Der am 4. September 1934 in Prag geborene Jan Švankmajer gehört zu den großen Solitären des europäischen Kinos. Dabei kann seine komplexe Arbeit keineswegs auf die filmischen Aspekte reduziert werden. Er ist u.a. Sammler, Multiplikator, Autor, Bastler, Bildender Künstler – und hat parallel dazu auch einige der wegweisenden Animationsfilme des 20. und 21. Jahrhunderts geschaffen. Mit dieser Aufzählung kann wiederum auch nur ein Teil seiner Aktivitäten und der damit verbundenen Bedeutung umrissen werden. Denn er gehörte zu jenen Künstler*innen, die bis zum 21. August 1968 in der Tschechoslowakei mit Einzel- und Gruppen-Aktivitäten den Anschluss an die Weltkunst suchten und realisierten. Eine zentrale Rolle spielte dabei die surrealistische Bewegung der speziellen tschechischen Spielart, die bereits ab den späten 20er Jahren eine erste Blüte erlebte und damals von André Breton persönlich als solche anerkannt wurde. Trotz der deutschen Okkupation ab 1938 und der brutalen hochstalinistischen Phase ab 1948 ist sie nie ganz zum Erliegen gekommen. Als sich nach Stalins Tod Ende der 50er Jahre das kulturpolitische Klima entspannte, kam es zu einer neuen Renaissance. Jan Švankmajer und seine Frau – die Malerin, Dichterin, Keramikerin, Autorin und Bühnenbildnerin Eva Švankmajerová (1940–2005) – fungierten als wesentliche Akteure dieser ungemein kreativen und mutigen Gruppierung, deren Aktivitäten in keiner Weise zu den Maximen des sozialistischen Realismus passten. So wurden die kurzen und langen Filme Švankmajers auch immer zu Statements von Zivilcourage. Ihre hochartifizielle Ausführung kann nicht ohne ihren mal subtilen, mal deutlichen politischen Kontext gesehen werden.
Die aktuelle Retrospektive ist zwar nicht komplett, bietet aber seit langer Zeit wieder eine Möglichkeit, wesentliche Teile des Švankmajer’schen Œuvres in restaurierten, digitalen Fassungen auf der Leinwand erleben zu können. Sie umfasst sieben abendfüllende Programme, davon vier Blöcke mit insgesamt 19 Kurzfilmen sowie NĚCO Z ALENKY (Alice, ČSSR/CH/UK/BRD 1987) und HMYZ (Insekten, CZ 2018). Einen besonderen Höhepunkt stellt die Aufführung der knapp einstündigen Arbeit KUNSTKAMERA (CZ 2022) dar. Sie wurde von Švankmajer selbst als sein letzter Film deklariert – was angesichts seiner anhaltenden Kreativität nicht ernsthaft befürchten werden muss.
Jan Švankmajer stammt aus „kleinen Verhältnissen“, gleichwohl schien ihm die haptische Beschäftigung mit den Dingen des Alltags in die Wiege gelegt. Seine Mutter arbeitete als Näherin, der Vater als Schaufenstergestalter. Die Kindheit war geprägt vom Spiel mit einem vom Vater gebauten Puppentheater, für das er selbst bald Figuren und Bühnenbilder entwarf und fertigte. Seither bevölkern Puppen sein Œuvre – sie fungieren als mit Eigenleben ausgestattete Objekte, als Akkumulatoren und Allegorien des Menschlichen, aber auch als Bewohner mythischer Parallelwelten. Ab 1950 studierte er folgerichtig Szenografie und Puppenspiel. Seine erste eigene Inszenierung brachte er 1957 mit einer Volkstheater-Version des Don-Juan-Stoffes auf die Bühne, das Stück wurde von ihm 1970 mit DON ŠAJN (Don Juan, ČSSR 1970) auch filmisch umgesetzt. 1958 kam es zur Zusammenarbeit mit dem legendären Regisseur Emil Radok (Mitbegründer des Prager Laterna-Magica-Theaters), was seinen ästhetisch-technischen Radius stark erweiterte. 1964 entstand mit POSLEDNÍ TRIK PANA SCHWARZEWALDEA A PANA EDGARA (Der letzte Trick des Herrn Schwarzewaldea und des Herrn Edgar, ČSSR 1964) sein erster eigenständiger Kurzfilm. In diesem knapp zwölfminütigen Werk waren bereits viele Stilmittel enthalten, die später zu seinen Markenzeichen gehören sollten: wie die Mischung von Real- und Trickszenen, die Interaktion von Schauspieler*innen mit Puppen, der collagenhafte Ton oder die Animation historischer Artefakte. Die fruchtbare Frühphase seines Schaffens währte bis zum August 1968. Es waren jene in dieser Zeit entstandenen Kurzfilme, wie der Proto-Videoclip JOHANN SEBASTIAN BACH: FANTASIA G-MOLL (ČSSR 1965) oder der berühmte HRA S KAMENY (Spiel mit Steinen, ČSSR 1965), vor allem aber die zivilisationspessimistische Liebeserklärung an die Tierwelt HISTORIA NATURAE (ČSSR 1967), die seinen internationalen Ruf als brillanter Tüftler, Einzelgänger und Universalgenie begründeten.
Nachdem er als Protest gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch sowjetische Truppen das „Manifest der 1000 Worte“ unterzeichnet hatte, war ein Berufsverbot vorprogrammiert. Zwischen 1972 und 1979 konnte Švankmajer nicht als Regisseur arbeiten, er hielt sich mit der Herstellung von Tricksequenzen für staatliche Spielfilme über Wasser, widmete sich ansonsten seinen weitverzweigten kreativen Aktivitäten und begann, sich als Sammler von kunsthistorischen Artefakten zu betätigen. Die Prager Stadtwohnung der Švankmajers und später das manieristische Schlösschen in Horní Staňkov (Südböhmen) wurden zu Refugien der verstreuten Dissidentenszene und zu Zentren der wiedererstandenen surrealistischen Bewegung Tschechiens. Nachdem 1983 auf dem Animationsfilmfestival in Annecy eine Zusammenstellung mit frühen Arbeiten gezeigt wurde, setzte sein internationaler Ruhm ein. In jener Zeit erkannten ihn Terry Gilliam, Henry Sellick, Tim Burton oder die kanadischen Quay-Brüder als einen Seelenverwandten und trugen maßgeblich zur Verbreitung seines Werkes im Westen bei.
Als die kommunistischen Systeme Osteuropas zusammenbrachen, kommentierte er dieses historische Ereignis mit dem sarkastischen Kurzfilm KONEC STALINISMU V ČECHACH (Das Ende des Stalinismus in Böhmen, (CZ 1990) – eine pointierte Abrechnung mit den unter dem Mäntelchen einer zynisch propagierten Menschheitsrettung begangenen Verbrechen zwischen 1948 und 1989.
Seither dreht Švankmajer ausschließlich abendfüllende Spielfilme mit Animations-Passagen. In die regulären Spielpläne Westeuropas fanden diese Arbeiten nur in Ausnahmefällen Eingang. Eine große Überraschung stellt sein 2022 fertiggestellter, wie stets in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Jaromír Kallista gedrehter, mittellanger Film KUNSTKAMERA (s.o.) dar. Zu den Klängen von Vivaldis Frühling erhalten die Zuschauer*innen Zugang in seinen Wohn- und Arbeitsort in Südböhmen. In langen Plansequenzen erschließen sich die verwinkelten Räume des Gebäudes, offenbaren einen ganzen Kosmos von faszinierenden, bizarren oder wunderschönen Fund- und Sammelstücken sowie eigenständigen Kunstwerken. Es wird im Film schier unmöglich, die hier angehäufte Fülle an künstlerischen und kulturhistorischen Objekten auch nur annähernd zu erfassen. Galante Porzellan-Figurinen stehen neben ethnologischen Artefakten, dazwischen tummeln sich Puppen aller Art – an Stricken und Stäben, aus Stoff, Holz, Metall, mit verborgenen Uhrwerken und Glockenspielen, indonesische Schatten-Figuren, böhmische Marionetten, Kasperle, Teufel, Engel. Doch die Räume, Treppenhäuser und Zimmerfluchten bieten noch viel mehr. An den Wänden hängen großformatige Gemälde, aus Schüben quellen Drucke und Zeichnungen. Mit diesem Film erhalten wir das außerordentliche Privileg der Teilhabe am künstlerischen Vermächtnis Jan Švankmajers. Denn das Sammeln ist für ihn Teil des kreativen Prozesses. In einem Interview bekannte er: „Ich sammle Reste der magischen Welt, die einst vorrangig war und weit mehr der menschlichen Mentalität entsprach als der heutige Zustand.“ So schließen sich mit dieser Arbeit gleich mehrere Kreise. Denn sie nimmt durch die gezeigten Objekte einerseits Bezug auf seine klassischen Kurzfilme wie PICKNICK MIT WEISMANN (Österreich 1968) oder KOSTNICE (Beinhaus, ČSSR 1970), die scheinbar leblose Dinge zu unheimlichem Eigenleben erwecken. Andererseits verweist er auf die Beseeltheit von Räumen, in denen wir nur zeitweilig zu Gast sind – auch dies, wie in BYT (Wohnung, ČSSR 1968), ein zentraler Topos seines Schaffens. (Claus Löser)