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Um der gegenwärtigen Benjamin-Lektüre im Bereich der Filmund Videokunst Sichtbarkeit zu verschaffen, haben wir es uns und unseren Gästen zur Aufgabe gemacht, nicht ÜBER, sondern MIT Benjamin zu arbeiten. Es geht nicht darum, Textfragmente aus Benjamins Schriften in Filmen aufzuspüren oder Filme zu zeigen, die klassische Motive aus Benjamins Werk aufgreifen. Der von uns gewählte Zugang ist ein prozesshafter, ganz im Sinne jener durch Film möglich gewordenen "abenteuerlichen Reisen", von denen Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz spricht. Wir haben versucht, Arbeiten MIT Benjamin zu initiieren, und dies auf drei verschiedenen Ebenen der künstlerisch-wissenschaftlichen Produktion: dem Filmemachen/Produzieren, dem Kuratieren und dem wissenschaftlichen Arbeiten.
Drei FilmemacherInnen/KünstlerInnen wurden eingeladen, je eine Videoarbeit zu produzieren, die von ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit Benjamin zeugt; drei KuratorInnen gebeten, jeweils ein Programm mit Film- und Videoarbeiten zusammenzustellen, das Ausdruck ihrer Beschäftigung mit Walter Benjamin ist; und drei WissenschaftlerInnen gefragt, anhand von Filmlektüren mit den künstlerischen Praktiken des Filmemachens und des Kuratierens in einen Dialog zu treten.
Ergänzend zeigen wir drei Programme mit Filmen von Jem Cohen, dessen Werk eine ganz eigene Benjamin-Lektüre darstellt. Die KünstlerInnen, die sich für unser Projekt in Videoarbeiten mit Walter Benjamins Werk befasst haben, sind Angela Melitopolous, Amie Siegel und Florian Zeyfang. In einer gemeinsamen Veranstaltung werden sie ihre Arbeiten vorstellen und sie dabei erstmals in einen Dialog treten lassen.
DIE SPRACHE DER DINGE ist Melitopoulos' Versuch der Übersetzung der Theorie Walter Benjamins "Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" in eine Montage mit Bildmaterialien aus Tokios Hightech-Vergnügungsparks und künstlichen Welten: präzise kalkulierte Beschleunigungs- und Karussellmaschinen, ausgeklügelte Wellenbäder affizieren Körper mit prometheischen Rhythmen: Wie deutet sich die Sprache des Menschen und die Sprache der Dinge im Bezug auf die industrielle Entwicklung der Hightech-Amusementparks und der Kalkulierbarkeit himmelstürmender Affekte?"
Amie Siegels Beitrag trägt den Titel WALTER BENJAMIN/DETLEF HOLZ – DEUTSCHE MENSCHEN. Ab 1933 konnte Walter Benjamin zahlreiche Artikel und Essays nur noch unter dem Pseudonym "Detlef Holz" publizieren, so auch das Buch "Deutsche Menschen", das eine Auswahl von Briefen deutscher Schriftsteller der Romantik enthält. Siegels Film zeigt Fragmente von Gesprächen, die sie mit Menschen führte, die heute in Deutschland Detlef Holz heißen: einem Rentner und einem Landschaftsgärtner in Berlin, einem Kunstberater aus Frankfurt. Der Film fragt nach ihrem Wissen über den Detlef Holz der 30er Jahre – nach Walter Benjamin, seinem familiären Hintergrund, seinem schriftstellerischen und philosphischen Werk –, aber auch über ihre eigenen Familien und ihre Berufe und schafft damit eine zeitgenössische filmische Analogie zu Benjamins "Deutsche Menschen".
Der Arbeitstitel des Videos von Florian Zeyfang lautet EINE KLEINE GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE. "Die Gegenwart anhalten, um sie zu betrachten … mit den Bildern hätte diese Gegenwart dann den Text zu geben, die Geschichte dazwischen die Zitate – und in der Durchdringung entstünde dann so etwas wie eine Utopie. Nur in Anführungszeichen aber steht der wirkliche Benjamintext, und die Bilder stimmen 'irgendwie' auch nicht so richtig …" (17.10.) Die eingeladenen KuratorInnen sind Hito Steyerl, die als Filmemacherin und Autorin in Berlin lebt und arbeitet; Brent Klinkum, der mit Transat Vidéo in Caen an wechselnden, häufig abgelegenen Orten, die keine Kinos sind, Film- und Videokunst präsentiert, und Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen.
Programm (1): Hito Steyerl präsentiert DIAL H-I-S-T-O-R-Y von Johan Grimonprez (Belgien 1997). Der Film "hat nicht das Geringste mit Walter Benjamin zu tun. Man könnte sogar sagen, dass er selbst mit seinem eigenen Thema kaum etwas zu tun hat: behandelt er doch das Thema des internationalen Terrorismus wie eine Mischung aus Society-Magazin und Krawall TV. Vielleicht können uns einige Motive aus Benjamins Arbeit über das Trauerspiel aber über die spezifische Qualität dieser filmischen Beziehungslosigkeit aufklären. Denn drückt sich unsere Zeit nicht gerade in einem strukturellen Mangel an Zusammenhang aus?" (16.10.) Programm (2): "Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen." (W.B. im "Passagen- Werk"). Brent Klinkum übersetzt dies in die Arbeit des Kurators und demonstriert die Lesbarkeit von Filmprogrammen. Inspiriert hat ihn ein Satz aus einem frühen Essay von Walter Benjamin "Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" (1916). Seine Äußerung: "Es gibt kein Geschehen oder Ding, weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen geistigen Inhalt mitzuteilen" impliziert, dass alles in der Welt eine Bedeutung hat, demzufolge auch die Annahme der Existenz eines kosmischen Autors. Das Programm: SPECIALIZED TECHNICIANS REQUIRED: BEING LUIS PORCAR (Manuel Saiz,GB 2005), ANAGRAM (Annika Eriksson, SV 2001), LES AMOURS DE LA PIEUVRE (Love Life of the Octopus, Jean Painlevé, F 1967), BLACK HORSE WAITING (Per Maning, NO 2002), JAMES AND OTHER APES (James Mollison, GB, Diaprojektion), WHILE DARWIN SLEEPS (Paul Bush, GB 2004), FYSIKAALINEN RENGAS, (A Physical Ring, Mika Taanila, Finnland 2002), CROSSROADS (Bruce Conner, USA 1976), SHOUTING MATCH (George Barber, GB 2004 ) (24.10.) Programm (3): Lars Henrik Gass widmet sich Benjamins Beschreibung des "destruktiven Charakters". "Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass. Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich." (W.B.) Das Programm umfasst die folgenden Filme: HELPMATES – STAN LAUREL & OLIVER HARDY (James Parrot, USA 1932) DEVICE (Paul Harrison, John Wood, GB 1996), EN RACHÂCHANT (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet, F 1982), THE WASTE LAND (John Smith, GB 1999), FLIMMERN (DIE GOLDENEN ZITRONEN) (Deborah Schamoni, Ted Gaier, D 2001), O.T. (Anna Berger, D 2005), 3 LEGGED (Paul Harrison, John Wood, GB 1996), KARAOKE (Nomeda & Gediminas Urbonas, Litauen 2001) (30.10.) Kinolektüre (1): Film und Video verlassen zunehmend das Kino und wandern in den Kunstraum. Wird dem Massenmedium Film dadurch eine Aura verliehen, die ihn zur Kunst erhebt? Zur Eröffnung begrüßen wir Juliane Rebentisch (Institut für Philosophie, Universität Potsdam). Im Kapitel "Die kinematografische Installation" ihres Buches "Ästhetik der Installation" führt sie das Paradox an, "ausgerechnet das zu auratisieren, was laut Walter Benjamin wie nichts sonst für den von ihm diagnostizierten Verfall der Aura im zwanzigsten Jahrhundert symptomatisch ist: den Film." Wir sprechen mit Juliane Rebentisch über den Begriff der Aura des Kinematografischen im Kino und im Kunstraum und zeigen dazu zwei Arbeiten, die sich mit dem Hier und Jetzt der Vorführsituation im Kino befassen: JA/NEIN (VORHANGFILM) von Ernst Schmidt jr. (Österreich 1968) reproduziert den im Original vorhandenen Kinovorhang filmisch und SO IS THIS von Michael Snow (Kanada 1982) bietet im wahrsten Sinne des Wortes eine Lektüre des Kinos: Der Film besteht auschließlich aus Text und thematisiert u.a. die Anwesenheit des Zuschauers und die Abwesenheit des Autors während der Kinovorführung: „Warning: This film may be especially unsatisfying for those who dislike having others read over their shoulders. (…) 'Wouldn't/a/book/be/better?' If Mr. Snow is here on this occasion he will attempt to answer such questions in speech after this film is over. (…)" (14.10.) Kinolektüre (2): Drehli Robnik (Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft, Wien) spricht unter der Überschrift "Tiktak und Taktik" über Ethos, Zeit- und Konsumlogik des postfordistischen Kinos in Benjaminscher Sicht. Mit Seitenblick auf den Film THE RING – die üppigere Hollywod-Version von Gore Verbinski aus dem Jahr 2003 – soll umrissen werden, welchen Stellenwert Begriffe heute haben können, über die Benjamin das Kino als Massenkultur verkörperter Wahr-Genehmung anvisiert hat. Einübung, Zerstreuung, Taktilität, sowie das Bild im Stillstand, herausgesprengt oder als Vergangenheit, die vorbeihuscht: Was könnte das für ein intermediales, modulierendes Kino bedeuten, das den Spuk als dauerhaften Ausnahmefall normalisiert hat? (19.10.) Kinolektüre (3): Stefanie Diekmann (Theater- und Medienwissenschaftlerin, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) spricht über "Bedeutungs-Prätentionen. Über den allegorisierenden Blick". In mancher Hinsicht ist Peter Greenaways zweiter Spielfilm A ZED & TWO NAUGHTS (GB 1985) die perfekte Illustration jener Weltsicht, die Walter Benjamin in seinem Buch "Ursprung des deutschen Trauerspiels" als allegorisierende beschrieb. Zugleich lässt sich mit Benjamins Konzept der Allegorie der entscheidende Umbruch in Greenaways Werk beschreiben: von den ironischen, reflexiven Bildkonzeptionen, die am Anfang seiner Arbeit stehen, zu den prätentiösen, überladenen Filmen, die das spätere Werk dominieren. (31.10.) Begleitend präsentieren wir eine Werkschau mit Filmen von Jem Cohen, dessen Film LOST BOOK FOUND (USA 1996) Walter Benjamin gewidmet ist. Ein gefundenes Buch mit Notizen zu Orten, Dingen und Personen wird hier zu einem Stadtplan, der einen fiktiven Flaneur an verborgene Orte führt – angelehnt an Benjamins Figur des Flaneurs sammelte Cohen über Jahre hinweg ein komplexes Bildarchiv. Der Film läuft gemeinsam mit BURIED IN LIGHT (USA 1994), der ausgeht von einer Reise durch ein sich rasant veränderndes Mittel- und Osteuropa, das im Begriff ist, sich radikal seiner Altlasten zu entledigen und sich der internationalen Konsumwelt anzuschließen. (25. & 27.10)
Cohens Benjaminlektüre kulminierte in seinem abendfüllenden Werk CHAIN (2004), einem bizarren Roadmovie, in dem Cohen Einkaufspassagen, Vergnügungsparks, Hotels und Konzernzentralen auf der ganzen Welt zu einer monolithischen Superlandschaft verschmelzen lässt. (22.10.)
BLOOD ORANGE SKY (USA 2000) ist ein Porträt der sizilianischen Stadt Catania. Dazu läuft AMBER CITY (USA 1999), die Erkundung einer nicht genannten italienischen Stadt. Abseits von touristischen Pfaden streift Cohen Tag und Nacht durch die Stadt, sucht nach Plätzen und Gebäuden und reflektiert über das "Dazwischen" von Orten, deren historische Bedeutung die Realität unsichtbar macht. (26. & 29.10.) Im Anschluss an die Vorführung am 29.10. schalten wir live zu Jem Cohen in New York. Der in Australien als Sohn jüdischer Flüchtlinge geborene Komponist,Schriftsteller und Performer Chris Mann hat seit den 70er Jahren seine einzigartigen Stimmperformances entwickelt. Sein rhythmisch-musikalischer Umgang mit Sprache, die Untersuchung ihrer klanglichen Aspekte und Fragen der Linguistik und Sprachphilosophie stehen im Zentrum seines musikkünstlerischen Schaffens. Seine Performance trägt den Titel "Snap". Chris Mann: "Language is the mechanism whereby you understand what I’m thinking better than I do (where 'I' is defined by those changes for which I is required)." (21.10.) Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

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