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Ich habe den Schatten meines Bruders aus dem Fluss der Toten gezogen. Und dennoch frage ich mich: wessen Schatten? wessen Bruder? wessen Fremden?
[…]
Ist es die Anatomie des Abgrunds, den ich in mir erblicke, in ihm und den namenlosen Anderen, die man gebiert, die einen gebären, hinein in die Elternschaft des Seins? Habe ich ein räumliches Wesen geboren, das imstande ist, vertraute/unvertraute Erscheinungen auf sich zu nehmen? Gehört zur Bürde der Kunst die Konfrontation mit dem endgültigen Ende der Angst?

Wilson Harris: The Four Banks of the River of Space (1990)

Mein Bruder ist dreizehn Jahre älter als ich und war für mich immer ziemlich schwer zu fassen. Ich erinnere mich daran, wie er zu uns nach Hause kam und gegenüber von meinem Zimmer im Gästezimmer schlief. Ich öffnete leise die Tür, spähte hinein und staunte darüber, wie groß seine Schuhe waren. Für mich war er ein großer Fremder, ein grüblerischer Riese mit dunklen Augen, die von einem dunklen Pony verschattet waren. Seine Herkunft entzog sich mir. Er ließ sich sporadisch bei uns blicken.

Später, als ich älter war, besuchte ich ihn mit meiner Mutter im Gefängnis. Wir umarmten uns, unterhielten uns, und um so etwas wie Gemütlichkeit aufkommen zu lassen, tranken wir Tee, aßen Schinken-Ei-Sandwiches, Schokoriegel und andere Süßigkeiten. Ich bewunderte seine Tattoos, seine neuen Turnschuhe und Goldzähne. Er erzählte uns, dass er für seine Gefängnisfreunde kochte: Curry, in einem Wasserkessel. Ich weiß noch, wie stolz ich war, der kleine Bruder dieses Mannes zu sein, und trotzdem war ich immer schrecklich traurig, wenn wir das Besucherzentrum wieder verließen. Es war tragisch, sich verabschieden zu müssen, wieder hinauszutreten ins graue Tageslicht eines Parkplatzes irgendwo in Norfolk, und den eigenen Bruder, der jetzt wieder in seine Zelle musste, zurückzulassen.

Neunmal war mein Bruder in Haft. Ich habe ihn des Öfteren besucht, aber sicher nicht oft genug. Das ist traurig, und trotzdem hoffe ich, dass ich dieses Versäumnis nicht durch weitere Besuche wiedergutmachen muss. Denn im Idealfall kommt mein Bruder für den Rest seines Lebens nie wieder ins Gefängnis. Andererseits, woher will man das so genau wissen? Niemand entscheidet sich einfach dafür, nicht wieder ins Gefängnis zu müssen. Menschen werden rückfällig, aus verschiedenen Gründen.

Institutionelles Versagen auf allen Ebenen

Die Gründe im Fall meines Bruders sind komplex und traumatisch bedingt, und eingesperrt zu sein macht alles nur schlimmer. Das Gefängnissystem begünstigt den Konsum von Drogen, ignoriert die psychischen Probleme der Inhaftierten und zerstört jegliche Hoffnung auf Resozialisierung. Jedes Mal, wenn ich bei meinem Bruder war, konnte ich sehen und hören, wie es im Gefängnis zuging, wurde ich daran erinnert, dass nicht er allein die Verantwortung trug, sondern dass sein Leben die Folge eines institutionellen Versagens auf allen Ebenen war – ein Versagen des Gefängnissystems, der Bewährungshilfe, des Gesundheitswesens, der Sozialbehörden und der Polizei.

Nach meinem letzten Besuch im Jahr 2019, kurz bevor mein Bruder auf Bewährung entlassen wurde, saß ich auf dem Beifahrersitz neben meiner Mutter und fragte mich, ob die erste „Institution“, die ihn im Stich gelassen hatte, vielleicht unsere Familie gewesen war. Mein Bruder und ich kommen zwar aus derselben Familie, aber wir haben sie sehr unterschiedlich erlebt. Er hat nicht denselben Vater wie ich. Sein Vater kam aus dem Ausland und sprach eine andere Sprache, die nicht unsere Sprache war. Vielleicht war er deshalb schon immer an den Rand unserer Familie gedrängt – und ob meine Familie mir darin nun zustimmt oder nicht, irgendwann war es auf jeden Fall, und die emotionale und kulturelle Distanz zwischen uns wurde über die Jahre immer größer.

Als Heranwachsender hatte ich das Gefühl, dass englische Mittelschichtsfamilien etwas Brutales an sich hatten, in der Art und Weise, wie in ihr bestimmte Ideale und Erwartungen vorausgesetzt wurden. Das familiäre „Wir“, das sich in ihnen konstituiert, erlaubt und akzeptiert keine Abweichung: „Wir sagen sofa, nicht settee“, „Wir essen supper, nicht tea.“ Die englische Mittelschicht ist wie besessen davon, sich von der Arbeiterklasse und der Upper Class abzugrenzen. Völlig banale Dinge dienen der Grenzziehung: ob man sich Milch vor oder nach dem Einschenken des Tees in die Tasse gießt, wie man bestimmte Wörter betont und Dinge bezeichnet, welche Zeitung man liest, wie man es mit der Grammatik hält, was man in welchem Pub trinkt, ob man bei Asda oder Waitrose einkaufen geht, ob man Fußball, Rugby oder Cricket mag.

Aber was, wenn einem all diese Dinge mit allem, was dazugehört, überhaupt nichts bedeuten? Das Ganze ist so absurd, dass man darüber lachen könnte, aber ich bin überzeugt davon, dass sich hinter diesen Dingen sehr tief in der englischen Gesellschaft verwurzelte Gefühle der Abscheu und der Angst vor Differenz verbergen, so als bestünde die einzige Möglichkeit, sich seiner Existenz zu vergewissern, darin, die Art und Weise, wie andere Menschen anders leben, zu negieren.

Der Nicht-Akzent der Mittelschicht

In England herrscht der weitverbreitete Glaube, dass sich Klassenzugehörigkeit am Akzent oder – im Fall der Mittelschicht – am Fehlen eines Akzents ablesen lässt. Das Englisch der Mittelschicht, das ich spreche, klingt unauffällig und „neutral“, man kann mich damit nicht geographisch verorten (nur vage, irgendwo im Süden Englands). Es ist diese Unbestimmtheit, die der Mittelschicht in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft größere Privilegien und mehr Repräsentation verschafft. Das geht so weit, dass manche Akzente, die sich konkret verorten lassen, mit geringer Bildung und geringem sozialen Ansehen assoziiert werden.

Es handelt sich hierbei, glaube ich, um einen typisch englischen Snobismus, der eine Form der Unterdrückung durch die herrschenden Klassen darstellt, weil er der kapitalistischen Notwendigkeit folgt, Differenz als etwas Negatives zu konstruieren, und somit das Potenzial für intersektionale Solidarität untergräbt.

Einer der offensichtlichen Unterschiede zwischen mir und meinem Bruder ist die Art und Weise, wie wir sprechen, ich mit dem „Nicht-Akzent“ der Mittelschicht und er mit einem starken Norwich-Akzent. Als mein Bruder elf war, sind unsere Eltern nach Norwich gezogen, geboren und groß geworden ist er aber zwischen North London und Malaga, ich dagegen ausschließlich in Norwich.

Wir sind auf dieselbe staatliche Schule gegangen. Sie lag auf der Grenze zwischen zwei Bezirken; auf der einen Seite lebte die wohlhabende Mittelschicht, auf der anderen die verarmte Arbeiterschaft. Laut meinen Eltern hat sich mein Bruder in dem Moment zu verändern angefangen, als er auf diese Schule kam. Offenbar hat sein Kontakt zu Mitschüler*innen aus anderen sozialen Zusammenhängen dazu geführt, dass er bestimmte Eigenschaften der Arbeiterklasse anzunehmen und die Merkmale seiner Herkunftsklasse hinter sich zu lassen begann.

Nach und nach wurde mein Bruder ein „zwielichtiger Typ“, immer tiefer verschwand er im Schatten unserer Familie, und wir waren nicht aufmerksam genug, um zu verstehen, dass es unsere Familie selbst war, die den dunkelsten Schatten warf. Ich bin überzeugt davon, dass die „Abwärtsmobilität“ meines Bruders von meiner Familie als Betrug an den Idealen der Mittelschicht angesehen wurde – als wäre er ein Klassenverräter. Dabei war es umgekehrt: Wir, seine Familie, waren die Betrüger und Verräter; wir haben versagt und meinen Bruder im Stich gelassen.

Wir brauchen wirkliche Solidarität

Was unserer Familie fehlte, war eine Form der Solidarität, wie sie (zum Beispiel) auch die Post-Brexit-Gesellschaft dringend nötig hätte, eine Solidarität, die im Widerstand gegen die Unterdrückung durch die herrschenden Klassen nach wirklicher Einheit strebt, eine Solidarität, für die stereotype Klassenmerkmale keine Rolle spielen. Ich will nicht zu sehr vereinfachen und behaupten, dass mein Bruder und ich unter den gleichen sozioökonomischen Bedingungen leben, und doch würde ich sagen, dass wir, um essen und wohnen zu können, unsere Arbeitskraft verkaufen müssen, dass wir beide keine Immobilien und kein Familienvermögen besitzen – und folglich gehören wir ein- und derselben prekarisierten, von den Herrschaftsklassen ausgebeuteten Gesellschaftsschicht an.

Solidarität setzt nicht voraus, dass wir einander in allem gleich sein müssen, aber sie könnte uns darin bestärken, Erfahrungen und Interessen, die wir miteinander teilen, als Fundament für unsere Zusammengehörigkeit zu begreifen. Natürlich erlebe ich die Gewalt struktureller Armut anders als mein Bruder, und wenn ich (als weißer, männlicher, der Mittelschicht angehöriger Künstler mit Universitätsabschluss) meinen besseren Zugang zu Ressourcen nicht dafür nutze, mich bedingungslos um meinen Bruder zu kümmern und ihn einzubeziehen, mache ich mich in letzter Konsequenz zum Komplizen des Systems, das ihn eingesperrt hat.

Wie kann ich mich alldem verweigern? Vielleicht, indem ich damit anfange, meine künstlerische Arbeit und den spezifischen Produktionskontext, in dem sie stattfindet, neu zu denken. Zum Beispiel, indem ich mich in der künstlerischen Community bedingungslos solidarisch zeige und Kolleg*innen unterstütze – indem ich also Menschen den Rücken stärke und freihalte, anstatt ihnen in den Rücken zu fallen.

Der Mangel an Solidarität unter Künstler*innen folgt aus der bedauerlichen Tatsache, dass wir vom Wettbewerbsgeist des Kapitalismus vergiftet sind. Wir müssen dieses Gift aus unseren Körpern bekommen. Darüber hinaus ist es wichtig, sich klar zu positionieren, was die Unterstützung und Finanzierung durch Institutionen, Konzerne, Regierungen und gelegentlich auch milliardenschwere „Wohltäter“ angeht, die Steuerzahlungen vermeiden wollen. Wir dürfen die Komplizenschaft zwischen Kunst und struktureller Armut nicht ignorieren, hinnehmen oder durch unsere Arbeit begünstigen.

Ich will mich allen Praktiken, die Menschen ausschließen und an den Rand drängen, verweigern, und deswegen würde ich dem guyanischen Schriftsteller Wilson Harris (1921-2018) auch zustimmen: Ja, zur „Bürde der Kunst“ gehört tatsächlich das „endgültige Ende der Angst“.  Vielleicht müssen wir die Angst verlieren, nicht gesehen zu werden, bedeutungslos zu sein in den Augen der Mächtigen. Sie zu verlieren, könnte uns den Weg zu einer kulturübergreifenden Vorstellungskraft freimachen, die uns zu verstehen hilft, wann und wie wir dieses System nicht mehr am Laufen halten und unsere Arbeitsmethoden ändern sollten.

Louis Henderson ist ein Filmemacher und Autor, der damit experimentiert, wie man mit Menschen zusammenarbeiten kann, um rassistischen Kapitalismus und die allgegenwärtige Geschichte des europäischen Kolonialprojekts zu thematisieren und zu hinterfragen. Seit 2017 arbeitet Henderson innerhalb der Künstlergruppe The Living and the Dead Ensemble. Angesiedelt zwischen Haiti und Frankreich, konzentrieren sie sich auf Theater, Gesang, Slam, Poesie und Kino. Ihr erster Spielfilm OUVERTURES wurde von der FIPRESCI-Jury im Berlinale Forum 2020 mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet. Seine Arbeiten wurden auf verschiedenen internationalen Filmfestivals, in Kunstmuseen und auf Biennalen gezeigt und werden von LUX und Video Data Bank vertrieben. Er lebt und arbeitet in Paris.

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