Direkt zum Seiteninhalt springen

Von Luis Puenzos oscarprämiertem Film LA HISTORIA OFICIAL (The Official Story, 1985) über Jonathan Perels CAMUFLAJE (Camouflage, Forum 2022), Carlos Echeverrías JUAN, COMO SI NADA HUBIERA SUCEDIDO (Juan – Als wäre nichts geschehen, 1987), Lita Stantics UN MURO DE SILENCIO (A Wall of Silence, 1993) bis hin zu GARAGE OLIMPO (Olympic Garage, 1999) von Marco Bechis: In Argentinien gibt es zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme, die sich mit der letzten Militärdiktatur des Landes zwischen 1976 und 1983 beschäftigen. Aus dieser Fülle von Werken ragen LOS RUBIOS (The Blonds, 2003) von Albertina Carri und M (2007) von Nicolás Prividera nicht nur deshalb heraus, weil sie von den Kindern von Verschwundenen gemacht wurden, die sich dem Thema – jeweils auf ihre Weise – aus einer kompromisslos persönlichen Perspektive nähern. Sie sind vor allem deswegen so bedeutsam, weil sie Debatten ausgelöst haben, die bis heute noch lange nicht abgeschlossen sind.

Filme der Kinder von Verschwundenen

So handelt Carris Film streng genommen nicht von ihren Eltern (was viele Zuschauer*innen dieser Generation irritierte), sondern von den verschlungenen Pfaden der Erinnerung und der Konstruktion der eigenen Identität. „Ich wollte nicht, dass das Publikum das Kino mit der Illusion verlässt, über LOS RUBIOS meine Eltern kennen lernen zu können, denn der Film basiert auf der Grundannahme, dass eine wahrheitsgetreue, dokumentarische Rekonstruktion schlichtweg nicht möglich ist.

Im Gegensatz zu dieser „Erinnerungsfiktion“, wie Carri selbst LOS RUBIOS bezeichnet, verleugnet M seinen dokumentarischen Charakter nicht. Dennoch erlaubt sich der Film, erzählerische Elemente oder Zeichen aus dem Bereich der Fiktion einzuführen. In der Tat ist Privideras Konstruktion seines Ichs als Figur – eine Art Privatdetektiv sui generis – nicht nur ein Weg, sich selbst voll und ganz in den Film einzuschreiben. Vielmehr unterstreicht er auf diese Weise auch die Subjektivität seines Blicks, der nicht nur über seine Fortschritte bei den Ermittlungen zum gewaltsamen Verschwinden seiner Mutter, sondern auch über seine Misserfolge und Enttäuschungen Aufschluss gibt.

Ein Prozess als Gründungsakt der neuen Demokratie

Mit dem Erscheinen von EL JUICIO (The Trial) von Ulises de la Orden, den das Forum 2023, vierzig Jahre nach der Wiedererlangung der Demokratie in Argentinien, als Weltpremiere zeigt, gewinnen all die genannten Filme wieder an Aktualität und Bedeutung. Vermutlich gab es bislang noch keinen Film über die zivil-militärische Diktatur in Argentinien, der so konkret, so präzise und zugleich so umfassend ist. Der Grund für diese herausragende Bedeutung von EL JUICIO liegt in der Natur des Filmes selbst.

EL JUICIO arbeitet einzig und allein mit den Aufzeichnungen, die zwischen dem 22. April und dem 9. Dezember 1985 vom staatlichen Fernsehsender, der damals Argentina Televisora Color (ATC) hieß, über das als „Prozess gegen die Militärjunta“ bekannte Gerichtsverfahren aufgenommen wurden. Neun hochrangige Militärbefehlshaber wurden hier als Verantwortliche für schwerste Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Es handelte sich um einen mustergültigen, in Lateinamerika zu diesem Zeitpunkt beispiellosen Prozess, der auf der Untersuchung von 709 Fällen beruhte. Er endete mit der Verurteilung von fünf der neun Angeklagten (darunter zwei zu lebenslanger Haft) und wurde zugleich zu einem Gründungsakt für die neue argentinische Demokratie. Die Worte „Nunca más“ („Nie wieder“), die der Staatsanwalt Julio César Strassera in seinem Schlussplädoyer verwendete, gingen wiederum auf den Titel des Untersuchungsberichts der Nationalen Kommission zum Verschwindenlassen von Personen (CONADEP) zurück, der ein Jahr zuvor veröffentlicht worden war. Sie dienen Menschenrechtsorganisationen bis heute als Slogan, und zwar nicht nur in Argentinien.

„Regisseur Ulises de la Orden und Editor Alberto Ponce haben eine authentische filmische Erzählung geschaffen, die diesen beispiellosen Prozess der bisher nur bruchstückhaft informierten Öffentlichkeit zugänglich macht.“

Ungeachtet der politischen und juristischen Erfolge und Rückschläge im Laufe von fast vier Jahrzehnten blieb dieser Prozess die Grundlage, um die Verurteilung und Bestrafung von Personen, die sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, vor Zivilgerichten und mit allen verfassungsmäßigen Garantien weiter voranzutreiben. Wie der Abspann von EL JUICIO zeigt, wurden bis zur Fertigstellung des Films dank des unermüdlichen Einsatzes der Menschenrechtsorganisationen 1058 Personen verurteilt, 964 starben während des Prozesses und 22 sind noch auf freiem Fuß. Und auch heute noch finden im ganzen Land zahlreiche Verfahren im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit statt.

Regisseur Ulises de la Orden und sein Filmeditor Alberto Ponce haben sich in zweifacher Hinsicht verdient gemacht. Erstens ist es ihnen gelungen, diesen historischen Prozess aus dem Rohmaterial von 530 Stunden Aufzeichnungen auf U-Matic-Kassetten zu rekonstruieren, die auf Grundlage eines Gerichtsbeschlusses seit 1988 im norwegischen Parlamentsgebäude aufbewahrt werden, um die Sicherheit der Bänder zu gewährleisten. Ihr größtes Verdienst ist es jedoch, eine authentische filmische Erzählung geschaffen zu haben, die diesen beispiellosen Prozess in all seinen Nuancen wiedergibt und damit der bisher nur bruchstückhaft informierten Öffentlichkeit zugänglich macht. Tatsächlich strahlte der staatliche Sender während des Prozesses, als die demokratische Verfassungsordnung noch nicht gefestigt und anonyme Drohungen an der Tagesordnung waren, in seinen Nachrichtensendungen täglich eine Zusammenfassung von knapp drei Minuten Bild ohne Ton aus. Nur die Verlesung des Urteils wurde in voller Länge mit Bild und Ton übertragen.

Chorstück der Gesellschaft vs. Solo für den Staatsanwalt

Der Spielfilm ARGENTINA, 1985 von Santiago Mitre widmet sich ebenfalls diesem Prozess und hat wesentlich dazu beigetragen, ihn auch unter jüngeren Generationen in Argentinien bekannt zu machen. Er wurde bei den Filmfestspielen von Venedig 2022 im offiziellen Wettbewerb uraufgeführt, für einen Oscar in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert und ist mittlerweile weltweit auf der Plattform Amazon Prime Video verfügbar. Mitres Film bedient sich der narrativen Grundstruktur des Hollywood-Kinos, indem er den Staatsanwalt Strassera als Helden in den Mittelpunkt stellt – gespielt von Ricardo Darín, einem der populärsten spanischsprachigen Schauspieler. Im Rahmen eines klassischen Gerichtsdramas erzählt der Film die Geschichte eines gewöhnlichen Mannes, der mit außergewöhnlichen Umständen konfrontiert wird.

Der Dokumentarfilm EL JUICIO ist hingegen als Chorstück konzipiert, in dem der Staatsanwalt Strassera und sein Assistent Luis Moreno Ocampo zwar eine wichtige, aber nicht die einzige Stimme innehaben. An diesem Prozess waren viele Akteur*innen beteiligt, von den Überlebenden, die zu Zeug*innen wurden, über die Angeklagten, ihre Verteidiger und die Richter selbst bis hin zu den Familien der Opfer und den Müttern der Plaza de Mayo, die als Zuschauerinnen im Gerichtssaal saßen.

Sucht man nach Vorbildern für den Film von Ulises de la Orden, fällt einem vermutlich als erstes das filmische Werk von Sergei Loznitsa ein. Sein beeindruckender Film PROCESS (The Trial, 2018) über die ersten Moskauer Prozesse zielt allerdings eher darauf ab, die stalinistische Manipulation anzuprangern als über die Besonderheiten einer bestimmten Gerichtsverhandlung zu berichten, wie es im argentinischen Film der Fall ist. Weitere einschlägige Parallelen finden sich im brasilianischen Film O PROCESSO (The Trial, Berlinale Panorama 2018) von Maria Augusta Ramos über das unzulässige Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Roussef, und noch stärker in Eyal Sivans UN SPÉCIALISTE (A Specialist, Berlinale Wettbewerb 1999) über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel.

„Die Ausführlichkeit von EL JUICIO ist ein weiteres Verdienst des Films, denn es gibt fast keine Fakten über die Diktatur und ihre Funktionsweise, die nicht erwähnt würden.“

Sivans Film ist, wie der von Ulises de la Orden, aus einer einzigen Fernsehaufzeichnung von Hunderten von Stunden entstanden und zeigt ebenfalls eine Vielzahl von Akteur*innen auf einer einzigen Bühne, dem Gerichtssaal: den Staatsanwalt, den Verteidiger, die Richter und natürlich den Angeklagten. Aber in EL JUICIO gibt es nicht nur einen Angeklagten, sondern neun, und obwohl mehrere von ihnen (oder die Anwälte in ihrem Namen) sich wie Eichmann als Opfer gebärdeten, lag der Fall bei den Hauptangeklagten dieses Prozesses anders: Jorge Rafael Videla und Emilio Eduardo Massera, die schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, bekannten sich zu ihren Taten und starben schließlich im Gefängnis (Videla 2013 in seiner Zelle, Massera 2010 im Marinekrankenhaus).

EL JUICIO macht deutlich, welche Verachtung die beiden nicht nur für das Gerichtsverfahren hegten, das sie durchliefen (und das sie ihren Opfern verwehrt hatten), sondern auch für das Leben derjenigen, die sie systematisch entführten, folterten und ermordeten. Das komplizenhafte, spöttische Lachen beim Betreten des Gerichtssaals, das einst von einem anonymen Kameramann des Staatsfernsehens aufgezeichnet wurde, wird nun vom Regisseur und seinem Cutter in Szene gesetzt und entfaltet so eine unheilvolle Bedeutung. EL JUICIO wählt immer wieder diese kleinen aufschlussreichen Momente, obwohl die Fernsehkameras stets mit dem Rücken zu den Angeklagten und den Opfern positioniert waren, vermutlich um deren Privatsphäre während des Prozesses zu schützen und um die bloße Aufzeichnung gegenüber der Idee eines Spektakels in den Vordergrund zu rücken.

Auswahl und Montage des umfangreichen Materials

In seinem Buch „Eloge de la désobéissance. A propos d'un «spécialiste»: Adolf Eichmann“ weist Eyal Sivan warnend darauf hin, dass „jedes Framing bereits eine Auswahl und damit ein Akt der Zensur ist […].“ Sivan betont: „Wählen bedeutet vor allem, etwas wegzulassen“, und räumt zugleich ein, dass er seinen Film, wie er es nennt, in ein Dutzend „Frames“ einteilen musste. In seinem Text erklärt Sivan, dass der Aufbau und die Abfolge seiner Bilder „einerseits darauf abzielen, ihnen eine eigene Persönlichkeit in der Atmosphäre und im Rhythmus der Handlung zu verleihen, und andererseits, durch den Kunstgriff der Montage die imaginäre Zeit des Prozesses wiederherzustellen.“

Auf anderen Wegen, denn das Ursprungsmaterial unterscheidet sich natürlich, ist Ulises de la Orden zu demselben Schluss gelangt. Er gliederte die drei Stunden seines Films EL JUICIO in 18 Kapitel mit jeweils eigenen Titeln. Der argentinische Regisseur betrachtet seine Arbeit ähnlich wie Sivan: „Die erste Schnittfassung von EL JUICIO war acht Stunden lang, und zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits eine Menge Material, das nur schwer zu kürzen war; es war, als ob jede Minute, die wir herausnahmen, gleichbedeutend damit wäre, etwas nicht zu erzählen. Die andere Schwierigkeit hing damit zusammen, dass wir nicht wollten, dass der Film eine Aneinanderreihung von Fällen wird, sondern eine Geschichte, die in Kapitel unterteilt ist, von denen sich jedes mit einem bestimmten Thema beschäftigt. Das war unser Ziel, und so sind wir zu dieser endgültigen dreistündigen Fassung gekommen.“

Die Ausführlichkeit von EL JUICIO ist ein weiteres Verdienst des Films, denn es gibt fast keine Fakten über die Diktatur und ihre Funktionsweise, die nicht erwähnt würden. Vom gewaltsamen Verschwindenlassen der Opfer und der Plünderung ihrer Habseligkeiten bis hin zu den so genannten „Todesflügen“, von der Zwangsarbeit über die Folterung von Kindern und schwangeren Frauen bis hin zum Diebstahl von Babys entfaltet sich in den Zeug*innenaussagen von EL JUICIO die Hölle auf Erden. Dazu gehört auch die Mitwirkung der Kirche und die eigennützige Mittäterschaft der Gesellschaft.

Die Gegenwärtigkeit vergangener Verbrechen in Argentinien

Mit diesem Thema beschäftigt sich auch Jonathan Perel in seinem Dokumentarfilm RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL (Corporate Responsibility), der im Forum 2020 gezeigt wurde. Perel arbeitet darin mit einer ebenso wertvollen wie nahezu unbekannten dokumentarischen Grundlage, die weitaus weniger bekannt war als die Aufzeichnungen über den Prozess gegen die Junta, von denen zumindest einige Fragmente im Umlauf waren. Basierend auf dem Buch „Responsabilidad empresarial en delitos de lesa humanidad. Represión a trabajadores durante el terrorismo de Estado“, das 2015 vom argentinischen Ministerium für Justiz und Menschenrechte der Nation veröffentlicht wurde (und bisher kaum auf Aufmerksamkeit gestoßen ist), bringt Perel im wahrsten Sinne des Wortes ans Licht, was noch immer für alle sichtbar ist, aber was doch niemand sieht: Fabriken und Industriekomplexe, die bis heute voll in Betrieb sind, dienten zwischen 1976 und 1983 als geheime Haftanstalten – und damit zu Repression, Entführung, Folter, erzwungenem Verschwinden und Mord.

Perels Film – ebenfalls in Kapitel gegliedert, die die Namen und Logos der Firmen tragen: Ford, Fiat, Mercedes Benz, Alpargatas, Molinos Río de la Plata, Acindar und Loma Negra, um nur die bekanntesten zu nennen – arbeitet nach dem Prinzip der Aneinanderreihung. In der Wiederholung der Fälle, einer nach dem anderen, offenbart RESPONSABILIDAD EMPRESARIAL eine systematische Vorgehensweise, die all diesen Unternehmen, die für die Funktionsweise und die Aufrechterhaltung der Diktatur eine zentrale Rolle spielten, gemeinsam ist. Während sie das Regime mit ihren Spenden für den sogenannten „Patriotischen Fonds“ unterstützten, senkten sie die Arbeitskosten durch die „Ausmerzung negativer Elemente“ (die Verschwundenen wurden entlassen, weil sie nicht zur Arbeit erschienen, und ihre Familien landeten auf der Straße). Gleichzeitig füllten sie auf skandalöse Weise ihre Kassen, indem sie die privat aufgenommenen Millionenkredite in öffentliche Schulden umwandelten.

Auf seine Weise nutzt EL JUICIO ebenfalls die Aneinanderreihung von Zeug*innenaussagen als erzählerisches Verfahren, das einen Sinn konstruiert und die ungeheure kriminelle Dimension der Geschehnisse offenlegt. Die Tatsache, dass Ulises de la Orden nun auch verlorene Momente und in der Logik des Fernsehens tote Zeiten wiederbelebt hat – Videla, der vor seiner Verurteilung die „Sieben Worte Christi“ liest, ein theatralisch auftretender Verteidiger, der geistesabwesend in einer Zeitung blättert –, bestätigt, dass selbst in absoluter Rohform vorliegendes Material zu einer filmischen Bearbeitung taugt, die den entscheidenden Ereignissen der Vergangenheit eine neue Aussagekraft verleiht.

Luciano Monteagudo ist Kurator und Filmkritiker in Buenos Aires und arbeitet seit 2019 als Berater für die Filmauswahl des Berlinale Forums.

Übersetzung aus dem Spanischen von Anna Catharina Hofmann

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur