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„Es ist manchmal sehr ungerecht!“ sagt eine der von Tatjana Turanskyj erdachten Figuren in ihrem letzten Drehbuch, das eine filmische Trilogie über Frauen und Arbeit komplettieren sollte. Es ist ungerecht, dass dieser Film CORPORATE nicht mehr sein soll, es ist nicht gerecht, dass die Filmemacherin, Künstlerin und Feministin so früh, mit nur 55 Jahren, sterben musste. Ihr letzter Spielfilm wird nun ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT IST KEIN VERBRECHEN bleiben, den sie 2016 gemeinsam mit Marita Neher realisierte.

Turanskyj selbst hatte einen ausgeprägten Sinn für Ungerechtigkeit, für die gesellschaftlichen Strukturen, die diese herstellen und zulassen, mit denen wir uns in der Realität und die Figuren in der Fiktion sich herumschlagen. Sie war feministische Aktivistin, Filmemacherin – und vor allem war sie eine tolle Künstlerin.

Turanskyjs Filme sind wie sie selbst war: kritisch, humorvoll, klug, mit hellwachem Blick auf die Welt und deren Verhältnisse. Mit einem Sinn fürs Absurde ausgestattet, fürs Politische, das Theoretische sowie das Menschliche, und von einer eigenwilligen Ästhetik geprägt, in der szenische Fiktion, theatrale Performativität und dokumentarische Authentizität aufeinandertreffen.

Die Welt aus feministischer Perspektive

Turanskyjs Filme betrachten und kommentieren die Welt aus feministischer Perspektive, damit stehen sie in bester Tradition der Autorinnenfilme der 1970-80er Jahre. Ihr erster Langspielfilm EINE FLEXIBLE FRAU (2010) erzählt ähnlich leicht und unterhaltsam, zugleich ernst, bissig und authentisch über die herrschende Geschlechterungerechtigkeit und die konkreten Auswirkungen auf das Leben von Frauen, wie es auch Helke Sander in DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT – REDUPERS (1978) tat.

In beiden Filmen geht es zentral um die Frage von unbezahlter Arbeit und ökonomischer Armut von Frauen. Die zeitliche Spanne zwischen den beiden Filmen zeigt, dass sich in Vielem nicht viel geändert hat, und das war auch eine für Turanskyjs Arbeit wesentliche Erkenntnis: Der Feminismus stirbt, wenn man ihn nicht aktiv am Leben hält. So gründete sie 2014 gemeinsam mit Kolleginnen den Verein Pro Quote Regie (heute Pro Quote Film), um den Kampf für Gleichberechtigung und Verteilungsgerechtigkeit wiederaufzunehmen, nachdem die Filmemacherinnen der 1990er Jahre gedacht hatten, alle Ziele seien erreicht.

Politisches Wissen als performative Anschaulichkeit

Das große Können der Filmemacherin Turanskyj lag darin, Situationen zu erfinden und ikonische Bilder zu gestalten, in denen fiktionale Figuren glaubwürdig agieren können und zugleich etwas über die realen gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Punkt gebracht wird. Auf diese Weise hat sie Filmszenen geschaffen, die für das kulturelle Gedächtnis taugen: die hedonistische Greta M. (dargestellt von Mira Partecke), die mit Freunden eine Art Totentanz auf dem Teufelsberg über dem durchökonomisierten Berlin hinlegt, oder die Sexarbeiterin Helena (Julia Hummer), die ihren Langzeit-Freier nur im sexuellen BDSM-Spiel dazu bringen kann, den Küchenboden des von ihm für sie angemieteten Apartments zu putzen.

Turanskyj überführt ihr politisches Wissen in dramatische, performative Anschaulichkeit und damit in Filmkunst. Sie instrumentalisiert ihre Figuren nicht für den politischen Diskurs, sondern zeigt sie als Charaktere mit Bedürfnissen und widersprüchlichem Begehren. Damit richtet sich ihre Kritik nicht auf Einzelne, nicht auf Männer* oder Frauen*, sondern auf das System, in dem sie agieren müssen.

So ist Greta M. zwar eine fast klassische komische Figur (und eine Wiedergängerin der „Sie“ in Ulrike Ottingers BILDNIS EINER TRINKERIN von 1979). Sie ist lost und verzweifelt, trinkt und kommt mit den Verhältnissen nicht zurecht – aber letztendlich ist nicht sie die Quelle der Komik, sondern es sind die absurden Anforderungen, die an sie gestellt werden.

Die Ambivalenz einer komplexen Wirklichkeit

Mit diesen hat auch die Protagonistin des zweiten Langspielfilms TOP GIRL ODER LA DÉFORMATION PROFESSIONNELLE (2014) zu kämpfen: Helena spielt für ihre Freier eine Domina, ist aber in der (fiktionalen) Realität völlig abhängig von deren Geld. Die Männer haben die Macht und die Mittel, und sie haben von all dem genug – was Turanskyj einen Gesangsschüler, Bachs Textzeile „Ich habe genug“ neu interpretierend, wiederholt und exzessiv singen lässt. Die Männer sind in diesem System die Glücklicheren, sie liegen befriedigt wie zufrieden schlafende Babys herum, während Helena ihre Arbeitsutensilien zusammensammeln oder reinigen muss.

Turanskyj konzentriert sich auf den Aspekt der Arbeit und der Wirklichkeit und kommentiert und verdreht damit implizit auch die ewig wiederkehrenden Bilder einer fetischisierenden Darstellung der Prostituierten im Kino. Ihre Szenen sind also als Kritik angelegt, zugleich entwickeln sie durch die Art und Weise der Darstellung einen neuen, eigenen Zauber. Erzählt wird von dem Machtgefälle, aber auch von den doch echten Beziehungen der Menschen innerhalb dieses Gefälles.

Anders als in einem auf Eindeutigkeit orientierten politischen Diskurs zeigen Turanskyjs Szenen die Ambivalenz einer komplexen Wirklichkeit, in der die Allianzen quer gehen. Damit aber gibt es auch keine „Heldinnen“, die feministisches Empowerment auf einfache Art repräsentieren.

Am Ende von TOP GIRL kollaboriert die Protagonistin mit der Macht der Männer und schickt ihre Kolleginnen als nacktes Freiwild in den Wald, um dort im Spiel gejagt zu werden. Die Protagonistin hat die Seiten gewechselt und steht nun (auf absurd hohen Designerpumps) als machtvolle, dunkle Herrscherin am Fenster und schaut auf ihr Werk, die „erlegten“ Frauen. Sie ist Siegerin, zugleich aber ­– und das ist eine Ambivalenz, die in der Kunst möglich ist ­– wirkt sie, in ihrem schwarzen Kostüm mit Gesichtsschleier, wie auf einer Beerdigung.

So wird aus der Einstellung eine Ikonographie des strukturellen Sexismus und zugleich ein Bild für die Trauer der Filmemacherin um das Scheitern des Feminismus und seiner Anliegen. Im Zusammenspiel von expliziten und impliziten Bedeutungen manifestiert sich eine ambivalente Botschaft: Der Feminismus ist tot, es lebe der Feminismus.

Der letzte Film bleibt unserer Phantasie überlassen

Struktureller Sexismus wäre auch Thema des letzten Films der Trilogie gewesen. Hier wollte Tatjana eine Geschichte über #metoo und Embedded Feminism erzählen, also den Missbrauch von Frauenrechten für die Legitimierung von staatlicher Gewalt. Und auch für diesen Film hatte sie ikonische, ironische Szenen erfunden.

Zwei Frauen haben die Möglichkeit, ihren Peiniger ertrinken zu lassen, in letzter Sekunde überlegen sie es sich anders und holen ihn aus dem Pool. Er liegt dann in ihren Armen als eine Art Wunschbild – ein aus der Taufe gehobener neuer Mann, der alles Patriarchale auskotzt: „alle Bilder, Porno, Vergewaltigungen, Erniedrigungen, alles wird ausgespuckt“. Wie Tatjana das inszeniert hätte, wird nun unserer Phantasie überlassen bleiben. Dem Kino werden ihre Ideen und Bilder jedenfalls schmerzlich fehlen.

Christine Lang arbeitete als Dramaturgin mit Tatjana Turanskyj an deren letzten Drehbuch Corporate.

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