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Fassbinders ANGST VOR DER ANGST (1975) zeichnet zunächst das Bild einer Kleinfamilienidylle. Scheinbar grundlos bricht bei der Mutter die Krankheit aus. Plötzlich fängt alles an zu schwimmen, in der Ordnung, die bisher Schutz gewährte, ist kein Halt mehr: sie wird zum Albtraum. Fassbinder zeigt, wie gutbürgerliche Eigenschaften – Strebsamkeit, familiäre Hilfsbereitschaft, erotische Zuneigung – in Formen der Gewalt umschlagen können und wie sie die kranke Frau in die Isolation treiben. Das Spiel der Darsteller, die Inszenierung, die Montage von Bildern und Tönen zerbrechen den schönen Schein des Alltags und lassen dahinter Menschen erkennen, die ihrer Angst nicht entfliehen können. (1. & 3.6.)
Kameramann Jürgen Jürges, der u. a. auch mit Volker Schlöndorff, Norbert Kückelmann, Wim Wenders und Michael Haneke gearbeitet hat, wurde 2002 zum Ehrenkameramann des Jahres ernannt – er sei "ein Meister in der Kunst der Kameraführung", so der Leiter des Deutschen Kamerapreises Köln. Seine sensible Handschrift trug auch zum Erfolg von Robert van Ackerens DIE FLAMBIERTE FRAU, dem Kinohit des Jahres 1983, bei. Auch hier ist die Grundanordnung die Enge der Kleinbürgerlichkeit. Doch die Promotionsstudentin Eva bricht aus den Konventionen der Bourgeoisie aus: angeödet verlässt sie ihren Mann und wird zur Edelprostituierten. Der Film beobachtet die Gepflogenheiten des gehobenen Bürgertums mit zynischem Blick, zeigt die tabuisierte Welt von Spannern, Sadomasochisten und Fetischisten nicht voyeuristisch, sondern anhand einer zarten Liebesgeschichte, die an der Unmöglichkeit scheitert, käufliche und private Liebe zu verbinden. (2.6.) "Der Poet Walter Kranz, zu 1968er Zeiten als 'Dichter der Revolution' gefeiert, ist völlig heruntergekommen. Als ihm nach Jahren der kreativen Krise wieder ein Gedicht gelingt, stellt sich heraus, dass es von Stefan George stammt. Kranz zieht die Konsequenz und stilisiert sich zum Großen Meister George hoch, komplett mit einer Jünger-Schar aus Strichjungen und schönen Seelchen. Als der Hokuspokus auffliegt, findet Kranz zu seiner Schaffenskraft zurück und schreibt ein neues Erfolgswerk: 'Der Faschismus wird siegen oder Keine Feier für den toten Hund des Führers'. Fassbinders 'neues Erfolgswerk' ist SATANSBRATEN (1975/76), eine Fortführung der Auseinandersetzung um Führungsprobleme im Kollektiv (Warnung vor einer heiligen Nutte) und der zur Lächerlichkeit herabgewirtschafteten Revolution (Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel); eine wilde autobiografische Angelegenheit von schreckenerregender Komik.“ (Fischer/Hembus) Während seiner Schaffenskrise versucht sich der Bornierte an einem Buch: "Interview mit einer Nutte". Die Auserwählte ist eine Dame namens Lana von Meyerbeer, gespielt von Y Sa Lo. (4. & 5.6.)
In Wolfgang Gremms Regiedebüt ICH DACHTE, ICH WÄRE TOT (1973) spielt sie eine 17-Jährige, die versucht, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen, da sie sich der Enge und den Erwartungen ihres bürgerlichen Umfelds nicht gewachsen fühlt. Sie wird jedoch gerettet und beginnt, sich neu mit ihrem Leben auseinander zu setzen. Ein Aufenthalt auf dem Land bringt sie zu sich. In ihrer Flucht nach vorne legt sie jede Opferhaltung ab und lernt, sich ihren überfürsorglichen Eltern entgegenzustellen. (4. & 6.6.) Ein weiterer Familienreigen ist der Film CHINESISCHES ROULETTE (1976). Eine Frau, ihr Geliebter, ihr Mann, seine Geliebte, die gehbehinderte Tochter und ihre stumme Erzieherin treffen sich überraschend auf einem Schloss, wo sie von der Haushälterin und ihrem schriftstellernden Sohn versorgt werden. "Das ist der erste meiner Filme, in dem ich die Geschichte nicht mehr anhand von Schauspielern erzähle. Sie handelt davon, dass die Personen so entfremdet sind, dass sie ihre Beziehungen zueinander fortsetzen, obwohl sie längst überstanden sind. Alle menschlichen Beziehungen wurden auf Wiederholungen und Rituale reduziert – das wollen wir aufdecken, aber nicht, indem wir zeigen, wie die Menschen sich eigentlich verhalten, oder wie sich das in ihren Gesichtern widerspiegelt, sondern wir wollen es mit den Bewegungen der Kamera zeigen. Wenn die Kamera sich sehr lange um etwas Totes herum bewegt, dann wird das Tote als tot erkennbar, und dann wird die Sehnsucht nach etwas Lebendigem entstehen können, und deshalb wird man sich danach sehnen, mit dem bürgerlichen Ritual zu brechen. Ich bin ziemlich sicher, dass es in de Filmgeschichte keinen einzigen Film gibt, der so viele Kamerabewegungen, Kamerafahrten und Gegenbewegungen der Schauspieler enthält wie dieser." (RWF). (7. & 8.6.)
Jene Meisterleistung stammt von dem mit seinen Kamerabewegungen berühmt gewordenen Michael Ballhaus (der im Februar den International Achievement Award 2007 der American Society of Cinematographers / ASC "in Anerkennung seiner künstlerisch wertvollen Beiträge zur globalen Kunst des Filmemachens" erhielt). Als weitere Kameraarbeit von Ballhaus zeigen wir einen Film, auf den man vielleicht nicht sofort kommen würde, den es aber unbedingt wiederzusehen gilt, den Erstlingsfilm von Jeanine Meerapfel MALOU (1980): Eine junge Berlinerin (Grischa Huber) erforscht obsessiv die Lebens- und Liebesgeschichte ihrer verstorbenen jüdischen Mutter (Ingrid Caven), die sich vor allem über die Männer in ihrem Leben definierte. Die Tochter glaubt, auf diesem Weg ihre eigenen Beziehungs- und Abhängigkeitsprobleme lösen zu können. (7.6.) Elisabeth Trissenaar verkörperte alle großen Frauenfiguren des klassischen Theaters, u. a. Lulu, Nora, Medea, Elektra. Mit Fassbinders BOLWIESER (1976) begann ihre Filmkarriere. Sie spielt die Brauereibesitzerstochter Hanni, die in einer oberbayerischen Kleinstadt in den 20er Jahren den Bahnhofsvorsteher Bolwieser heiratet. Er ist sexuell von ihr abhängig und unterwirft sich auch sonst ihren Befehlen und Wünschen. Die Scheinharmonie zerbricht, als Hanni erst mit dem früheren Schulkameraden und jetzigen Gastwirt Merkl, dann mit dem Friseur Schafftaler anbandelt, die sie auch geschäftlich an sich bindet. Bolwieser will die Realität nicht akzeptieren; er leistet einen Meineid, um seine Frau vor üblen Nachreden der Nachbarn zu schützen. (10. & 11.6.)
1983 spielt Trissenaar die Penthesilea in HEINRICH PENTHESILEA VON KLEIST, einem Film ihres Ehemannes, dem Theaterregisseur Hans Neuenfels. Der Film versucht drei Ebenen miteinander zu verknüpfen: Kleists Schauspiel "Penthesilea", die Assoziationen des Regisseurs während der Arbeit und eine imaginäre Biografie Kleists. Am Ende des Films ist Kleist mit seiner Titelfigur Penthesilea identisch. (11.6.) Wie BOLWIESER spielt auch Fassbinders EINE REISE INS LICHT – DESPAIR in den späten 20er Jahren: "Hermann Hermann war ständig auf der Flucht – vor sich selbst und vor der Gesellschaft. Jetzt, als er mit einem anderen Schokoladenfabrikanten über eine Fusion verhandelt, eigentlich eher darum bettelt, fürchtet er, im persönlichen wie politischen Strudel der Weltwirtschaftskrise zu versinken. Es ist ein Gefühl der Angst, das Hermann beschleicht, das ihn aber nicht lähmt oder in Agonie verfallen lässt. Er kämpft gegen das Braun, das naht. Alles um ihn herum scheint sich mehr und mehr auf diese Identität hin zu bewegen, sein Produktionsleiter Müller (Peter Kern) zum Beispiel, der über Versailles schimpft und eines Tages in brauner Uniform erscheint, sich den Kragen zurechtrückt, als ob er sich vergewissern wolle, dass er er ist, er aber als ein Ich, das seine Bestimmung im Führer gefunden zu haben scheint. Müller vergewissert sich seiner Männlichkeit, die eine neue Identität in Rasse und Nation als quasi weibliches Pendant annimmt – eine Entwicklung, die Hermann noch mehr Angst macht." (U. Behrens) (12. & 15.6.) Kultfigur Peter Kern, "Hair"-Musicalstar, Schauspieler des Neuen Deutschen Films, Regisseur eines radikal subjektiven Kinos, kämpfte immer um eine Gegenöffentlichkeit: "Den Mittelpunkt bestimmt das Mittelmaß, damit habe ich nichts zu tun. Jede Form der Anpassung ist ein Ausdruck der Unfreiheit". So nahm er auch finanzielle Disaster in Kauf, wie seine Produktion DIE INSEL DER BLUTIGEN PLANTAGE (1982), in der er selbst mitspielte und neben Kurt Raab Regie führte. Gedreht auf den Philippinen, erhielt der Film in Asien Kultstatus, während er in Deutschland schnell von der Leinwand verschwand. "Ein dunkles Kapitel der Geschichte der Fassbinder-Crew", so die einen, "eine Abrechnung Kurt Raabs mit Fassbinder", so die anderen. "Ein Mann mit finsterer Vergangenheit errichtet auf einer Insel mit Hilfe sadistischer Methoden und seiner Privatarmee eine grausame Diktatur. Doch ein Mitglied der Junta beginnt an ihm zu zweifeln und nimmt gemeinsam mit den Sklaven den Kampf gegen die Unterdrücker auf. Eine Trashperle um Diktator Globocnik, die 'blutige Olga' (Barbara Valentin) und ihre faschistoiden Schergen, die Insulanerinnen zwingen, Kokosnüsse zu verarbeiten. Doch Rettung naht in der Gestalt Udo Kiers. Bonus: Soundtrack von Jürgen Marcus und der Titelsong von Shane Colin – Die Insel ROCKT!" (www.besonderswertlos.de) (15.6.) Ganz anders DIE EHE DER MARIA BRAUN (1978). "Der Film ist ein Werk von episch-poetischer Qualität, das alle Personen, die in seine Konflikte verwickelt werden, mit Noblesse behandelt. Fassbinder liebt die Männer und die Frauen, und er hält sich fern vor der Diskriminierung des Körperlichen." (Truffaut)
Maria und Hermann Braun werden während des 2. Weltkrieges getraut. Nach nur einer Nacht muss Hermann an die Ostfront zurück. Bei Kriegsende ist er in Russland vermisst, Maria schlägt sich allein durchs Leben. Als er zurückkehrt, ermordet sie ihren neuen Freund. Hermann nimmt die Schuld auf sich und geht in Haft. Währenddessen arbeitet Maria im Büro des aus der Emigration zurückgekehrten Textilindustriellen Karl Oswald (Ivan Desny), der unheilbar krank ist und ihr für ihre Geschäftstüchtigkeit und ihre Bereitschaft, mit ihm zu schlafen, eine Erbschaft in Aussicht stellt. Auf diese Weise versucht Maria, am Wirtschaftswunder teilzuhaben und für sich und Hermann eine Existenz aufzubauen. (16. & 24.6.)
Ivan Desny, der auch in Meerapfels MALOU die Hauptrolle spielt, verkörperte bis zu seinem Tod im Jahre 2002 internationales Flair und weltmännische Eleganz. Auch in Wenders' FALSCHE BEWEGUNG (1974) spielt er einen Industriellen. Ein Schriftsteller reist auf Themensuche von Glückstadt über Hamburg und Bonn bis nach Frankfurt. Unterwegs trifft er ein ungleiches Paar, verliebt sich und freundet sich mit einem Dichter (Peter Kern) an. Der "Industrielle", dem sie begegnen und der die Gruppe einlädt, erhängt sich in den Weinbergen. Wilhelms Reise endet auf der Zugspitze in der berühmt gewordenen Einstellung, die Caspar David Friedrichs Gemälde "Der Wanderer über den Wolken" nachstellt. (22.6.) Die Reihe wird bis Ende Juli fortgesetzt. Ein Projekt in Kooperation mit dem KW – Institute for Contemporary Art. Dank an Marc Siegel, Erika und Ulrich Gregor, Gaby Horn, Markus Müller, Juliane Lorenz und Clara Burckner.

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