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Die Reihe wird mit dem ersten Zanzibar-Film eröffnet, der auf Wunsch von Silvina Boissonas von ihrem Bruder finanziert wurde, Serge Bards bemerkenswertem Debüt DÉTRUISEZ-VOUS: LE FUSIL SILENCIEUX (1968). Bard war die vielleicht zentralste Figur der Gruppe. Er gab ihr den Namen und wollte sie 1969 auf einer Expedition durch Afrika bis zur Insel Sansibar führen. Die Gruppe brach die Reise jedoch auf halbem Weg ab und hat ihr Ziel nie erreicht. In Algier konvertierte Bard, der sich heute Abdullah Siradj nennt, zum Islam und beendete seine kurze Karriere als Filmemacher nach nur drei Produktionen. Von allen Zanzibar-Filmen verweist DÉTRUISEZ-VOUS aufgrund seiner an die Screen-Tests erinnernden Momente mit dem atemberaubenden jungen Model Caroline de Bendern am stärksten auf die Ästhetik Andy Warhols. Anders als bei Warhol ist Bards Film jedoch ein ideologisch aufgeladener Aufruf zur Revolution, ein Film, der Shafto zufolge "unter dem Einfluss von Godards La Chinoise entstand" und die Studentenbewegung vorwegnahm. De Benderns weibliche Vertraute im Film wird von der revolutionären Schauspielerin Juliet Berto gespielt. (11.1.) Bards andere beiden Filme, FUN AND GAMES FOR EVERYONE (1968) und ICI ET MAINTENANT (1968), wurden von dem berühmten Kameramann Henri Alekan (Cocteau, Gance) gedreht und kommen in brandneuen 35mm-Kopien zur Aufführung. FUN AND GAMES ist eine Art Happening, das während einer Ausstellungseröffnung des Malers Olivier Mosset gedreht wurde. Gäste wie Salvador Dalí und Barbet Schroeder feierten mit der Zanzibar-Szene. (12.1.) ICI ET MAINTENANT mit Mosset und der anmutigen de Bendern war für Alekan besonders wichtig. Er versuchte, die kontrastreichen schwarz-weißen Bilder ohne Grautöne zu produzieren und erschuf dabei eine einzigartige Ästhetik, die an Fotokopien erinnert. (19.1.) Philippe Garrel ist sicherlich der bekannteste Filmemacher der Zanzibar-Gruppe. In den 1960ern als Wunderkind der französischen Filmszene gehandelt, wurden Garrels Filme wichtige Referenzen für andere Zanzibar-Künstler. MARIE POUR MEMOIRE (1967) nimmt die von Boissonas finanzierten Filme vorweg und kann in vielerlei Hinsicht als ihr Vorreiter bezeichnet werden. Die Sängerin und Schauspielerin Zouzou spielt Marie, die durch eine Partnervermittlung Jesus kennenlernt. (29.1.) LE REVELATEUR (1968) ist eine elektrisierende stumme Studie über eine Art heilige Familie auf der Flucht. Gedreht in Süddeutschland mit den Schaupielerinnen Bernadette Lafont und Laurent Terzieff, scheint der Film von aktueller und historischer Gewalt eingeholt zu werden. (22.1.) Der Filmemacher Patrick Deval, ein Freund des Kritikers Serge Daney, produzierte zwei Filme unter Boissonas Schirmherrschaft. Sein Film ACEPHALE (1968) ist Shafto zufolge der literarischste Zanzibar-Film. Der Titel stammt von George Batailles gleichnamiger Zeitschrift und bedeutet "Kopfloser": "eine Metapher dafür, sich jenseits des rationalen Denkens zu begeben" (Shafto). Der Film zeigt eine Gruppe von Freunden, die durch ein fast apokalyptisches Paris im Post-Mai 1968 ziehen. (16.1.) VITE (1969), der von dem Maler Daniel Pommereulle gedreht wurde, war die teuerste Zanzibar-Produktion, dank des Gebrauchs eines Teleskops, das Pommereulle benutzte, um den Mond zu filmen. Die Sicht des Films auf Afrika ist eine aggressive Anklage gegen die Leere der europäischen bourgeoisen Kultur. (16.1.) Als Warhols Superstar Viva (Lonesome Cowboys u.a.) und die Velvet Underground-Sängerin Nico 1968 New York verlassen hatten, tauchten sie in der Pariser Zanzibar-Szene wieder auf. Beide heirateten Zanzibar-Filmemacher und setzten ihre Karriere in Europa fort. Viva war für längere Zeit mit Michel Auder zusammen, Nico mit Philippe Garrel. Im Rahmen von "Forum expanded" werden wir im Februar Garrels Le lit de la vierge (1969) zeigen, der in einer magischen Szene Nicos Stimme auf gespenstische Weise einsetzt.
Der ehemalige Modefotograf und Pariser Underground-Figur Auder ist ein Pionier der Videokunst. Wir zeigen drei frühe Arbeiten von Auder – zwei Filme und ein Video –, die uns von Europa nach New York bringen. KEEPING BUSY (1969), finanziert von Boissonas und teilweise mit Garrels 35mm-Kamera gefilmt, wurde mit Viva und dem Warhol-Star Louis Waldon in Rom gedreht, während die Zanzibar-Gruppe mit Garrel herumhing, der Le lit de la vierge schnitt. Der Film zeigt mit Warholschem Blick die Banalitäten des Alltag der Superstars. (28.1.) VIVA BOOKSIGNING (1970) wurde mit einer der ersten Sony-Kameras gedreht und fängt Viva ein, wie sie auf einer Party in New York ihren Schlüsselroman "Superstar" signiert. In der Menge sehen wir Jack Smith und Warhols Drag-Superstar Mario Montez, den Ehemann der Diva Maria Montez, Jean-Pierre Aumont und den flüchtenden Philippe Garrel. (28.1.) Auders episches Kostümdrama CLEOPATRA (1970) zeigt Viva in der Titelrolle neben den Warhol-Stars Taylor Mead, Louis Waldon, Ultra Violet und Ondine. (30.1.) Obwohl Andy Warhol sicher der berühmteste Künstler in dieser Reihe ist, fanden seine Filme leider häufig nur marginal Eingang in die Diskussionen über seiner künstlerische Arbeit. Dadurch ist die Mehrzahl seiner über 500 Filme nie einem Publikum vorgeführt worden. Warhol fing 1963 an, Filme zu machen. Bis 1969 kümmerte er sich selbst um die Dreharbeiten der vielen Filme, bevor er die Regie an seinen langjährigen Assistenten Paul Morissey übergab. Die von Warhol produzierten, kommerziell zugänglichen Filme Morrisseys sind nach wie vor die einzigen, die einem breiten Publikum zur Verfügung stehen. Die meisten der früheren Filme Warhols, die von Jack Smith beeinflusst sind und die Zanzibar-FilmemacherInnen inspiriert haben, sind kaum bekannt. Eine ausführliche Retrospektive dieser mehr als 100 Filme ist zum jetzigen Zeitpunkt leider nicht zu finanzieren. Wir werden eine Auswahl neurestaurierter und selten im Kino gezeigter Warhol-Filme präsentieren, die es ermöglichen, die Bezugspunkte und Unterschiede zwischen der amerikanischen und europäischen Underground-Filmszene zu verdeutlichen. SCREEN TEST #1 and SCREEN TEST #2 (beide 1965) sind zwei 66-minütige Tonfilme, die die Gesichter der von Ronald Tavel aus dem Off Interviewten in Nahaufnahme zeigen. Der erste und weniger bekannte Film zeigt, wie Tavel Warhols damaligen Freund Philip Fagan befragt und ihn dabei beschämt. (14. & 21.1.) Im zweiten Film ist Warhols erbarmungslose Kamera auf die Drag Queen Mario Montez gerichtet, während diese von Tavel mit erst witzigen, zunehmend verstörenden Aufgaben konfrontiert wird. (14. & 28.1.) Warhols IMITATION OF CHRIST von 1967 wurde an dem Tag gedreht, als Taylor Mead aus Europa zurückkehrte. Mead ist neben Nico, Ondine, Brigid Berlin, Ultra Violet und dem ehemaligen Kinderstar Patrick Tilden-Close zu sehen. Diese dramatische Komödie gibt einen Einblick in die unterschiedlichen Umsetzungen des Jesus-Mythos durch Warhol und die Zanzibar-Szene. (29.1.) MRS. WARHOL (1966) ist ein seltener Blick auf Warhols Mutter, wie sie von ihrem Sohn in ihrem Apartment aufgenommen wurde. Sie ironisiert und redet über sich wie eine von Warhols Leinwand-Göttinnen. Das filmische Fragment SINCE (1966) ist eine Ausnahme in Warhols Werk. Der betörend schöne Farbfilm ist eine Wiederaufführung von John F. Kennedys Ermordung und dessen medialer Aufbereitung, mit Ondine als LBJ, Mary Woronov als Kennedy und der Factory-Couch als Limousine und vielen andere Factory-Figuren als Dekoration. (31.1.) Außer diesen lange Spielfilmen enthält die Reihe auch einige Beispiele der kurzen, in schwarz-weiß gedrehten Stummfilme Warhols, die Besucher der Factory zwischen 1964 und 1966 porträtieren. Diese SCREEN TESTS sind, wie Callie Angell, die Kuratorin des Museum of Modern Art und des Whitney Museum of American Art's Andy Warhol Film Project (New York) feststellt, "zentral für Warhols Arbeit als Porträt-Künstler im Medium Film und Malerei". Angell hat kürzlich den ersten Band des catalogue raisonné zu Warhols Filmen veröffentlicht. Wir freuen uns, diese bedeutende Expertin für Warhols Werk im Februar in Berlin begrüßen zu können: Callie Angell wird in zwei weitere Filme Warhols einführen, die im Laufe von "Underground, Übersee" im Rahmen von "Forum expanded" gezeigt werden. Warhols SCREEN TESTS mit Leuten wie Ultra Violet, Nico, Ronald Tavel, Jack Smith, Edie Sedgwick, Mary Wornov und anderen werden jeweils vor den Vorführungen der verschiedenen Langfilme gezeigt. Zwölf Jahre, nachdem Warhol seine Produktion der Screen Tests beendete, begann der französische Filmemacher Gérard Courant ein ähnliches Projekt. Courants CINEMATONS sind stumme, dreieinhalb Minuten lange Porträts von Persönlichkeiten der Kunst- und Kulturszene, unter anderem der Zanzibar-Gruppe. Das Projekt begann 1978 und setzt sich bis heute als visuelles Archiv von Künstlern und Denkern in privaten, kontemplativen Momenten fort. Eine kleine Auswahl von Courants mehr als 2000 CINÉMATONS wird ebenfalls zusammen mit Zanzibar-Filmen präsentiert. Courant war auch dabei, als es 1999 ein historisches Wiedertreffen der Zanzibar-Gruppe in einem Pariser Café gab, das Sally Shafto und Jackie Raynal organisiert hatten. Die Aufnahmen dieses Treffens aus Courants Carnets filmés, DERRIERE LA NUIT, werden zusammen mit einer Präsentation von Shafto zu sehen sein. (22.1.) Die Zanzibar-Filme sind Teil einer größeren Pariser Underground-Szene der 1960er Jahre. Um die Vielfalt und Produktivität dieser Szene zu verdeutlichen, werden Filme von Piero Heliczer, Etienne O'Leary, Taylor Mead und Diourka Medveczky gezeigt. Der italienische Dichter und Filmemacher Heliczer arbeitete eng mit Jack Smith und Warhol zusammen, bevor er nach Paris ging und 1967 die "Paris Filmmaker's Coop" gründete. Heliczers DIRT (1966) ist ein wunderschöner, in Schwarz-Weiß und Farbe gedrehter Film, der Männer in Drag, Matrosen (von denen einer Mario Montez in jungenhaftem Drag ist) und ein Bad voller Schönheiten zeigt. (12.1.) THE AUTUMN FEAST (1961) ist eine frühe Arbeit von Heliczer, mit dem britischen Filmemacher Jeff Keen als Kameramann und mit Musik von Angus Maclise und Tony Conrad. Jack Smith schrieb über diesen Film: "The Autumn Feast lays bare (there should be something that rhymes with hair here or bare there) the mystic structure behind orange domes and cardboard battlements and gilded gables of our Pasty National Howard Johnson Bagdad. It rubs the very noses of out mannequins in our own mold and sends us spinning into the street – undone and toothless." (14.1.) ST. THERESE, PT. 2 (1969) ist ein Beitrag von Heliczer zur Auseinandersetzung mit dem Jesus-Mythos. Etienne O'Leary aus Québec war eng mit dem Künstlerkreis um das Underground-Genie Pierre Clémenti verbunden. O'Learys Filme, die Clémenti und viele Pariser dazu ermutigten, die Kamera in die Hand zu nehmen, präsentierten einige Akteure der Pariser Underground-Szene. (19.1.) HOMEO: MINOR DEATH ETC. COMING BACK FROM GOING HOME (1966–7) zeigt fast alle bekannten Gesichter der Szene dieser Zeit, darunter Clémenti, Heliczer, Auder, Berto and Mead. In CHROMO SUD (1968) tritt außerdem der berühmt-berüchtigte Künstler Pierre Molinier auf. In diesem Film sind auch seltene Farbaufnahmen von den Protesten des Mai 68 zu sehen. (26.1.) Taylor Mead ist eine wichtige Erscheinung im Paris der 60er Jahre. Er präsentierte nicht nur viele der amerikanischen Underground-Filme einem Pariser Publikum, bevor P. Adams Sitney dies in einer Retrospektive in der Cinémathèque Française im November 1967 tat (und auf Einladung der Freunde der Deutschen Kinemathek in der Akademie der Künste Berlin). Mead machte außerdem einen einflussreichen, aber selten gezeigten eigenen Film EUROPEAN DIARIES (1967). "Nachdem ich Meads Film gesehen habe, konnte ich nicht mehr nur einfach schauen. Es war so viel zu sehen!" (Julian Beck). (26.1.) Ein besonderer Film von einer Filmemacherin, der auch in der Sitney-Retrospektive gezeigt worden war, ist WRESTLERS (1964) von Marie Menken. Das hyperaktive Porträt eines Wrestling-Kampfes, das Menken vom Fernsehen abfilmte, hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit der letzten Szene in Serge Bards Film DETRUISES-VOUS. (11.1.) Der ungarische Bildhauer Diourka Medveczky traf und heiratete die außergewöhnliche Schauspielerin Bernadette Lafont in den frühen 60ern. Ende der 60er drehte er drei Filme, von denen nur zwei erhalten sind. Der Kurzfilm MARIE ET LE CURE (1967) basiert auf einer Erzählung von Marcel Jouhandeau über einen Priester, der sein Hausmädchen (Lafont) vergewaltigt und tötet. Zu den verstörenden Bildern präsentiert der Film einen gegensätzlichen elektronischen Soundtrack. (22.1.) Medveckys einziger langer und visuell faszinierender Film PAUL (1969) zeigt Lafont neben Jean-Pierre Léaud, der einen jungen bourgeoisen Mann spielt, dessen Frustration mit der Gesellschaft ihn in die Abenteuer mit einer Gemeinschaft von Pilgern und Vagabunden führt. In diesen Filmen, die bisher nur im Kontext von Filmfestivals gezeigt wurden, erkennt man eine Affinität zu der Underground-Ästhetik der Zanzibar-Filme (vor allem zu Garrel), aber auch zu Regisseuren wie Buñuel und Bresson. (23.1.) An beiden Abenden wird Sally Shafto zu Gast sein. Als Begleitung zu der Reihe zeigen wir im Januar zwei Filme in unserer Black Box. Frédéric Pardos HOME MOVE: AUTOUR DU LIT DE LA VIERGE (1969) bietet einen wunderschönen Blick auf die Zanzibar-Gruppe bei den Dreharbeiten von Garrels Film. In Jackie Raynals ZANZIBAR: UN DOCUMENTAIRE (2001) erinnern sich Raynal und die andere Dandies des 1968 an ihr damaliges künstlerisches Schaffen. Wir freuen uns ganz besonders, dass wir Raynal als Gast beim diesjährigen Forum begrüßen können, wo sie ihren Film Deux fois (1968) zeigen wird, eine bedeutsame Zanzibar-Produktion und ein faszinierendes Beispiel des feministischen Gegenkinos. Wir bedanken uns bei Jackie Raynal, deren Begeisterung die Planung und Durchführung dieser Reihe begleitet hat. (Marc Siegel) "Underground/Übersee" wurde kuratiert von Marc Siegel und wird realisiert mit der großzügigen Unterstützung durch den Hauptstadtkulturfonds. Die Reihe wäre nicht möglich gewesen ohne die Forschungsarbeit, das Wissen und die herzliche und tatkräftige Unterstützung von Sally Shafto. Unser Dank gilt weiterhin: den beteiligten FilmemacherInnen, Bernadette Lafont, Denis O’Leary, Callie Angell, Pip Chodorov (Re:Voir/Paris), Valérie Scognamillo und Gaëlle Vidalie (Cinémathèque Française), Pierre Jutra (Cinémathèque Québecoise), Kitty Cleary (MOMA Circulating Film Library/New York), Benjamin Cook und Mike Sperlinger (LUX/London), Jerry Tartaglia, Susanne Sachße, Diana Aurisch und Michaela Wünsch.

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