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Bert Rebhandl: Hallo allerseits. Ich würde gerne damit beginnen, kurz die Teilnehmer:innen vorzustellen: Aus Kalifornien Nina Menkes, Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin. Sie ist mit ihrem neuen Film BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER im Programm der 72. Berlinale vertreten, in der Panorama-Sektion. Aus Wien Djamila Grandits, sie ist Filmkuratorin und Programmberaterin bei verschiedenen Filmfestivals. Heute ist sie aus Dakar im Senegal zugeschaltet. Aus Buffalo, New York, USA haben wir Girish Shambu, er ist Filmkritiker, Blogger und unterrichtet auch. Und schließlich aus Deutschland Christoph Hochhäusler, Filmemacher, Professor für Filmregie an der DFFB in Berlin. Er ist auch Co-Herausgeber der Filmzeitschrift Revolver und hat ein Blog, auf dem er über Filme schreibt. Ich bin Bert Rebhandl, ich moderiere das Gespräch, ich bin Filmkritiker.

Wir wollen darüber sprechen, wie sich unser Blick auf die Filmgeschichte durch neuere Entwicklungen in Gesellschaft und Politik verändert hat. Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, Filmgeschichte als ein weites Feld mit vielen möglichen Entdeckungen zu sehen, oder noch anders gesagt: Filmgeschichte einfach aus einer Fanperspektive wahrzunehmen. Filme kommen immer aus einem bestimmten Entstehungskontext, sie vermitteln zeitspezifische Stereotypen, und sind oft unbewusst oder sogar absichtlich rassistisch oder sexistisch. Cristina Nord, die Leiterin des Berlinale Forums, gab letztes Jahr in einem Artikel ein Beispiel: Sie musste bei einem Wiedersehen des Films THIEF von Michael Mann, den sie davor sehr geschätzt hatte, feststellen, dass sie über die problematische Darstellung des Geschlechterverhältnisses nun nicht mehr hinwegsehen konnte. Michael Mann hat viele Fans, er wird gern als großer Stilist des Kinos gesehen oder auch als ein Formalist. Seine Filme sind ein gutes Fallbeispiel dafür, wie sich die Wertschätzung verändert hat. Bewegungen wie #MeToo oder Black Lives Matter oder postkoloniale Diskurse haben diese Wahrnehmung grundlegend verändert. Ich würde gern zu Beginn Nina bitten, ein paar Worte über ihren Film zu sagen und darüber, wie sie heute Filmgeschichte wahrnimmt.

Nina Menkes: Mein Film heißt BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER. Er enthält 175 Filmclips von 1896 bis 2021. Ich schaue mir an, wie Einstellungen gegendert sind und wie die Objektivierung von Frauen eine Epidemie von sexueller Belästigung und sexuellen Angriffen und Beschäftigungsdiskriminierung befördert hat, die wir besonders in Hollywood, aber nicht nur in Hollywood zu verzeichnen haben. Ich habe diese Filme nie gemocht. Ich hatte nie ein Problem mit Godards Haltung gegenüber Frauen, weil ich seine Filme nie gemocht habe. Ich muss meine Sicht auf die Filmgeschichte nicht verändern. Das Mainstream-Bewusstsein von Filmgeschichte wurde von weißen, heterosexuellen, vielleicht einigen schwulen Männern kontrolliert, vielleicht war das in Europa ein kleines bisschen besser. Festivals, Verleih, Produktion waren in ihrer Hand. Ich hatte immer schon eine intuitive Abscheu vor diesen Filmen.

Mein erster Film MAGDALENA VIRAGA, auf 16mm für 5.000 Dollar gedreht, handelt von einer Prostituierten, die ihre Arbeit hasst. Man sieht nur ihr Gesicht, nie ihren Körper, sie zieht sich nie aus. Das war für die damalige Zeit sehr radikal. Ich war wohl nicht komplett gehirngewaschen. Ich habe RAGING BULL nie gemocht, THIEF von Michael Mann habe ich nie gesehen. Viele der großen Namen des Kinos kommen in BRAINWASHED vor. Hitchcock mag ich, da muss ich keine Meinung ändern. Er spielt mit diesem Problem. Frauen sind immer sexualisierte Objekte, und das gilt unabhängig von der Kategorie race, also auch bei Spike Lee, Gordon Parks Jr., Park Chan-wook, das ist bei allen gleich. Eine schockierende Wiederbegegnung hatte ich mit L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD von Alain Resnais, der mich in der Schule mächtig beeindruckt hatte: die Montage, die Zeitsprünge, die Kameraarbeit. Aber der ganze Soundtrack besteht darin, dass ein Mann über seine Obsession für die Frau redet, und Delphine Seyrig ist das obskure Objekt des Begehrens, sie hat kaum eine Persönlichkeit, sie ist nur schön. Ich habe mich von Filmen nie hineinlegen lassen.

Djamila Grandits: Es stimmt, die Dinge haben sich geändert. Das ist durchaus befreiend. Ich gehöre einem Kurator*innen-Kollektiv an, in dem es unterschiedliche Vorstellungen gibt, was wir teilen und wie wir Film vermitteln wollen. Es geht uns darum, Zugänglichkeit und Filmvermittlung neu zu denken. Wir machen ein Open Air-Kino an einem zentralen Ort in Wien, wir wollen die Barrieren für den Zugang heruntersetzen. Der Eintritt ist gratis. Und wir fragen uns: Wessen Geschichte stellen wir in der Mitte der Stadt in den Mittelpunkt? Wie starten wir einen Dialog mit dem Publikum?

Beim Programmieren für Festivals gibt es viele Aspekte, die aus dem Betrieb kommen: Man sucht nach neuen Filmen, nach Diversität, nach einer Vielfalt an Produktionsländern, was gar nicht einfach ist, weil sehr oft Frankreich oder Belgien als Koproduzenten dabei sind. Die Verantwortung ist groß, man muss aber auch pragmatisch sein. Man muss danach trachten, möglichst viele Einreichungen zu ermöglichen, gerade auch von Menschen, die noch nicht so gut in die Filmbranche integriert sind. Das Wort Entdeckungen mag ich nicht, da steckt mir zu viel koloniales Denken dahinter. Die Sensibilität für Rassismus, Diskriminierungen, Gender-Rollen und Diversität ist sicher gewachsen. #MeToo und Black Lives Matter haben viel verändert. Institutionen begreifen nun, dass sie ihre Perspektive verändern müssen, aber sie hinterfragen häufig ihre Motivation dafür noch nicht. Warum wollen wir eigentlich diversen Content? Manchmal wird das einfach mit den Mitteln des „Diversity Managements“ angegangen, da ist man schnell bei tokenism. Das ist gut gemeint, reproduziert aber im Grunde Gewalt.
 

BR: Girish, wie hat sich deine Biographie auf deine Arbeit als Kritiker ausgewirkt?

Girish Shambu: Ich bin in Indien aufgewachsen, und später in die USA eingewandert. Beide Erfahrungen prägen meine Cinephilie. In beiden Gemeinschaften orientierte sich das Kino am Autorenfilm. Ein Film wie BIRTH OF A NATION zum Beispiel wurde mir immer als kanonisch vermittelt, weil er von D.W. Griffith ist. Das vertraten nicht nur weiße Kritiker*innen, sondern auch Kritiker*innen of Color, die sich vom weißen Kanon kolonisieren ließen. Ich habe den Film immer mit großem Unbehagen gesehen, hielt aber daran fest, weil er eben kanonisch war. Ich hielt an der Gehirnwäsche fest, um es mit Ninas Worten zu sagen. Ich dachte, ich könnte den Film nicht kritisieren, weil es mir an Kenntnis fehlte. Und als ich es dann doch probierte, erhielt ich als Antwort: Schau, das ist ein Kunstwerk, nicht das richtige Leben. #MeToo und Black Lives Matter haben zum Glück dieses Argument unmöglich gemacht. Heute wissen wir, dass BIRTH OF A NATION zu einer Wiederbelebung des Ku-Klux-Klan geführt hat. Das ist ein extremes Beispiel. Die meisten Filme sind rassistisch oder sexistisch oder kolonialistisch und homophob, dem Ableismus und dem Spezizismus verhaftet. Sie haben alle möglichen Probleme, denn sie kommen aus der sie umgebenen Welt, und die ist gezeichnet von Verkommenheit und Unterdrückung. THIEF finde ich interessant, denn das ist ein relativ normaler Film, der eben ein paar Probleme hat. Mit solchen Filmen haben wir dauernd zu tun. Als Cinephile müssen wir uns fragen: Welche Filme weisen wir zurück, und welche erkennen wir an, auch wenn sie Probleme haben?

Christoph Hochhäusler: Ich habe die Cinephilie spät entdeckt. In meiner Kindheit gab es kein Fernsehen und kein Kino, erst mit 17 habe ich zum ersten Mal Filme gesehen. Die „Krankheit“ hat mich erwischt, als ich einen Freund davon befreien wollte. Ich hatte immer das Gefühl, ich wäre zu spät dran, um jemals einen Überblick bekommen zu können. Bis heute ist das meine dominante Empfindung: Ich habe nie genug gesehen. Die Filmgeschichte, die ich erlebte, fühlte sich wie die richtige Geschichte an. Voll mit Gewalt, Dummheit, großen Verbrechen. Die Filme erschließen mir das. Problematische Filme bringen uns Probleme näher. Ich bin ganz bei Nina. Wir brauchen eine Vielfalt an Sichtweisen. Für mich ist auch die männliche, weiße Filmgeschichte immer noch sehr vielfältig, aber natürlich hat sie viele blinde Flecken. Sie muss das geradezu sein. Film ist so transparent. Du kannst in einem Film nicht verbergen, worauf es dir ankommt und woran dir etwas liegt. Das ist großartig, und auch schrecklich beschränkend, denn wir sind nun einmal fehlbare Menschen, und unsere Perspektive ist sehr begrenzt.

BR: Girish, Cristina Nord bezog sich in ihrem Text letztes Jahr auch auf dein Manifest für eine neue Cinephilie. Der Begriff der Zurückweisung (refusal) ist dort sehr wichtig. Was ist damit gemeint?

GS: Ein „cinema of refusal“ ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich halte es wie Nina, ich würde auch nie sagen, dass bestimmte Filmemacher*innen keine Filme machen sollten. Wir müssen uns nur ansehen, was wir bisher in den Mittelpunkt gestellt haben, und was wir künftig in den Mittelpunkt stellen wollen. Cinephilie wurde 75 Jahre lang zu einem Mythos erhoben, in erster Linie von den Regisseur*innen der Nouvelle Vague, die auch die ersten auteurs waren. Das ästhetische System des Autorenfilms ist für die Cinephilie zentral. Die auteurs sind vorwiegend weiße Männer, dadurch wird ein großer Teil des Kinos marginalisiert. Der Kanon wird auf einen bestimmten Typ Film reduziert. Das heißt nicht, dass diese Filme schlecht sind. Sie können sicher auch diagnostisch gesehen werden: sie erschließen uns Probleme – Rassismus, Sexismus, Kolonialismus. Wir müssen aber noch weiter gehen, und müssen Werke hervorheben, die außerhalb des Autorenfilms entstanden sind. Demnächst wird eine DVD-Box erscheinen: „Cinema’s First Nasty Women“. Sie enthält 100 frühe Filme, von denen das Mainstream-Kino nichts weiß. Das sind subversive, komische, vorwärtsgewandte Filme, die aber in keine Autorenpolitik passen. Das sind Filme von Frauen, von Menschen of Color, von queeren Menschen. Diese Filme sind in den Archiven, man muss sie nur hervorholen, darüber schreiben und ihnen Reichweite verschaffen. Damit begreifen wir, wie sehr die Orientierung an individuellen auteurs unsere Perspektive begrenzt hat.

NM: Ich habe die letzten zweieinhalb Jahre täglich an BRAINWASHED gearbeitet, im Grunde schon mein ganzes Leben. Ich will niemandem vorschreiben, wie man Filme machen oder politisch korrekt sein sollte. Wenn du ein weißer, heterosexueller Mann bist, und gern auf den Hintern einer Frau draufzoomst, bitteschön. Mein Problem ist, dass Filmproduktion und -förderung und Vertrieb die anderen Sichtweisen völlig ausgeschlossen haben. In einer idealen Welt hätten wir alles: Frauen, lesbische Frauen, die ganze lange Liste, alle könnten Filme machen und sich ausdrücken. Im Kanon gab es im Wesentlichen eine Sichtweise: weiß, männlich, heterosexuell. Alle anderen waren ausgeschlossen. Ich hasse einen Film wie ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD, und ich will auf der Leinwand keine Großaufnahmen von Hinterteilen von Frauen sehen, aber ich verteidige das Recht darauf, wenn jemandem daran gelegen ist. Ich wünschte mir nur, es wären noch eine Million anderer Filme zugänglich.

CH: Die Wirkung von Filmen auf das reale Leben interessiert mich sehr. Ich weiß nicht, ob ihr den Begriff Vorbehaltsfilm schon einmal gehört habt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden bestimmte Filme aus dem Nationalsozialismus unter Vorbehalt gestellt. Man darf sie nur zeigen, wenn damit eine kritische Einführung verbunden ist. Ich habe das immer für eine Beleidigung meiner Intelligenz gehalten, wenn irgendein Professor mir sagen muss: Dieser Film ist gefährlich. Aber diese Vorsicht ist sinnvoll. Menschen, die in den KZs gearbeitet haben, mussten sich DER EWIGE JUDE und JUD SÜSS anschauen, und es hatte eine Wirkung auf sie. Sie waren nach diesen Propagandafilmen stärker bereit für ihre Verbrechen, zumal JUD SÜSS ja auch ein relativ gut gemachter, unterhaltsamer Film nach Hollywood-Art ist. Es macht also Sinn, darauf hinzuweisen, dass Leni Riefenstahl bei TIEFLAND mit Kompars*innen aus Lagern gearbeitet hat. Oder, um ein neueres Beispiel zu geben: Nach TOP GUN stiegen die Bewerbungen bei den US Marines. Filme haben offensichtlich eine Wirkung.

NM: Uns hat das bei BRAINWASHED auch interessiert, wie sich die Gestaltung der Welt in filmischen Einstellungen auf reale Umstände auswirkt. Es gibt umfangreiche Studien seit Jahrzehnten, dass Männer eher zu sexuellen Angriffe neigen, wenn sie in ihrem Medienkonsum sehen, dass Frauen zu Objekten gemacht werden. Man kann das messen. TOP GUN und die Marines: Das ist die Macht von Erzählungen auf der Leinwand. Ich bin Künstlerin, und ich will wie gesagt niemandem etwas vorschreiben. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass es auf den Zugang zu Produktion und Vertrieb ankommt. Wenn mein Film MAGDALENA VIRAGA zehn Millionen Dollar Werbebudget gehabt hätte, hätte man damit andere Film mit enormer Reichweite ausgleichen können. Eliza Hittman hat auf der Berlinale einen Preis gewonnen für ihren Film NEVER, RARELY, SOMETIMES, ALWAYS über eine junge Frau, die nach New York fährt wegen einer Abtreibung. Der Verleih in den USA hat dafür so gut wie keine Werbung gemacht. Diese Diskriminierung ist nachgewiesen. Es gibt ideologische Netzwerke, die andere Perspektiven an den Rand drängen.

GS: Es gibt wichtige und großartige Arbeiten von Filmhistorikerinnen wie Shelley Stamp und Jane Gaines. Sie schreiben darüber, dass Frauen im frühen Kino in Amerika eine große Rolle spielten. Sie wurden erst aus der Industrie verdrängt, als sich in den 20er-Jahren die kapitalistische, kommerzielle Institution Hollywood herausbildete. Die Rollen von Regie, Schnitt und anderen Abteilungen waren damals noch nicht so klar voneinander getrennt. Frauen haben alles Mögliche gemacht, und wurden dafür nicht immer feinsäuberlich genannt. Aber diese Geschichte existiert. Frauen haben Filme gemacht.
 

NM: Die Filmgeschichte neu zu schreiben, ist wichtig, stößt aber auch an Grenzen, weil nun einmal so viele von der Produktion und von der Verbreitung ganz ausgeschlossen waren. Auf diese DVD bin ich sehr gespannt, Girish. Mit #MeToo wurde mir erst klar, dass wir an CalArts keine Lehrveranstaltung über Filmemacherinnen haben. Ich habe also einmal eine Liste gemacht. Gut, wir haben Ida Lupino und Dorothy Arzner, die einzigen Frauen in Hollywood während der 40 Jahre der Studio-Ära. Nach Frauen of Color muss man händeringend suchen. Wir haben LOSING GROUNDS von Kathleen Collins, wir haben Julie Dash mit DAUGHTERS OF THE DUST, es gibt einige kurze Filme von Zora Neale Hurston. Wir können die Filmgeschichte nur zum Teil sinnvoll revidieren, denn die meisten Filme wurden nie gemacht. Es gibt einfach keine Filme mit nennenswertem Budget von Frauen of Color. Es gibt nicht viele Leute, die Filme für fast kein Geld machen so wie ich. Sie verlieren den Mut. Ich habe neulich einen Artikel über Moufida Tlatli gelesen, eine ägyptische Filmemacherin, die an Covid starb. Ihren Film DAS SCHWEIGEN DER PALÄSTE habe ich oft gezeigt. Als sie in den 60er-Jahren nach Frankreich ging, um Film zu studieren, musste sie Schnitt studieren, weil sie für Regie nicht zugelassen wurde. Sie hat später einige Filme gemacht, aber wir sollten zwanzig oder mehr von ihr haben, wenn sie eine normale Karriere gehabt hätte.

GS: Ein zusätzliches Problem mit dem Auteurismus ist, dass er ein System darstellt, das auf Vollständigkeit zielt. Von Fritz Lang oder Alain Resnais ist damit jeder Film wichtig, auch die weniger guten, denn sie stammen ja von einem wichtige auteur. Dadurch bleibt man bei einem einzelnen Werk sehr lange hängen, und sucht nicht nach Alternativen. Frauen hatten kaum einmal Zugang zu den heiligen Hallen des Auteurismus. Ich nenne die Konzentration auf Autoren eine Manspreading-Maschine. Sie verstärkt die Vorherrschaft weißer Männer.

CH: Ich glaube, du hast recht. Der Auteurismus war zu erfolgreich. Und es war ein unvermuteter Erfolg. Er beruht vor allem auf dem Selbstbewusstsein, mit dem der Auteurismus vertreten wurde. Wir müssen diese Übertreibung bekämpfen. Kanonlisten müssen natürlich ständig überarbeitet werden, und „Cinema’s First Nasty Women“ klingt großartig. Aber ein Kanon hat auch Vorzüge. Er ermöglicht es einer Gemeinschaft, ihre Argumente zu schärfen. Denn ein Kanon schafft ein Rhizom aus Bezügen für alle, die sich darauf einlassen.

GS: Wie ihr vielleicht wisst, wird heute in den USA über Reparationen diskutiert. Die Auswirkungen jahrhundertelanger Ungerechtigkeit sollen kompensiert werden. Kann man sich vorstellen, das auch auf die Filmgeschichte umzulegen? Wir müssen alle über unseren individuellen Ort in der Filmkultur nachdenken. Ich zum Beispiel schreibe nicht mehr über weiße Männer. Denn es gibt so viele andere zu entdecken, wir haben lange genug alles an weißen Männern ausgerichtet, es gibt andere Autor*innen, Denker*innen, Filmemacher*innen auf der ganzen Welt. Indem ich nicht-weiße Filme und Gedanken in den Mittelpunkt stelle, beteilige ich mich an diesem Projekt der Reparationen.

BR: Aus der Perspektive des traditionellen Narrativs erwächst daraus die Frage: Findest du es nicht bedauerlich, wenn du dadurch jemanden wie Howard Hawks aus dem Blick verlierst? Er war zu seiner Zeit vergleichbar mit Michael Mann. Ein Regisseur, dessen Werk gerade wegen seiner maskulinen Idiosynkrasien sehr geschätzt wurde.

GS: Ich glaube nicht, dass ich Hawks dadurch verliere. Ich mochte seine Filme immer, und schaue sie mir weiterhin an. Es ist aber eine sehr männliche Neigung, dauernd Listen zu erstellen, und dann den Kanon mit feinen Unterschieden aufzuladen: große Filme, gute Filme, nicht ganz so gute Filme. Ich überlege mir heute eher, welche Filme mich brauchen, und nicht umgekehrt. Ich schreibe inzwischen vorwiegend über marginalisierte Leute. Hawks braucht keinen Text von mir. Seine Filme sind immer noch faszinierend, vor allem wegen Gender-Aspekten. Es gibt nicht viele Frauen in seinen Filmen, aber wenn, dann müssen sie stark sein. Mir fehlen seine Filme nicht, ich mag sie nach wie vor, aber wir können sie heute anders sehen als vor zehn oder zwanzig Jahren.

BR: Djamila, kann man bei den Festivals eine Reaktion auf das gewachsene Bewusstsein für die Ungleichheiten in der Filmgeschichte feststellen?

DG: Die Nuancen dieser Auseinandersetzungen sind noch nicht überall bis in die Festivalwelt vorgedrungen. Es verändert sich etwas, aber es gibt auch Probleme und neue Herausforderungen. Ich weiß es zu schätzen, wie sich die Kolleg*innen bemühen, denn es macht wirklich eine Unterschied, wie divers ein Feld ist. Ich möchte aber auch nicht als Schwarze Frau überall als Botschafterin der marginalisierten Werke auftreten müssen, die es gibt. Ich möchte nicht wie eine Lehrerin wirken. In Kommissionen, Jurys und Auswahlgremien sollte Diversität selbstverständlich sein. Es beginnt bei der Filmförderung, und endet bei Verleih und Vertrieb. Wer trifft in diesen Bereichen die Entscheidungen? Das ist eine Machtfrage, von der die ganze Industrie betroffen ist. Ich finde, die ganze Idee des Festival Circuits sollte einmal überdacht werden. Immer mehr Festivals konkurrieren um eine weltweite Produktion, die nach wie vor von großen Brüchen geprägt ist. Ein Land mit einer Filmförderung wie in Europa hat natürlich eine umfangreichere Produktion als ein Land, in dem es an Infrastruktur und Geld mangelt. Das schreibt sich in die Repräsentation ein. Und mit allen diesen Entscheidungen formen wir einen neuen Kanon. Wir müssen uns fragen, was im Jahre 2022 ein Festival sein kann und soll.

NM: Ich bin auf diese Themen schon früh aufmerksam geworden. Ich habe sie gespürt, und musste sie nicht erlernen. Ich wollte nie unterrichten, ich habe nur deswegen an einer Hochschule zu arbeiten begonnen, weil ich mit meinen Filmen zu wenig verdient habe. In den letzten Jahren hat sich nun das Interesse an diesen Themen sehr verstärkt. Der Film, den ich auf der Berlinale zeige, wäre noch vor fünf Jahren nicht finanziert worden. Das ist doch unglaublich. Geschweige denn vor dreißig Jahren: da wäre es ganz und gar unmöglich gewesen. Da hat sich etwas grundsätzlich verändert, und dafür bin ich dankbar.

BR: Ich denke, das ist ein guter Moment, um unser Gespräch abzuschließen. Vielen Dank allerseits.

Djamila Grandits lebt in Wien, sie ist Kuratorin, Kulturarbeiterin und Programmmacherin. Als Teil des CineCollective ist sie für die künstlerische Leitung und Umsetzung von Kaleidoskop – Film und Freiluft verantwortlich. Sie war in den Auswahlkomitees des DOK Leipzig, des Kasseler Dokfests, der frameout – digital summer screenings und des Festivals tricky women | tricky realities tätig. 

Christoph Hochhäusler studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Er ist Verfasser zahlreicher filmpublizistischer Arbeiten, u.a. als Gründer und Mitherausgeber der Filmzeitschrift „Revolver” (1998). Seine Filme MILCHWALD (2003) und EINE MINUTE DUNKEL (2011) waren im Berlinale Forum zu sehen. Von 2017 bis 2021 war er zudem Leitender Dozent für Regie an der DFFB.

Nina Menkes ist Filmemacherin, deren Filme auf internationalen Filmfestivals, darunter Sundance, Cannes (ACID), Rotterdam, Locarno und Toronto gezeigt wurden. Der Dokumentarfilm MASSAKER, bei dem sie auch hinter der Kamera stand und der 2005 auf der Berlinale uraufgeführt wurde, gewann den Fipresci-Preis. Ihr aktueller Film BRAINWASHED: SEX-CAMERA-POWER basiert auf ihrem Vortrag „Sex and Power: The Visual Language of Oppression“ und ist im Panorama der Berlinale zu sehen.

Bert Rebhandl ist freier Journalist, Autor und Filmkritiker für die FAZ. Er ist außerdem Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.

Girish Shambu ist Filmwissenschaftler, Autor und Redakteur der Online-Kolumne Quorum von Film Quarterly. Er lehrt am Canisius College in Buffalo, New York, und bloggt über Filmkultur auf girishshambu.net. Er ist außerdem Autor von „The New Cinephilia“.

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