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"Double Vision" erkundet Begriffe wie Verortung, Grenzen und Identität in Bezug auf kanadische Film- und Videoproduktion im internationalen Kontext. Dabei widmen sich die ausgewählten Arbeiten der Thematik der Grenzerfahrung, und zwar im doppelten Sinne: formal und ästhetisch, aber auch geografisch/politisch. Die Programme sind zudem dazu gedacht, einen Dialog mit den jeweiligen Partnerstädten einzugehen. Während Paris und London als Partnerstädte die Bilingualität des Einwandererlandes Kanadas zum Ausdruck bringen, wirft die Auseinandersetzung mit der Stadt Kitchener (ehemals Berlin, im Ersten Weltkrieg nach dem Kriegsminister des Britischen Königsreichs Herbert Kitchener umbenannt) ganz andere Fragen auf. Die Einflussnahme der deutschen Geschichte ist hier, an einem Ort, der nicht selten durch Aktivitäten von Neonazis in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerät, nicht zu übersehen: Etwa eine Autostunde von Toronto entfernt, ist das erste, was man in der ländlichen Gegend erblickt, ein Maibaum. Auf dem Markt werden landwirtschaftliche Produkte von Nachfahren eingewanderter deutschsprachiger Mennoniten verkauft, die Waren sind zweisprachig ausgezeichnet. Im Oktober findet in Kitchener das größte Oktoberfest Nordamerikas statt. Lothar Spree und Detten Schleiermacher drehten 1972 mit PARADE einen Film darüber: Begriffe wie "deutsche Gemütlichkeit" und "Kulturaustausch" werden ironisch zu Bildern der jährlich zum Oktoberfest stattfindenden Parade in Bezug gesetzt. Was bedeutet die Idee der "Aufrechterhaltung einer deutschen Kultur" in ihrem spezifischen historischen Zusammenhang? Wir zeigen dazu Ernie Gehrs SIGNAL – GERMANY ON THE AIR, der 1985 entstand, als Gehr als Stipendiat des Künstlerprogramms des DAAD zum ersten Mal nach Berlin kam, in die Stadt, aus der seine Eltern 1939 vertrieben und in der alle Spuren jüdischer Kultur vernichtet wurden. Der Film zeigt die Begegnung mit Bildern und Tönen des Ortes, der Stätte seiner Kindheit hätte sein können. (10.11.) Phil Hoffman, einer der bedeutendsten Vertreter des hauptsächlich aus der nordamerikanischen Avantgarde bekannten "Personal Film", ist in Kitchener aufgewachsen. Die Ambiguität der Bilder, die sowohl auf die eigene Kindheit als auch auf die deutsche Einwanderergeschichte verweisen, findet nicht nur im Titel KITCHENER – BERLIN ihren Ausdruck. Hoffman hat in seinem 1990 entstandenen Film versucht, eine filmische Sprache dafür zu finden: Er setzte die Steadycam als eine Kamera ein, die aus der Distanz ihres Standorts heraus jener Ambivalenz sowohl frei schwebend, im Stile des Home Movies, als auch mit maskuliner Aggression, im Stile des klassischen Dokumentarfilms, begegnen kann. Wir freuen uns, dass Phil Hoffman aus Toronto, der auf seiner Farm in Ontario (Phil's Farm) zahlreiche Filmemacherinnen und Filmemacher inspiriert und ausgebildet hat, zu Gast sein wird. Zudem freuen wir uns, Christina Battle begrüßen zu dürfen. Sie hat, wie viele Filmemacher und Künstler in Toronto, nicht nur durch ihr Werk, sondern auch durch ihr Wirken in der Film- und Video-Community in Toronto diese besonders in den letzten Jahren entscheidend mit geprägt. Die Titel der Arbeiten, die wir zeigen, sind Programm: TRAVELING THRU WITH EYES CLOSED TIGHT (2006) und DISTANCE BETWEEN HERE AND THERE (2005). Um Zwischenräume, das Reisen, um Distanz, Migration und Identität drehen sich alle Filme und Videos des Programms. Vor allem aber suchen sie eine Sprache für die Asynchronität des inneren und äußeren Erlebens in der Erfahrung der Ortlosigkeit. Die Filme der jeweils zwei Programme aus beiden Teilen des Kontinents widmen sich dieser Gespaltenheit, die unterschiedlichen historischen Zusammenhängen und politischen Bedingungen der Gegenwart entstammt. Jeder Film des Programms beruht auf dieser Struktur und erfordert in der Spezifik der zugrunde liegenden Erfahrung doch eine eigene ästhetische Vermittlung. Aus Kanada zeigen wir außerdem Arbeiten von David Rimmer, Katherine Jerkovic, John Gagne, Rick Hancox, Ian Toews, Ellie Epp sowie Deirdre Logue. In der Black Box läuft PRACTICING DEATH (2003), ein Loop von Lisa Steele und Kim Tomczak über den Bereich zwischen Wachheit und Schlaf, Leben und Tod. Für unser "responding program" haben wir Filme und Videos von Künstlern und Filmemachern ins Programm genommen, die arsenal experimental in Berlin vertritt. Voraussichtlich werden alle anwesend sein: Martin Ebner, Gerd Conradt, Maike Mia Höhne, Tim Blue, Isabell Spengler mit Alice Könitz und Corinna Schnitt, Michael Brynntrup, Brigitta Kuster, sowie Bärbel Freund und Rainer Bellenbaum. Neben dem Images Festival (Scott M. Berry und Pablo de Ocampo) und CFMDC (Lauren Howes) ist durch die anwesenden Künstler eine weitere Institution vertreten: V-tape, das Pendant zu CFMDC im Bereich der Videokunst und Neuer Medien. Lisa Steele und Kim Tomczak gründeten die Distributions- und Forschungsplattform im Jahre 1980. All jene Institutionen sind in Toronto unter einem Dach in 401 Richmond St., einem ehemaligen Fabrikgebäude, das heute Galerien, Verlage, Festivals, Organisationen aus allen Bereichen der Kunst und Musik beherbergt. Darüber hinaus gibt es unzählige Initiativen wie Pleasure Dome, Cine Cycle, LIFT, um nur wenige zu nennen. Akteure sind überwiegend die Künstler und Filmemacher selbst, aber auch Kuratoren, Akademiker, Autoren. Eine solche Vielfalt im Bereich des experimentellen Films, der Videokunst und der Neuen Medien können wir in Berlin nicht vorweisen, was nicht bedeutet, dass hier nichts stattfindet. Im Gegenteil, zur Zeit ist vielleicht so viel in Bewegung wie nie zuvor: Die Transmediale erhält Leuchtturmförderung, unter Mithilfe vieler entstanden im eigenen Haus die Initiativen arsenal experimental als Verleihplattform und Forum Expanded im Rahmen der Berlinale. Erst kürzlich wurde das erste selbst organisierte Labor gegründet. Experimentelle Filme und Videoarbeiten werden überall in der Stadt produziert, gezeigt, diskutiert, sei es bei b_books, im NBK, der NGBK, dem KW, der Berlinischen Galerie, der Galerie Olaf Stüber, im Tesla oder im Rahmen der Berlin Biennale. Zwar kann hier von keiner kontinuierlich gewachsenen Geschichte gesprochen werden, die irgendwann einmal jene Stabilität erfahren hätte, die dem Experimental-, Underground- oder Avantgardefilm den notwendigen Entwicklungsfreiraum in Theorie und Praxis hätte verschaffen können. Doch es hat sich etwas entwickelt, was durch das Ineinandergreifen der Künste (vielleicht gerade im institutionsfreien Raum) und die Einflüsse vieler neuer Wahlberliner aus anderen Ländern in seiner gegenwärtigen produktiven Unübersichtlichkeit viel Neues verspricht. Ähnlich unübersichtlich und gleichzeitig produktiv waren die 1980er Jahre sowohl in Kanada als auch in der BRD. Der International Experimental Film Congress, organisiert von Filmemachern, Kuratoren und Filmwissenschaftlern, ging mit Filmvorführungen und Panels der Frage nach, woraus sich die Idee des Experimentalfilms zusammensetzt, welche Bedingungen und Möglichkeiten damit verbunden sind. Viele der damals Beteiligten sind noch heute sehr aktiv, in Deutschland gehören dazu Christine Noll Brinckmann, Birgit Hein, Karola Gramann. Sie und Doina Popescu, die in Toronto in ihrer langjährigen Tätigkeit als Kuratorin, Vernetzerin und Gastgeberin am dortigen Goethe-Institut nicht nur Experimentalfilmgeschichte geschrieben hat, werden wir ebenfalls im Arsenal begrüßen. Ein von filmischen Überraschungen umrahmtes Panel soll jenen, die damals und heute aktiv waren und sind, Gelegenheit geben, ihre Tätigkeit vorzustellen. Kontinuität und Diskontinuität werden dabei zum Ausdruck kommen, eine Binarität, die stets Motor der Geschichte des Experimentalfilms waren, aber auch Ausschlussmechanismen erzeugten. In einer Diskussionsrunde, zu der wir herzlich einladen, werden wir der Frage nachgehen, wie ein International Experimental Film Congress, sollte er nach 20 Jahren erneut stattfinden, heute aussähe. Die Filmprogramme sind teilweise Teil des "Double Vision" Tourprogramms. "Double Vision" wurde organisiert vom Images Festival (Toronto) and the Canadian Filmmakers Distribution Centre (CFMDC) und ermöglicht durch die großzügige Unterstützung des Canada Council for the Arts. Mit freundlicher
Unterstützung der Botschaft von Kanada. (9.–11.11.)

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