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"Das einzige, was ich akzeptiere, ist Verzweiflung", sagt Fassbinder in der Rolle des Aufnahmeleiters in WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1970). Der Film „handelt eigentlich von den Dreharbeiten zu WHITY (1970). (…) Das eigentliche Thema ist, wie die Gruppe arbeitet und wie Führer-Positionen entstehen und ausgenützt werden.(…) Mit diesem Film haben wir endgültig unsere erste Hoffnung, das antiteater, begraben. Ich hatte keine Ahnung, wie es danach weitergehen sollte, aber ich wusste, dass es, so wie es war, nicht weitergehen konnte." In einem Hotel irgendwo am Meer in Spanien wartet ein Filmteam auf den Regisseur, den Star, das Förderungsgeld aus Bonn und das Filmmaterial. Als der Regisseur Jeff (Lou Castel) zusammen mit dem Star (Eddie Constantine als Eddie Constantine) eintrifft, wird er sofort zum Mittelpunkt des Chaos. Ein Moment der Verjüngung: Als FBI-Agent Lemmy Caution und durch zahlreiche andere Rollen war Constantine in den 50er Jahren bekannt geworden, in den 60ern war etwas Ruhe für den Schauspieler eingekehrt. (1. & 2.5.)
WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE verhalf ihm zu einer neuen Karriere im Neuen Deutschen Film, und so spielte er nach John und Jane einen Partygast in Rudolf Thomes SUPERGIRL (1971): Iris Berben kommt darin als Supergirl auf die Erde und verwirrt die Erdbewohner- vor allem die männlichen, darunter Marquard Bohm und RWF – indem sie vor einem Angriff aus dem Weltall warnt. Eddie Constantine wird später noch einmal in Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin zu sehen sein. (1. & 3.5.) Zweimal hatte RWF es schon für die Bühne bearbeitet und inszeniert, 1968 am antiteater und 1970 in Bremen. Nun folgte die Verfilmung des Stücks von Marie Luise Fleißer, das in seiner Brechtschen Inszenierung 1929 einen Skandal ausgelöst hatte: PIONIERE IN INGOLSTADT (1971). Wenn in Ingolstadt Pioniere stationiert sind, leben die Mädchen auf. Je nach Temperament und Veranlagung suchen sie nur einen Liebhaber oder die große Liebe. Während Alma (Irm Hermann) mit verschiedenen Soldaten anbandelt, hat das Dienstmädchen Berta (Hanna Schygulla) sich in den zunächst schüchternen Karl (Harry Baer) verliebt. (7. & 11.5.)
Harry Baer war an den meisten Fassbinder-Produktionen beteiligt, zunächst als Schauspieler, später auch als Regieassistent, Produktionsleiter und künstlerischer Mitarbeiter. Am 11.5. dürfen wir ihn im Arsenal begrüßen. 1972 spielte er die Hauptrolle in Hans Jürgen Syberbergs LUDWIG, REQUIEM FÜR EINEN JUNGFRÄULICHEN KÖNIG, dem ersten Teil einer Film-Trilogie, die Syberberg mit Karl May fortsetzte und mit Hitler, ein Film aus Deutschland abschloss. Syberberg erzählt die tragische Geschichte des frankophilen, pazifistischen und drogenabhängigen Ludwig II., des Königs von Bayern. Er verkaufte das Bayerische Königreich an Deutschland, ließ riesige Fantasie-Schlösser bauen, lebte seine Homosexualität frei aus und gehörte zu den großen Förderern Richard Wagners. (4.5.) HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN (1971) erzählt vom Ex-Fremdenlegionär und Ex-Polizisten Hans Epp (Hans Hirschmüller), der als Obsthändler mit seinem Karren durch die Hinterhöfe zieht. In seinem Leben ist schon vieles schief gelaufen. "Der 'Händler' ist nach einer Zeit entstanden, in der ich mich sehr intensiv mit den Melodramen von Douglas Sirk beschäftigt habe, und ich hab' ein paar Elemente, die ich da begriffen hatte, von denen ich auch begriffen hatte, dass das Publikum sie mag und sich dafür interessiert, halt da rein getan. (…) Damals, als ich angefangen habe, haben mir halt so ganz kühle, stilisierte, kalkulierte Filme besser gefallen als so Dramen. Mittlerweile gefallen mir die Melodramen besser." Hans Hirschmüller war Theaterschauspieler und -regisseur, letzteres hauptsächlich von Fassbinderstücken. Wir zeigen Hirschmüller auch in dem Kurzfilm DIE VERSÖHNUNG von Rudolf Thome (1964): "Wirklich eine einfache, alltägliche Geschichte: ein Mann holt eine Zeitung, frühstückt gelangweilt mit seiner Frau, geht aufs Oktoberfest und trifft eine junge Frau, die ihn durch ihr Selbstbewusstsein verwirrt zurücklässt, er kommt nach Hause, die Frau, im durchsichtigen Negligée, lustlos: 'Ich dachte, du würdest später kommen.'" (Karl-Heinz Oplustil) (6. & 7.5.) Es ist uns eine ganz besondere Freude, Irm Hermann am 13.5. im Arsenal begrüßen zu dürfen. "Wie keine andere Schauspielerin", so war kürzlich in der "taz" zu lesen, "verkörperte sie in den 70er Jahren so etwas wie die dunkle Seite des deutschen Spießbürgertums. Aus Irm Hermanns Mund konnten selbst Sätze wie 'Wir haben noch Ente mit Rotkohl' etwas zutiefst Bedrohliches annehmen." Als die einstige ADAC-Sekretärin Fassbinder begegnete, begann eine innige und spannungsreiche Beziehung, die nicht wenigen Filmen eine beunruhigende Kraft verlieh, die einen bis heute in die Tiefe zu reißen scheint und gleichzeitig den Kopf schütteln lässt. In DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (1972) spielt sie die Dienerin Marlene, die mit der erfolgreichen Modedesignerin Petra von Kant (Margit Carstensen) zusammenlebt. Ihre Chefin verliebt sich in die zehn Jahre jüngere Karin. Als sich Karins Mann überraschend zurückmeldet, zieht Karin wieder zu ihm. Petra verzweifelt. Sie bietet Marlene, die sie wie ein Möbelstück behandelt hatte, Freiheit und Vergnügen an. Marlene, die nie ein Wort sprach, packt den Koffer und verlässt Petra. (13.5., in Anwesenheit von Irm Hermann, & 15.5.)
1975 verließ Irm Hermann die Fassbinder-Clique und zog nach Berlin um. In Percy Adlons FÜNF LETZTE TAGE (1982) spielte sie neben Lena Stolze die Rolle der Zellengenossin von Sophie Scholl, die deren Zeit vor ihrer Hinrichtung schildert. (14. & 15.5.) "MARTHA (1974) ist Fassbinders schnörkellosestes Melodram. Es erzählt, wie der eine Mensch am andern zu Grunde geht. Margit Carstensen ist nun Martha, 30-jährig, wohlhabend, unerfahren, vaterfixiert. Karlheinz Böhm ist Helmut, schniek, erfolgreich, berechnend. Erst unterweist er sie darin, was sie nun als Gattin zu sagen hat, zu lesen, hören und denken. Dann kündigt er ihren Job. Meuchelt ihre Katze. Verfügt über ihren Körper. Ein sadistischer Pygmalion, dessen Lächeln stets zu verstehen gibt, dass alles zu Marthas Bestem geschieht. Woran auch sie lange keine Zweifel hegt." (Urs Richter) (8. & 9.5.)
Zwei Jahre später spielen Margit Carstensen und RWF in Ulli Lommels satirischem Spielfilm ADOLF UND MARLENE (1976), einer fiktiven "Begegnung zwischen zwei Figuren der deutschen Geschichte bzw. des deutschen Films, die noch Jahrzehnte später die fernsehdokumentarische Fantasie von Guido Knopp beschäftigt haben: Adolf Hitler und Marlene Dietrich. Hitler sieht einen Dietrich-Film und verfällt in solche Leidenschaft für die Schauspielerin, dass er ihr Joseph Goebbels hinterherschickt, um sie 'heim ins Reich' zu holen." (Filmportal) (4. & 12.5.) Fassbinder versuchte immer, Verbindungslinien zu seinen Vorbildern herzustellen und an vergangene Kinotraditionen anzuknüpfen. Dazu gehörte auch, Schauspieler des vom Neuen Deutschen Film gehassten "Papas Kino" wieder zu entdecken. Mit Brigitte Mira nutzte er das Star-Potenzial einer populären Schauspielerin des deutschen Unterhaltungsfilms für seine Filme. In ANGST ESSEN SEELE AUF (1974) hatte sie ihre erste Hauptrolle in einem Fassbinder-Film. Sie spielt darin die 60-jährige Putzfrau Emmi, die sich in den viel jüngeren marokkanischen Gastarbeiter Ali verliebt. Als die beiden heiraten, wendet sich die Umwelt von ihnen ab. Der äußere Druck hinterlässt bald auch Spuren in der Beziehung. (18. & 19.5.)
Durch die Fassbinder-Filme wurden auch andere Regisseure des Neuen Deutschen Films auf Brigitta Mira aufmerksam, etwa Werner Herzog, der sie in JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (1974) besetzte. Die Kaspar-Hauser-Verfilmung ist weniger an den äußeren Fakten des Findlings, sondern an dessen emotionaler und intellektueller Entwicklungsgeschichte, seinen erwachenden Empfindungen angesichts von Sprache und Musik interessiert. Der aus der Ordnung gefallene Kaspar Hauser soll zum Menschen zurechtgebogen werden. (16. & 20.5.) "Einen Film über eine vergangene Zeit aus unserer Sicht" war Fassbinders Credo für seine historischen Filme, darunter FONTANE EFFI BRIEST (1974). Es war der erste Fassbinder-Film, für den Barbara Baum die Kostüme machte und der den Beginn einer langen Zusammenarbeit bis zu seinem Tod markierte. "Dies ist kein Frauenfilm, sondern ein Film über Fontane, über die Haltung eines Dichters zu seiner Gesellschaft. Es ist kein Film, der eine Geschichte erzählt, sondern es ist ein Film, der eine Haltung nachvollzieht. Es ist die Haltung von einem, der die Fehler und Schwächen seiner Gesellschaft durchschaut und sie auch kritisiert, aber dennoch diese Gesellschaft als die für ihn gültige anerkennt." (RWF) (21. & 22.5.)
Barbara Baum kam 1970 als Kostümbildnerin zum Film, und arbeitete mit verschiedenen Regisseuren des Neuen Deutschen Films wie Peter Lilienthal, Peter Fleischmann und Reinhard Hauff zusammen. 1971 schuf sie die Kostüme für den historischen Film MATHIAS KNEISSL (Reinhard Hauff, 1971), in dem auch RWF, Irm Hermann, Eva Mattes und Hanna Schygulla mitspielten. Der Anti-Heimatfilm erzählt vom legendären bayerischen Räuber Mathias Kneissl. Er kommt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt ins Gefängnis, versucht nach der Entlassung vergebens auf ehrliche Weise durchzukommen und wird alsbald wieder straffällig. (22. & 23.5.) Der 1986 mit 43 Jahren verstorbene Peter Chatel wurde in den späten 60er Jahren beim Fernsehen entdeckt und drehte in der Folge mit verschiedenen europäischen Regisseuren. 1971 begann eine fruchtbare Zusammenarbeit mit RWF, die zu sieben gemeinsamen Filmen führte. Chatel gehörte auch Fassbinders Ensemble vom Theater am Turm in Frankfurt an und schrieb und inszenierte selber Theaterstücke. In Fassbinders FAUSTRECHT DER FREIHEIT (1974) spielt Peter Chatel Eugen, den arroganten Sohn einer Unternehmerfamilie. Der arbeitslose Schausteller Franz Biberkopf (gespielt von Fassbinder) gewinnt eine halbe Million. Zeitgleich verliebt er sich in Eugen, dessen Firma Franz mit seinem Gewinn sanieren soll. Sein Wunsch, das Leben eines angesehenen Bürgers zu führen, macht ihn eine Zeit lang blind für die Realität des Lebens. (25. & 27.5.)
Peter Chatel wirkte auch in Daniel Schmids 1972 entstandenem Debütfilm HEUTE NACHT ODER NIE mit. Eine reiche Frau veranstaltet alljährlich eine Soirée, bei der es Sitte ist, dass die Bediensteten von den Herrschaften bedient werden. Zum Fest engagierte Schauspieler versuchen, die Diener zur Revolution zu bewegen. Diese missverstehen die Aufforderung jedoch als komödiantische Nummer und können darüber nur lachen. Daniel Schmid kombiniert in seinem opernhaften Film eklektische Elemente wie Hollywood-Zitate und eine Vielfalt von musikalischen Stilen, um eine Genetsche Geschichte von Herrschaft und Knechtschaft zu erzählen (26. & 27.5.) Ingrid Caven traf Fassbinder 1968 und wurde Mitglied im antiteater. Später spielte sie in zahlreichen seiner Filme vor allem in Nebenrollen mit, sowie in vielen Filmen anderer deutscher Regisseure. Von 1970–1972 waren Caven und Fassbinder verheiratet. Seit den 1970er Jahren ist Ingrid Caven als Chansonsängerin hauptsächlich in Frankreich bekannt. In MUTTER KÜSTERS' FAHRT ZUM HIMMEL (1975) spielt sie die Tochter der titelgebenden Figur, eine skrupellose Nachtclubsängerin. Mutter Küsters ist die Frau eines Arbeiters, der aufgrund drohender Massenentlassungen seinen Vorgesetzten und sich selbst erschießt. Um das Andenken ihres Mannes kämpfend, wendet sie sich hilfesuchend zunächst an Journalisten, die sie jedoch nur ausnutzen, und schließlich an einen Anarchisten, dessen Aktionen im Desaster enden. (28. & 30.5.)
Eine Sängerin spielt Ingrid Caven auch in LA PALOMA (1974), ein schwelgerisches Melodram von Daniel Schmid. Der Graf Isidor liebt seit Jahren die Tingel-Tangel-Sängerin La Paloma und reist ihr zu allen Auftritten nach. Erst als sie ernsthaft an Schwindsucht erkrankt, gibt sie seinen Avancen nach. (28. & 31.5.) Die Reihe wird im Juni und Juli fortgeführt. Kuratiert von Milena Gregor, Stefanie Schulte Strathaus und Marc Siegel. Ein Projekt in Kooperation mit KW – Institute for Contemporary Art anlässlich von "Fassbinder: Berlin Alexanderplatz – Eine Ausstellung", kuratiert von Klaus Biesenbach (www.kw-berlin.de). Dank an Juliane Lorenz, Erika und Ulrich Gregor, Gaby Horn, Markus Müller und Clara Burckner.

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