Direkt zum Seiteninhalt springen

Am Ende des Winters stiftete die Nachricht Unbehagen, der Regisseur Uwe Boll habe einen Film über den Terroranschlag in Hanau abgedreht. Keinen Dokumentarfilm, in dem er die Angehörigen der Ermordeten zu Wort hätte kommen lassen, sondern einen Spielfilm, der wie vorangegangene Spielfilme Bolls auf Drastik und Effekt getrimmt ist. Je drastischer, umso aufklärerischer, lautet die Logik. Der Oberbürgermeister der Stadt Hanau und die Hinterbliebenen der Opfer waren entsetzt: „Wir appellieren noch einmal alle gemeinsam an Sie, den dringenden Wunsch der Angehörigen anzuerkennen und auf die sensationslüsterne filmische Aufarbeitung des Attentats zu verzichten.“ 

Bolls Weigerung, auf die Angehörigen der Mordopfer von Hanau zu hören, fällt in eine Zeit, in der die Zusammenhänge zwischen Kino im Besonderen und Kultur im Allgemeinen, Gesellschaft und Rassismus Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen sind. In den Feuilletons und in den sozialen Medien wird über Übersetzungsaufträge, rassistische Passagen im Oeuvre von Immanuel Kant und über die Zusammenstellung einer Buchpreis-Shortlist debattiert. Keine Woche vergeht, ohne dass Grundsatztexte, die für oder gegen Identitätspolitik Partei ergreifen, erscheinen.

Der Tonfall ist rau, die Tendenz, Kritik durch einen Angriff ad personam zu parieren, statt innezuhalten und sich auf das Vorgebrachte einzulassen, verbreitet, die Pandemie raubt vielen die Gelassenheit, und Strohmänner machen es sich in den Debatten gemütlich. Dass diese vor dem Kino nicht haltmachen, zeigt sich bei weitem nicht nur an Bolls Hanau-Film. Wenn ich ihn herausgreife, so hat das vor allem damit zu tun, dass er auf exemplarische Weise einen Schlüsselbegriff der Debatte illustriert. Kulturelle Aneignung meint genau dies: sich einer Geschichte zu bemächtigen, ohne die Einwände, Argumente und Affekte derer, von denen diese Geschichte handelt, wahrzunehmen.

Nicht nur weiß und bürgerlich

Diese Abriegelung zeugt zudem von einer Blindheit für die Gesellschaft, in der wir leben. Denn Deutschland ist im Jahr 2021 ein Zuhause für Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen, Familiengeschichten und Erfahrungen, und je weniger sich diese Menschen auf Randplätze verweisen lassen, je hartnäckiger sie am öffentlichen Gespräch teilhaben, umso mehr stoßen Gesten wie die Bolls auf Widerspruch. Weil so viele Strohmänner unterwegs sind, sei hier eine kurze Erklärung eingeschoben: Widerspruch heißt nicht Verbot. Solange Boll gegen kein Gesetz verstößt, darf er einen Film über den 19. Februar 2020 in Umlauf bringen, ob nun Direct-to-Video oder auf andere Weise. Genauso wenig geht es darum, dass ein weißer Regisseur per se nichts zu Hanau vorbringen solle. Die Frage ist, ob das, was er tut, produktiv, angemessen und durchdacht ist, ob es Erkenntnisse zutage fördert und ästhetische Formen findet, die dem Gegenstand gerecht werden.

Der Widerspruch, den heute Autor*innen und Kulturproduzent*innen wie René Aguigah, Mohamed Amjahid, Fatma Aydemir, Kübra Gümüsay, Alice Hasters, Hasnain Kazim, Natasha A. Kelly, Mahret Ifeoma Kupka, Sharon Dodua Otoo, Biene Pilavci, Pary El-Qalqili, Anta Helena Recke, Mithu Sanyal oder Hengameh Yaghoobifarah äußern, ist nicht neu , neu ist, dass er die sozialen Medien als Resonanzraum hat, dadurch Momentum gewinnt und stärker wahrgenommen wird, als dies vor 25 Jahren der Fall war. Dadurch verschieben sich die Schwerpunkte in den Feuilletons und im Kulturbetrieb. Definitionsmacht liegt nicht mehr automatisch bei den Intendant*innen und den Feuilleton-Ressortleiter*innen. Wer eine kulturelle Einrichtung verantwortet, ist gut beraten, sich mit diesen Entwicklungen zu befassen. Wie nämlich kann es sein, dass die Menschen, die im Kulturbetrieb arbeiten, und die, die seine Angebote wahrnehmen, mit wenigen Ausnahmen so weiß und bildungsbürgerlich sind, obwohl doch so viele Steuerzahler*innen dies nicht sind?

Bevor ich mich dem Film und dem Kino zuwenden werde, möchte ich mich mit einem Beispiel aus dem Theater beschäftigen, weil es die Tragweite der Problemlagen im deutschsprachigen Kontext gut beschreibt und außerdem einen Punkt markiert, „an dem die Prozesse unumkehrbar werden.“  Ron Iyamu, ein Schauspieler des Düsseldorfer Schauspielhauses, machte im Juni 2020 in seiner Diplomarbeit öffentlich, dass er 2019 mehrmals rassistisch beleidigt wurde, als er unter der Regie vom Armin Petras „Dantons Tod“ probte. Was nach der Veröffentlichung passierte, war zunächst einmal wenig. Erst mehrere Monate später, im März 2021, gab es ein hörbares Echo.

Der Intendant des Hauses, Wilfried Schulz, und der Regisseur Armin Petras reagierten zunächst erschrocken, dann mit Verständnis auf Iyamus Vorwürfe. Beide kündigten an, sich in Zukunft intensiver mit dem individuellen wie dem strukturellen Rassismus zu beschäftigen und an entsprechenden Sensibilisierungs-Workshops teilzunehmen. Schulz hob hervor, dass er bereits in der Vergangenheit dafür Sorge getragen habe, die Strukturen am Schauspielhaus entsprechend zu reformieren, und beteuerte, dies auch in Zukunft zu tun. Petras trat zwar nicht direkt an die Öffentlichkeit, doch ein Freund, der Theatermacher Michael Börgerding, schrieb über den Fall und zitierte aus einem Mail-Wechsel mit Petras, in dem dieser Fehler bei sich sah:

„’[E]s reicht heute nicht mehr, nur kein Rassist zu sein, es geht darum, sich antirassistisch zu verhalten und das so auch permanent zu kommunizieren. Mit Worten, Gesten, Bildern, eigenem Verhalten und zwar egal wo, genauso in der Umkleide wie am Kaffeeautomaten oder auf der Probe. In diesem Lernprozess befinde ich mich zurzeit.’“

Parallel dazu forderte eine Gruppe um die Autorin Natasha A. Kelly, die für das Düsseldorfer Schauspielhaus tätig gewesen war und nun die Zusammenarbeit aufkündigte, die Stadt Düsseldorf möge Gelder bereitstellen, um eine Bühne für Schwarze Theatermacher*innen ins Leben zu rufen, einen safe space, der Sicherheit vor den Rassismus-Erfahrungen gewähre. Im April griff der Dramaturg und Publizist Bernd Stegemann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in die Debatte ein, indem er Ron Iyamu erklärte, wie er souveräner hätte reagieren können, und ihn dann ad personam anging. Nicht nur ich rieb mir bei der Lektüre verdutzt die Augen: Wann lernen exponierte Intellektuelle, dass es ein Zeichen von Souveränität ist, sich Kritik anzuhören, statt sie durch Diskreditierung des Gegenübers abzuwehren? Ein offener Brief, der Stegemanns Methoden in Frage stellte, folgte auf dem Fuß, 1400 Menschen unterzeichneten ihn. Ebenfalls in der FAZ äußerte sich Mithu Sanyal; unter anderem verwarf sie Stegemanns Forderung, Iyamu hätte doch bitte souveräner reagieren sollen: 

„Ebenso wie nichts rascher passiert, als Menschen, die verletzt worden sind, daraufhin fehlende Souveränität vorzuwerfen. Denn das ist es, was Verletzungen mit uns machen, sie ziehen uns für einen Moment jene magische soziale Haut vom Leib, die es uns erlaubt, gleichzeitig Teil der Gesellschaft und wir selbst zu sein – unverletzbar, weil eine Verletzung von uns gleichzeitig eine Verletzung der Gemeinschaft wäre.“ 

Kein Zweifel: Was in Düsseldorf geschieht, ist Teil eines schmerzhaften Prozesses. Selbst wenn Intendant*innen und Regisseur*innen ihr Verhalten ändern und beginnen, an den Strukturen zu arbeiten, verlieren diejenigen, die unter Rassismus leiden, die Geduld. Die Verbesserung lässt zu lange auf sich warten, und je härter die Bandagen sind, mit denen Bernd Stegemann um seinen Anspruch auf Definitionsmacht kämpft, desto verfahrener gerät die Lage. Nun führt außer im Wahlprogramm der AfD kein Weg zurück in eine homogene Gesellschaft (wenn es denn je eine gegeben hat). Deswegen gilt es, die Dilemmata und die Konflikte, die Fronten und die Härte für die Dauer des Prozesses auszuhalten. Widersprüche und double binds gehören notwendigerweise dazu, auch und gerade in den kritischen Praktiken. Die Appelle an den Gemeinsinn, die im deutschsprachigen Feuilleton verbreitet sind, wirken dagegen hohl und realitätsfremd.

Zwischen tokenism und Einkapselung

Von Rassismus betroffene Menschen können unterschiedliche, sich ins Wort fallende Strategien verfolgen. Wer diskriminiert wird, kann versuchen, sich auf den Weg durch die Institutionen zu begeben, wichtige Positionen zu besetzen und dadurch einen Wandel zu erwirken. Das birgt das Risiko, dass man sich zwar ein Auskommen schafft, an den Strukturen selbst aber nichts ändert, ja, sie fortschreibt und festzurrt und noch dazu den Institutionen als token dient, wenn man nicht ohnehin irgendwann entnervt das Handtuch wirft. Die gegenläufige Strategie besteht darin, eigene Räume und Strukturen zu etablieren. Zwar gewähren diese Sicherheit, doch sie bergen das Risiko, sich in einer Gruppenzugehörigkeit einzukapseln, die man, wollte man starre Identitätskonzepte überwinden, lieber dekonstruierte. Wenn der strategische Essentialismus das Adjektiv preisgibt und das Substantiv Selbstzweck wird, wird es brenzlig.

Die Gegenstrategie, also die Dekonstruktion von Identität und Grenzverläufen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, birgt ebenfalls Tücken, solange man rassistisch behelligt wird, also von außen auf die Identität zurückgeworfen wird. Und wie streitet man für gemeinsame Interessen, wenn man sich erst gar nicht zu einer Gruppe zusammenschließt? Wer angesichts dieser Dilemmata im Universalismus sein Glück sucht, kommt auch nicht weit: Indem diese Position eine Utopie für Wirklichkeit hält, neigt sie dazu, die real existierende Misere vergessen zu machen. Diese aber bringt es mit sich, dass manche um den Zutritt zum Himmel des herrschaftsfreien Diskurses viel heftiger als andere ringen. Bevor sie unter den Freien und den Gleichen flanieren und nichts als die Kraft des guten Arguments zählt, haben sie sich die Glieder verrenkt und die Zähne ausgeschlagen. Wenn sie dann die guten Argumente durch die Zahnlücken zischen, sind die, die schon im Himmel waren, sofort düpiert: So wie Sie reden, versteht man ja kein Wort!

Was heißt das für die Filmkultur?

Was heißt all dies für die Filmkultur, den Diskurs rund ums Kino, für Festivals und Menschen, die Filme machen? Die britische Filmkuratorin Jemma Desai hat im vergangenen Jahr „This Work Isn’t for Us“ online publiziert. Ausführlich legt sie dar, wie oft sie als Kurator*in of Colour in Besprechungszimmern Platz nahm, in denen alle anderen weiß waren, und was das für die Gespräche bedeutete. Sie schreibt darüber, wie schwer sich der britische Kulturbetrieb und die Feuilletons tun, ihnen nicht geläufige Ideen von Qualität und Ästhetik zuzulassen. Gerade die Diversitätsinitiativen, so eine von Desais Thesen, seien nicht viel mehr als Augenwischerei, etwas, womit sich Kultureinrichtungen schmücken, um progressiv zu wirken, ohne dass sich an realen Machtasymmetrien etwas ändern muss. Im April wurde Desai zur Programmchefin des Berwick Film & Media Arts Festival ernannt. Die nächsten Jahre werden zeigen, inwiefern eine Personalentscheidung dazu beiträgt, dass strukturelle Weichen anders gestellt werden.

Was die Rezeption von Filmen und die Liebe zum Kino angeht, so hat Girish Shambu vor zwei Jahren in der kalifornischen Zeitschrift Film Quarterly ein flammendes Manifest veröffentlicht, das die Sehgewohnheiten und Affekte vieler Cinephiler in Frage stellt. Der Text ist von den für seine Gattung so charakteristischen Verkürzungen geprägt, trotzdem trifft er einen Nerv. Shambu fordert eine neue Cinephilie, eine, die von ihrer Fixierung auf den auteur ablässt, die sich nicht nur mit dem, was auf Leinwänden und Bildschirmen zu sehen ist, beschäftigt, sondern auch mit dem, was jenseits davon liegt, und die ihren Genuss nicht nur aus Farbarrangements, Bildkompositionen und Montagestil bezieht, sondern auch aus einer tiefen Verbundenheit mit den sozialen Auf- und Umbrüchen, die die Gegenwart kennzeichnen.

„What we need now is a cinephilia that is fully in contact with its present global moment—that accompanies it, that moves and travels with it. No matter how ardent and passionate our love for this medium, the world is bigger and vastly more important than cinema.“

Positionen wie die Shambus und Desais zielen auf radikale, strukturelle Änderungen. Parallel dazu sind sich viele Unternehmen in der Unterhaltungsindustrie bewusst, dass es ökonomische Vorteile verschafft, wenn man mit der Zeit geht und sich der Heterogenität der Gesellschaft nicht verschließt. Diversität ist auch ein kommerzielles Argument. Indem zum Beispiel Netflix nigerianische Film- und Serienproduktionen ausstrahlt, „Dear White People“lanciert oder Omar Sys Starpotenzial ausschöpft, umwirbt es Schwarze Zuschauer*innen. Während die Plattform ihr Repertoire durch Zusatz diversifiziert und dieses Additionsprinzip zum narrativen und visuellen Gestaltungsprinzip für die Eigenproduktionen macht, üben sich andere, eher auf Klassiker ausgerichtete Streaming-Dienste in Einschränkung. Um Kund*innen nicht zu verprellen, suchen sie nach Möglichkeiten, Filme, die rassistische Inhalte transportieren, historisch-kritisch zu rahmen. HBO Max und GONE WITH THE WIND (USA, 1939) seien hier pars pro toto genannt. Wo Filme Identitätspolitik der alten Sorte betreiben, indem sie wie Victor Flemings Melodrama die Sklaverei in ein gutes Licht rücken oder wie D.W. Griffith’ BIRTH OF A NATION (USA 1915) den Ku-Klux-Klan idealisieren, soll dies durch die Zugabe von kritischem Material sichtbar werden. Solche Vorstöße rufen regelmäßig den Vorwurf hervor, die Zuschauer*innen würden gegängelt. Moralinsaure Didaktik verstelle den Blick auf die Kunst, und ständig werde übersehen, dass Kunstwerke eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, gegen die das Schwert der Ideologiekritik stumpf sei.

Ich habe dazu mehrere Nachfragen. Die erste ist:  Wer schaut von welcher Position aus? Wenn eine Zuschauerin ohne Rassismuserfahrung BIRTH OF A NATION guckt, kann sie sich im besten Fall aus großer Distanz heraus damit auseinandersetzen. Käme sie aus einer Familie, zu deren Geschichte ein Lynchmord gehört, fehlte ihr vielleicht der nötige Cool. Vielleicht, nicht notwendigerweise. Wichtig ist anzuerkennen, dass ein weniger privilegierter Erfahrungshintergrund die Rezeption beeinflussen, verschieben und verdüstern kann, und zwar auf Wegen, die nicht immer von der Sonne des Bewusstseins beschienen werden. Schließlich arbeitet das Kino mit Affekten und jenseits der Taghelle. Deswegen ergibt der Begriff der Retraumatisierung Sinn, selbst wenn viele im deutschsprachigen Feuilleton ihn nur mit spitzen Fingern anfassen, und deshalb ergibt es unter Umständen auch Sinn, Filme für eine gewisse Zeit nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Die zweite Frage ist, wie es kommt, dass weiße Cinephile nicht intensiver darüber nachdenken, warum sie sich so sehr für Filme in die Bresche werfen, die weiße Suprematie propagieren. Der Regisseur Charles Burnett fand schon vor vier Jahrzehnten klare Worte, als er Film als etwas, was Rassismus fortschreiben kann, analysierte:

„Ich habe eine Menge Filme voller Voreingenommenheiten gesehen. Die schwarzen Menschen und Völker sind auf der Leinwand sehr ungerecht behandelt worden. Was mich wirklich bestürzt gemacht hat, waren die amerikanischen Filme über den Krieg gegen die Japaner, in denen diese wie Wilde dargestellt wurden, das war entsetzlich. Und wenn man angeblich afrikanische Filme sieht, wird das Bild der Eingeborenen derartig verzerrt, daß man denken kann, sie seien keine Menschen. Man kann verstehen, welche Funktion diese Geschichten haben und warum man so dummes Zeug erzählen muß, warum man durch Film und Fernsehen die Ansicht verbreitet, daß eine ganze Kategorie von Menschen keine menschlichen Wesen seien. Eine Unmenge von Vorstellungen, Vorurteilen und Ungerechtigkeiten gehen auf Filme zurück.“

Angesichts der vielen unbewussten Prozesse, die bei der Rezeption von Filmen im Spiel sind, liegt die Frage nicht fern, ob der Genuss sich nicht trotz, sondern gerade wegen der Feier der Vorherrschaft einstellt. Und was dann? Reicht es dann, zu beteuern, dass man selbstverständlich kein Rassist, sondern nur am innovativen Einsatz von Kreisblenden interessiert sei?

Die dritte Frage betrifft das Verhältnis von gut ausgeleuchteten und blinden Flecken in der Filmgeschichte. Warum kennen so viele GONE WITH THE WIND und so wenige Burnetts KILLER OF SHEEP (USA 1978, 1981 im Berlinale Forum), Med Hondos SOLEIL Ô (Frankreich/ Mauretanien 1970, 1971 im Berlinale Forum), Ayşe Polats AUSLANDSTOURNEE (Deutschland 1999) oder Sema Poyraz’ und Sofoklis Adamidis’ GÖLGE (BRD 1980)? Warum ist der Kanon, ist die Vorstellung von Qualität und künstlerischem Wert so starr? Spätestens hier wird deutlich, dass die Diskriminierung, die die Gesellschaft heimsucht, auch in der Filmgeschichte wütet. Es geht hier nicht um etwas, was dem Kino äußerlich wäre, und auch nicht um die bloße Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, die einer Eigengesetzen gehorchenden künstlerischen Sphäre übergestülpt würde. Um es sehr klar zu formulieren:  Es geht um den Ausschluss von Filmemacher*innen of Coulour und damit um einen Verlust an ästhetischen Positionen und Potenzialen. Es geht um Verhinderung, um versandete oder gar nicht erst begonnene Karrieren, um nie verwirklichte Projekte, nirgends erzählte Geschichten, um die Abwesenheit komplexer und widersprüchlicher Figuren of Colour, kurz, um eine Cancel Culture, die so alt und so mächtig ist, dass sie zur zweiten Natur geworden ist.

Ähnlich wie im Fall des Düsseldorfer Schauspielhauses lohnt es sich, sich den prozesshaften Charakter in Erinnerung zu rufen. Was heute angemessen ist, kann morgen eine andere Gestalt haben. GONE WITH THE WIND benötigt 2021 eine historisch-kritische Rahmung. Vielleicht ist es 2031 anders, sobald mehr Filme, Museen, Bücher und Theaterinszenierungen ein weniger verzerrtes Bild der Sklaverei und des Widerstands dagegen verbreiten. Vielleicht können sich eines Tages alle ohne Retraumatisierung BIRTH OF A NATION ansehen, nämlich dann, wenn mit der weißen Vorherrschaft wirklich Schluss ist und Afroamerikaner*innen keine Angst mehr haben müssen, beim Zigarettenkaufen ihr Leben zu verlieren. Für die Zwischenzeit empfehle ich Jordan Peeles GET OUT (USA 2017), einen Spielfilm, der die Kontinuität der Antebellum-Sehnsucht unter weißen Amerikaner*innen in all ihrer Gruseligkeit erfasst. Was zur vierten und vorerst letzten Frage führt: Warum gibt es nicht viel mehr Filme wie GET OUT, MOONLIGHT (USA 2016, Barry Jenkins) oder BAMBOOZLED (USA 2000, Spike Lee)? Warum erfährt man im gehobenen Arthouse-Kino so wenig über die Komplexitäten afroamerikanischer Erfahrungswelten?

Auch in Deutschland ist die Diskussion in die Gänge gekommen. Dass Filmfestivals Panels wie „Storytelling beyond Stereotypes“ anbieten, ist recht neu. Auf der Website www.nichtmeintatort.de finden sich Blogeinträge, die die Figurenzeichnung und der Besetzungspolitik der Krimi-Reihe unter die Lupe nehmen. Eine andere Initiative, Vielfalt im Film, hat bei einer Online-Befragung Daten zum Thema Diskriminierung gesammelt. In Berlin geben die Film- und Diskursprogramme des SİNEMA TRANSTOPIA Einblick in die Ästhetiken eines transnationalen, postmigrantischen Kinos. Mit Girish Shambus Manifest hat sich der Filmkritiker Till Kadritzke beschäftigt und daraus eine Essayserie entwickelt, die die Berührungsfläche von Identitätspolitik und Kino erkundet. Er bringt die Ansprüche, die jene an dieses hat, zur Sprache und blendet dabei das Konflikthafte der Berührung nicht aus:

„So unbefriedigend es jedoch ist, Filme nach gelungener politischer Anklage einfach ins Gefängnis zu sperren, so unzureichend ist eine Reaktion, die sich damit begnügt, im Dickicht der beschuldigten Werke subversive Blümchen zu pflücken und zu einem Kautionsstrauß zusammenzubinden. Diese Geste, die ich cinephilen Freispruch nenne, versucht, jeglichen Versuch der Politisierung – ob in Bezug auf narrative Dynamiken, ästhetische Entscheidungen oder Produktions- und Rezeptionsbedingungen – als unzulässigen Übergriff abzuwehren.“

Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein hat im vergangenen Jahr mehrere Diversitäts-Checklisten lanciert, damit Regisseure und Drehbuchautorinnen reflektiert mit Plots und Figurenzeichnungen umgehen. Diese Listen sind nicht verpflichtend, sondern als Hilfestellung gedacht. Wer die Fragen verneint, riskiert nicht, auf Förderung zu verzichten.

Die Empörung war trotzdem groß. Viele Kommentator*innen fürchteten um die Autonomie der Kunst und sahen mit Entsetzen einen weiteren Beleg dafür, dass bürokratisches Denken die Filmförderung lähme. Wenn die Förderinstanz die Initiative mit den Metaphern der Buntheit begleitet, so ist dies abgegriffen und birgt die Gefahr des tokenism. Zugleich spricht nichts dagegen, Filmemacher*innen dazu zu bringen, darüber nachzudenken, wie sie Rollen konzipieren. Die Unausweichlichkeit, mit der ein Drehbuch eine kongolesische Figur in den Diamantenhandel involviert, reibt sich an einer Realität, in der eine kongolesische Figur Kunsthistorikerin oder Kurator der Lubumbashi-Biennale sein könnte. Statt die Vorstellungskraft einzuengen, geht es darum, ihr auf die Sprünge zu helfen.

Zum Abschluss dieses Parcours’ möchte ich die Autonomie der Kunst in den Blick nehmen, die gerade im deutschsprachigen Diskurs über Kino und Diversität so oft hervorgehoben wird, ganz so, als bedrohe das Nachdenken darüber, wie gesellschaftliche Verhältnisse in künstlerischen Produktionen Raum beanspruchen und wie die künstlerischen Produktionen wiederum in gesellschaftliche Verhältnisse hineinwirken, die Autonomie. Diese ist kein gleichbleibender, unveränderbarer Wert, sondern hat ihre eigene Zeitlichkeit und ihre eigene Dialektik. Wolfgang Ullrich beschreibt das in seinem klugen Essay „Feindbild werden“ allgemein am Beispiel von Verschiebungen in der bildenden Kunst und konkret mit Blick auf Neo Rauch. Der Leipziger Maler wollte es sich nicht bieten lassen, von Ullrich wegen politischer Äußerungen kritisiert zu werden, und malte daraufhin ein Bild namens „Der Anbräuner“, mit dem er Ullrich konkret und die Figur des Kritikers insgesamt verunglimpft. Laut Ullrich geschieht hier ein Transfer: Dass die Kunst eine eigene, von alltäglichen Maßstäben losgelöste Sphäre bewohnt, werde von Rauch auf die Künstlerpersönlichkeit ausgedehnt. So wenig man der Kunst mit den Regeln des Alltags beikomme, so wenig sei die Künstlerpersönlichkeit diesen Regeln unterworfen, und deswegen könne eine Kritik wie die Ullrichs nur in die Irre gehen. Was dann bleibe, so Ullrich, sei aber nur noch eine Schwundstufe von Autonomie:

„Denn statt zu überlegen, welchen Beitrag die Kunst für die Gesellschaft leisten könnte, protestiert der Künstler nur dagegen, wie er behandelt wird. Damit aber kann der Eindruck entstehen, es gehe ihm tatsächlich vor allem darum, seine Sonderstellung und damit letztlich seine Privilegien aus Zeiten religiöser Kunstverehrung durch einen Akt obszönen Widerstands zu verteidigen. Noch viel mehr als bei ihren Kritikern hat die Idee autonomer Kunst damit aber bei ihm jegliches utopisches Potenzial eingebüßt. Aus Selbstbestimmung ist bloße Selbstbehauptung und Besitzstandswahrung geworden, und statt darauf zu hoffen, seine Kunst könne Neues und Unerwartetes schaffen, bezieht der Künstler Position gegenüber echten oder eingebildeten Feinden.“

Selbstbehauptung, Besitzstandswahrung, die Verwechslung von Autonomie mit Kunstreligion, die Konstruktion von Feindbildern, die Vorstellung des Regisseurs als einer Ausnahmeerscheinung, die sich an die Regeln des menschlichen Miteinanders nicht zu halten hat: All das trifft auch auf die Abwehrreaktionen zu, die das Kino und die Filmkultur vor den Ansprüchen der Gegenwart retten wollen. Dabei birgt es eine besondere Ironie, dass das Bedürfnis, am Bekannten festzuhalten, einem Medium gilt, das ohne Bewegung und ohne Entfaltung in der Zeit überhaupt nicht zu denken wäre. Noch einmal Ullrich: Wer heute die Autonomie als unbedingt zu schützendes Gut hervorhebe, erhoffe sich damit keine Dynamik, „die die Gesellschaft in eine offene Zukunft führt“; stattdessen „wird sie als eine Kraft verstanden, die vor fremden, vermeintlich gefährlichen Einflüssen schützen und Neues assimilieren, an die Tradition rückbinden soll. Sie wird zu einer reaktionären Instanz“.

Mir ist der Weg ins Offene lieber.

Cristina Nord leitet seit August 2019 das Berlinale Forum.

Zurück zur Übersicht

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur