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Deutschland, 1992: In Rostock-Lichtenhagen versuchen rechtsextreme Gruppierungen, Wohnheime in Brand zu stecken, in denen Asylsuchende und vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen leben; die Polizei sieht untätig zu, umstehende Bürger*innen jubeln. In Mölln, einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, werden im selben Jahr Brandanschläge auf zwei Häuser verübt, in denen deutsch-türkische Familien wohnen. Frankfurt, 1994: Der Nigerianer Kola Bankole wird während seiner Abschiebung gefesselt, und ihm wird ein Mundknebel angelegt; er stirbt in der Folge an Herzversagen. Eberswalde, 1990: Amadeu Antonio Kiowa, ein angolanischer Vertragsarbeiter, wird von Neonazis ermordet.

Zwei der Filme im Zusatzprogramm „Fiktionsbescheinigung“ sind 1992 entstanden: BRUDERLAND IST ABGEBRANNT und BLACK IN THE WESTERN WORLD. Entstanden sind diese Filme im Kontext der eingangs genannten Vorfälle und zahlloser weiterer Beispiele für die strukturellen Ungerechtigkeiten, die Deutschland für rassifizierte Menschen zu einem feindseligen Umfeld machen. In ihrem Film BLACK IN THE WESTERN WORLD legt Wanjuri Kinyanjui die rassistischen Zustände bloß, in denen sich Schwarze Menschen nach der Wende entfalten und überleben müssen. Anhand inszenierter Szenen und Gesprächen mit Natalie Asfaha von der Initiative für Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), der Filmhochschulkommilitonin Tsitsi Dangarembga und einer Reihe von anderen Menschen, setzt sich der Dokumentarfilm mit der Erfahrung struktureller Diskriminierung und jenen persönlichen Angriffen auseinander, denen junge Schwarze Menschen ausgesetzt sind, die in Deutschland zur Welt gekommen sind oder erst seit kurzem hier leben. In BRUDERLAND IST ABGEBRANNT spricht Angelika Nguyen mit vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen. Der Film zeigt einerseits Arbeiter*innen kurz vor der erzwungenen Rückkehr nach Vietnam, an ihrem letzten Tag in Deutschland, und andererseits jene Arbeiter*innen, die in Deutschland geblieben sind und um die Sicherheit ihrer Familien fürchten müssen.

Ömer Alkın hat über die Diversität historischer Perspektiven geschrieben, die das sogenannte „Betroffenheitskino“ sichtbar macht. „Betroffenheitskino“ ist ein Begriff, der häufig in abwertender Weise und im Zusammenhang mit Filmen über oder von People of Colour verwendet wird. Robert Burns hat ihn mit „cinema of the affected“ ins Englische übersetzt und Filme dieser Art mit dem von Franco Biondi und Rafik Schami verfassten Essay „Literatur der Betroffenen“ (1981) in Verbindung gebracht. Die beiden Autoren setzen sich darin mit der aufkommenden „Gastarbeiterliteratur“ deutsch-türkischer Autor*innen auseinander. Burns schreibt, das „Betroffenheitskino“ nähere sich „ethnischen Beziehungen auf sozialpädagogische Weise“. Der Begriff steht darüber hinaus in Zusammenhang mit einer Aussage von Cameron Bailey (Leiter des Toronto International Film Festival and Initiator der wegweisenden „Planet Africa“-Sektion) über den filmischen Ansatz der Schwarzen kanadischen Filmemacherin Jennifer Hodge De Silva, die „Kenner und Nicht-Kenner gleichermaßen“ anspreche und an „ein gesundes Ungerechtigkeitsempfinden“ appelliere.

Dem „Betroffenheitskino“ wird häufig attestiert, es ziele darauf ab, dem weißen Zentrum Opfererfahrungen nahezubringen. Ich würde argumentieren, dass es diesen Filmen nicht nur um Sichtbarkeit und Veranschaulichung geht, sondern um die Präsentation einer zur Unterstützung konkreter Forderungen nötigen Evidenz. Sicher sind sie auch von didaktischer Relevanz, aber BRUDERLAND IST ABGEBRANNT und BLACK IN THE WESTERN WORLDgehen weit darüber hinaus. Die Filme leisten Dienst am Affekt, rufen zu den Waffen, fordern Wiedergutmachung/Entschädigung/Ausgleich (reparations) ein, und das ist auch der Grund, weswegen es so unangenehm ist, sich diese Filme anzusehen.

Ich habe bereits an anderer Stelle über Film als Zeugnis affektiver Schuld gesprochen.  Der Begriff der affektiven Schuld bezeichnet die Summe jener Gefühle, die für Praktiken des Vorurteils geschuldet werden. Affektive Schulden sind die Folge einer „Fehlinvestition weißer Vorherrschaft“. Nicht nur bleiben jene Talente und Innovationen ungenutzt, die Diversität mit sich bringt, darüber hinaus halten jene Strukturen, die Schwarze Menschen historisch diskriminiert haben, ganze Gefühlsarchive zurück.  Die geschuldeten Gefühle gehen weit über Gefühle des Mitleids hinaus. Es geht nicht darum, dass einem die Protagonist*innen dieser Dokumentarfilme leidtun sollen – Mitleid würde lediglich zu noch mehr weißen Tränen führen, und davor hat uns Robin Diangelo bereits gewarnt.  Die Filme verlangen nach Affekten, die Anerkennung auslösen und Entscheidungen, denen der Wunsch zu Grunde liegt, Strukturen des Unrechts zu beseitigen. In ihrem Buch Why We Matter skizziert Emilia Roig, die Leiterin des Centre of Intersectional Justice in Berlin, den grundlegenden Unterschied zwischen Mitleid und Empathie und inwiefern dieser mit medial vermittelten Bildern rassifizierter Menschen zusammenhängt. Sie schreibt über die „Empathielücke“, die durch Weißsein aufrechterhalten wird, und zitiert eine Studie der Filmwissenschaftlerin Ann Everett, der zufolge weiße Menschen nicht bemerken, wenn es in einem Film keine rassifizierten Figuren gibt und Filme meiden, in denen keine weißen Figuren auftreten.  Laut Roig gibt es kein Dazwischen – entweder man will institutionellen Wandel herbeiführen und arbeitet darauf hin oder man steht ihm im Weg. Sympathie erhält eine Distanz. Empathie ist ein Gefühl, das von innen kommt. Empathisch zu sein, bedeutet zu verstehen, dass sich diskriminierende Strukturen auch auf nicht-rassifizierte Menschen auswirken. Empathisch zu sein, bedeutet zu wissen, dass es unmöglich ist, Hautfarbe „nicht zu sehen“, dass es kein „Außerhalb“ von race, keinen Raum jenseits dieser Kategorie, keinen post-racial playground gibt.   

Toni Morrison hat in einem Vortrag, den sie 1975 an der Portland State University hielt, darüber gesprochen, wie mangelnde Empathie den Kapitalismus befeuert.  Morrison zitiert in diesem Zusammenhang aus den General Orders des US-amerikanischen Generals und späteren Präsidenten Ulysses S. Grant und den Briefen von Theodor Roosevelt, aus denen jene Gesetzgebungen hervorgehen sollten, auf deren Grundlage die unmenschliche Behandlung Schwarzer und jüdischer Menschen in den USA möglich war. Anschließend las sie ein Verzeichnis von Peitsch- und Prügelstrafen aus dem Tagebuch von William Byrd vor, einem Sklavenhalter des 18. Jahrhunderts. Die Texte bringen eine kapitalistische Diskriminierungslogik zum Ausdruck – den Versuch, Menschen von ihrer Unterlegenheit zu überzeugen, um sie auszubeuten. Rassismus, so Morrison, ist Ablenkung („racism is distraction“).  Sie warnt davor, Zeit zu verschwenden, indem man den Unverbesserlichen das Einmaleins des Rassismus auseinanderzusetzen versucht. Wenn Weißsein an kinderleichter Critical Race Theory scheitert, sei das so gewollt. Anschließend spricht Morrison eine Warnung aus und macht ein Gesprächsangebot:

„Verschwenden Sie nicht Ihre Energie, indem Sie das Fieber bekämpfen; bekämpfen Sie ausschließlich die Krankheit. Die Krankheit heißt aber nicht Rassismus. Die Krankheit heißt Gier und Machterhalt. Sehen Sie sich unbedingt vor. Es gibt ein tödliches Gefängnis: das Gefängnis, das Sie errichten, wenn Sie Ihr ganzes Leben damit zubringen, Phantome zu bekämpfen, sich auf Trugbilder zu konzentrieren, dem Eroberer wieder und wieder Ihre Art zu leben, ihre Geschichte, ihre Gewohnheiten zu erklären. Sprechen Sie zu mir – und sprechen Sie geradeheraus.“ (You can go ahead and talk straight to me.)"

Wenn Künstler*innen „geradeheraus“ zu Toni Morrison sprechen, dann auf der Grundlage gemeinsamen Wissens. Die Frage, ob sich ein Werk verkauft oder ob es jemandem zu nahe treten könnte, spielt keine Rolle. Morrison betont, Künstler*innen seien am besten dazu geeignet, über Rassismus zu sprechen, weil sie sich „für die Namen der Menschen“ interessieren, „nicht nur dafür, wie viele von ihnen angekommen sind“.  Diese Spezifik des Erzählens gerät aus dem Blick, wenn Filme, die sich Fragen der Ungleichheit widmen, lediglich als Dokumente und nicht als künstlerische Arbeiten betrachtet werden. Filme, die affektive Wiedergutmachung/Entschädigung fordern, als „Filme über Rassismus“ zu etikettieren, ist insofern problematisch als sie dann ausschließlich als solche diskutiert werden. Ein tiefergehendes Gespräch über die ästhetische, textuelle und formale Schönheit und Kunstfertigkeit dieser Filme wird auf diese Weise verhindert.    

Sowohl in BRUDERLAND IST ABGEBRANNT als auch in BLACK IN THE WESTERN WORLD werden die Erfahrungsberichte immer wieder von ungewöhnlichen Szenen unterbrochen, für die besondere formale Mittel zum Einsatz kommen. Isaac Julien betont, Künstler*innen müssten neue Techniken der Darstellung entwickeln, um eine Ästhetik der Ausgleichs („aesthetic of reparation“ ) hervorzubringen. Nguyens und Kinyanjuis Ästhetiken stellen affektive Formen der Erinnerung dar. Durch ihre sowohl auf die Vergangenheit als auch die Zukunft verweisenden Erzählformen zeichnen die Filme ihre Protagonist*innen nicht ausschließlich als Opfer ihrer Gegenwart. Die verschiedenen wiederkehrenden Bildmotive, die sich durch BLACK IN THE WESTERN WORLD ziehen, bilden ein subtiles Gegennarrativ zur leidvollen Geschichte ihrer afrikanischen und europäischen Protagonist*innen. Dazu gehören etwa – vor einem neutralen Hintergrund und ohne Kommentar – Bücher über die Geschichte sowie die Kulturen und Zivilisationen Afrikas. Alle diese Bilder sind emblematisch und ikonisch. Man könnte sich vorstellen, dass sie die Stichwortgeber für die Entstehung der 2012 gegründeten Bibliothek für afrodiasporische Literatur des Each One Teach One e.V. (EOTO) gewesen sind. Tatsächlich befindet sich der Verein in Wedding, jenem Berliner Stadtteil, in dem Kinyanjui die Darstellungen rassistischer Gewalt, mit denen Black in the Western World beginnt, inszeniert hat. Die Wurzeln des Empowerment-Projekts EOTO reichen in die frühen neunziger Jahre zurück, als eine Frau namens Vera Heyer davon träumte, ihre Privatbibliothek öffentlich zugänglich zu machen.  Sogar der Ordner, in dem aus Zeitschriften ausgeschnittene xenophobe Filmbilder versammelt sind, lässt an das aktuelle Community-Projekt Sankofa BRD / Sankofa DDR denken. Die Bücher in Kinyanjuis Film verweisen folglich auf andere, von tradierten Schwarzen Autor*innen hervorgebrachte Epistemologien. 

Nguyens Dokumentarfilm BRUDERLAND IST ABGEBRANNT verbindet klassische, in persönlichen Räumen aufgenommene Interviews mit Videosequenzen im Stil des Cinéma Vérité, die vietnamesische Vertragsarbeiter*innen kurz vor ihrem endgültigen Abflug auf dem Schönefelder Flughafen zeigen. Die Bilder dieser brüsk abgefertigten Rückkehr werden durch die flüssige Kameraführung und die souveränen Handkameraeinstellungen unvergesslich. Es ist, als würde die Kamera einen Moment der Stille in Nachwendedeutschland belauschen. Der Flughafen wird zur Erweiterung des Staatsapparats. Die zusammenklappbaren Tische lassen aus der Abflughalle einen neuen Raum entstehen, Bank und Einwanderungsbehörde in einem. Die Arbeiter*innen bekommen ihre Reisepässe zurück und eine Abfindung ausgezahlt. Der filmisch unaufgeregte Umgang mit diesen Szenen verleiht der sensiblen Beobachtung zusätzlich Würde und respektvolle Distanz. In einem Gespräch mit Polly Yim hat Nguyen gesagt, sie habe von der „paternalistischen“ Haltung wegkommen wollen, mit der die Geschichten von Migrant*innen erzählt werden.  Die einfühlsame Kameraführung verhindert, dass die Protagonist*innen zum Gegenstand eindimensionaler Viktimisierung und stattdessen zum Mittelpunkt einer komplexen und mutigen Erzählung werden.

Das Jahr, in dem BRUDERLAND IST ABGEBRANNT entstanden ist, war auch das Jahr, in dem KEVIN – ALLEIN IN NEW YORK, die deutsche Synchronfassung von HOME ALONE 2: LOST IN NEW YORK, in die deutschen Kinos kam. Darin äußern Kevin und seine Geschwister Pejorativa und rassistische Beleidigungen, die in der Originalversion undenkbar gewesen wären. Die deutsche Schauspielerin Thelma Buabeng (Tell Me Nothing From The Horse) hat die deutsche und die englische Version des Familienfilms im Jahr 2020 per Split-Screen auf ihrer Facebook-Seite miteinander verglichen. Die problematischen Begriffe waren in der Originalversion nicht vorhanden. Netflix reagierte und sagte zu, die deutsche Version bis Weihnachten 2021 entsprechend zu ändern. Buabeng betont, es sei nicht ihre Aufgabe, auf rassistische Inhalte in synchronisierten Filmen hinzuweisen. („Ich bin nicht die Synchron-Polizei.“) Sie weist diese Erwartung als eine Form der Ablenkung von sich; es liege nicht in ihrer Verantwortung, unangemessenes Verhalten anzuprangern. Rassismus wird zur Ablenkung, wenn er zur Attraktion wird, und zur Attraktion wird er, wenn man das Sprechen über das Problem als abschließende Lösung präsentiert. Voreingenommene Strukturen wollen uns zu Schablonen machen und in Schubladen stecken, wir sollen uns weiter damit beschäftigen, den voreingenommenen Strukturen zu erzählen, was sie längst wissen.

BRUDERLAND IST ABGEBRANNT, BLACK IN THE WESTERN WORLD und die anderen Filme des Zusatzprogramms „Fiktionsbescheinigung“ wollen mehr bewirken als Applaus, Tränen und anerkennendes Schulterklopfen für jene, die sie aus den Archiven und ins Programm geholt haben. Die Filme legen sowohl Zeugnis darüber ab, was es bedeutet, Vorurteile erfahren zu haben, als auch darüber, wie innovativ und stark die Schwarzen und PoC-Künstler*innen und -Filmemacher*innen waren und sind, auf die diese Filme zurückgehen. Sie zeigen nicht einfach nur, sondern bezeugen die affektiven Schulden, die durch strukturelle und interpersonelle Diskriminierung entstanden sind. Sie fordern Gefühle ein, die schnelle, angemessene und sensible Maßnahmen befördern, durch die institutionelle Hürden behoben werden, die PoC prekarisieren, benachteiligen und uns durch Chancenlosigkeit nicht nur davon abhalten, Filme zu machen, sondern auch davon, uns anderweitig einzubringen. Die Filme, die eine Ästhetik des Ausgleichs, der Entschädigung innerhalb des deutschen Kinos widerspiegeln, tun dies auf bewundernswerte Art und Weise. Filme über anti-Schwarzen Rassismus und Fanatismus sind Belege für die affektiven Schulden, die sich angehäuft haben. Darüber hinaus sind sie Zeugnisse einer affektiv geleisteten Arbeit und einer außerordentlichen Beharrlichkeit im Angesicht der Verächtlichkeit. Und trotzdem haben wir diese Filme nicht kuratiert, um das Publikum darüber zu belehren, was die deutsche Gesellschaft bereits weiß und schuldig ist. Wir hatten keine didaktischen Hintergedanken.

Wir haben die Filme kuratiert, damit sie zu uns sprechen – geradeheraus.

Aus dem Englischen von Gregor Runge

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