, 15. & 23.3.), der erste Film, den die Maysles nach der Trennung von Drew eigenständig produzierten, widmet sich ebenfalls den Medien. Der Film "skizziert den aufstrebenden Hollywoodproduzenten und Medienmogul Joseph E. Levine als umtriebigen Geschäftsreisenden und montiert die Hysterie um die Verleihung des Academy Award an Sophia Loren gegen die alltäglichen Banalitäten des Kinogeschäfts. Ein rauher Beitrag zum Thema Selbstdarstellung und Psychologie einer hemdsärmeligen Männergesellschaft." (Constantin Wulff) Das feine Gespür der Aktivisten des Direct Cinema für Medienphänomene lässt sich auch an JANE (Drew Associates, USA 1962, 16. & 22.3.) und MEET MARLON BRANDO (Maysles Bros., USA 1965, 16. & 22.3.) ersehen: Letzterer folgt Marlon Brando während eines Interview-Marathons in New York. Den Filmemachern ging es dabei nicht so sehr um das Geschehen selbst, als vielmehr um die wenigen Pausen im Betrieb, um jene Momente, in denen ihre Protagonisten – zumal solche wie Marlon Brando oder Jane Fonda – vielleicht gar neben sich stehen und das eigene Auftreten ironisierend reflektieren. Mit DON'T LOOK BACK (D. A. Pennebaker, USA 1965, 17. & 23.3.) lieferte D. A. Pennebaker praktisch die Blaupause für das Genre der Musik-Dokumentation: Der Film zeigt Bob Dylan aus nächster Nähe auf dessen Großbritannien-Tournee im Jahr 1965. Eingeladen von Dylans Manager Albert Grossmann, begleitete der Filmemacher den damals 24-jährigen Folksänger, der sich musikalisch kurz vor seiner elektrischen Periode befand. "Dylan versorgte Pennebaker mit ununterbrochenem Schauspiel für ein vorläufiges Porträt des Künstlers als junger Mann: die erste Maske von vielen." (Christoph Huber) Dass mit den Methoden des Direct Cinema auch veritable Anthologiestücke tragikomischer Unterhaltung zustande zu bringen sind, demonstrierten Albert und David Maysles in ihrem abendfüllenden Film SALESMAN (Maysles Bros. und Charlotte Zwerin, USA 1968, 18. & 25.3.). Ein dicht gewebtes dokumentarisches Epos über den Alltag von vier Bibelverkäufern, die diesen "weltweiten Bestseller" bei einsamen Witwen, kubanischen Immigranten und gelangweilten Hausfrauen loszuwerden versuchen. Zur Abrundung des Programms zeigen wir CINÉMA VÉRITÉ: DEFINING THE MOMENT (Kanada 1999, 14. & 24.3.), Peter Wintonicks filmische Recherche zu Direct Cinema und Cinéma Vérité. Darin feiert der Regisseur das Erbe jener Befreiungsbewegungen des Dokumentarfilms, die in den 60er Jahren auf je eigene Weise versucht haben, das künstlerische Verhältnis zur Wirklichkeit neu auszuloten. (Ralph Eue)Eine Veranstaltung in Kooperation mit der www.dffb.de - external-link-new-window>dffb.

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