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Auch in Ulrike Ottingers BILDNIS EINER TRINKERIN (1979) spielt Volker Spengler einen Transvestiten, und auch ihr Film folgt den letzten Tagen seiner Protagonistin (Tabea Blumenschein) durch eine Stadt – in diesem Fall Berlin: "(…) Sie löste ein Ticket aller jamais retour Berlin Tegel. Sie wollte ihre Vergangenheit vergessen, vielmehr verlassen, wie ein abbruchreifes Haus. Sie wollte sich mit allen ihren Kräften auf eine Sache konzentrieren, ihre Sache; endlich ihrer Bestimmung zu leben war ihr alleiniger Wunsch. Anhand eines Werbeprospektes, der ihr als Bordlektüre von einer freundlichen Stewardess überreicht worden war, beschloss sie, eine Art Trinkplan aufzustellen. (…)" (Drehbuchauszug) (1.7.) DEUTSCHLAND IM HERBST (1977/78) enthält in sich schon unser Omnibusprinzip und wird deshalb mit keinem weiteren Film in Verbindung gebracht. Der Film ist Ausdruck eines Klimas, nicht zuletzt weil er aus mehreren Teilen von insgesamt 11 Regisseuren besteht: Alf Brustellin, Bernhard Sinkel, R. W. Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Peter Schubert, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff und Hans-Peter Cloos: "Der Film kommt in seiner musikalischen Leitmotivation immer wieder zurück auf Josef Haydns Kaiser-Hymne, das nachmalige so genannte 'Deutschlandlied'. Der nach rückwärts weisende Aspekt im Akustischen darf jedoch nicht davon ablenken, dass es im optischen Geschehen des Films sich ganz und gar um aktuelle, teils sehr spontane Reaktionen auf die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik handelt." (2. & 3.7.) DIE DRITTE GENERATION (1978) spielt im Winter 1978/79 in Westberlin. Eine Gruppe junger Leute, durch Geheimnistuerei (Code-Wort: "Die Welt als Wille und Vorstellung") und blinden Aktionismus, nicht durch politische Überzeugungen miteinander verbunden, setzt sich in den Untergrund ab, nachdem der aus Afrika eingeflogene Killer Paul (Raúl Gimenez) von der Polizei erschossen worden ist. Am 27. Februar, dem Karnevalsdienstag, entführen diese Jung-Terroristen den Vertreter einer amerikanischen Computerfirma, Peter Lenz (Eddie Constantine). Udo Kier, einst Dressman in London, danach Wanderschauspieler in vielen europäischen Ländern sowie zwischen Kunst und Trash, Kult und Kommerz, spielt darin einen Möchtegern-Komponisten aus reichem Elternhaus. 1984 drehte er einen Kurzfilm: "Bei Last Trip to Harrisburg habe ich nicht richtig Regie gemacht. Es war meine Idee, und ein Freund hat auf mich aufgepasst, aber es gab keine Regie in dem Sinne (…) Das war am Ende der Dreharbeiten zu BERLIN ALEXANDERPLATZ. Ich wollte einmal alles sein, Produzent, Regisseur, den Kameramann bezahlen und beide Rollen spielen. Aber auch da hat Fassbinder seine Handschrift druntergesetzt. Der hat mich synchronisiert. Das hat aber keiner gemerkt. Ich wollte eigentlich Texte von Jean Genet lesen, aber er drängte mir stattdessen die Bibel auf. Ich dachte, dafür bekomme ich bestimmt den Preis der katholischen Kirche. Aber die haben sich geweigert, weil ich Texte fand wie: 'Frauenhände, so zart empfindend, kochen ihre eigenen Kinder.'" (3.7.) "Das Dritte Reich über die faszinierenden Einzelheiten seiner Selbstdarstellung durchschaubar zu machen", war Fassbinders Anliegen mit LILI MARLEEN (1990): Die deutsche Barsängerin Wilkie verliebt sich 1938 in den Schweizer Komponisten Robert, einen Juden. Aufgrund einer Intrige von Roberts Vater kann Wilkie nach einer Deutschlandreise nicht zurück in die Schweiz. Die ehrgeizige Sängerin wird mit ihrem Lied "Lili Marleen" berühmt und steigt zum Star der nationalsozialistischen Propaganda auf. In ihrem Privatleben steht Wilkie jedoch am Ende vor einem Scherbenhaufen. (8.7.) Geschnitten hat Fassbinder den Film gemeinsam mit Juliane Lorenz, die heute die Fassbinder Foundation leitet. Zehn Jahre später zeichnete sie für den Schnitt von MALINA mitverantwortlich, der die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, die Drehbuchautorin Elfriede Jelinek, den Regisseur Werner Schroeter, die Darstellerin Isabelle Huppert und die Kamerafrau Elfi Mikesch zusammen brachte: "Die Frau – sie hat keinen Namen – ist Schriftstellerin. Sie lebt in Wien mit einem Mann namens Malina, der ihr Halt und Alltagsvernunft gibt. Eines Tages trifft die Frau auf Ivan und stürzt in eine maßlose Liebe, an der sie nur zerbrechen kann. Während sie immer deutlicher erfährt, dass der Mann solche radikalen Gefühle nicht erwidern kann, wird sie Gefangene ihrer Träume, ihrer Wohnung in Wien, in der sie ständig Briefe und Manuskripte in Flammen setzt." (Georg Seeßlen) (9.7.) Als Mieze in BERLIN ALEXANDERPLATZ gelingt Barbara Sukowa der Durchbruch vor der Kamera. In LOLA (1981) spielt sie die Titelrolle. In eine nordbayerische Kleinstadt kommt 1957 ein neuer Baudezernent (Armin Mueller-Stahl). Zuerst ein Außenseiter, widersetzt er sich schließlich nicht mehr den Bauplänen eines Unternehmers (Mario Adorf). Er heiratet die Prostituierte Lola, die er als Marie-Louise kennen gelernt hatte. (10. & 12.7.). Danach ist Barbara Sukowa in Margarethe von Trottas DIE BLEIERNE ZEIT (1981) zu sehen: Inspiriert von Stationen der Lebensgeschichte des RAF-Mitglieds Gudrun Ensslin erzählt von Trotta die fiktive Geschichte zweier Schwestern aus bürgerlichem Haus, die sich in den 1968ern auf sehr unterschiedliche Weise politisch engagieren: Als Journalistin und als Terroristin. (10.7.) Das Ehepaar Peter Märthesheimer und Pea Fröhlich schrieb gemeinsam das Drehbuch zu DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (1982). Veronika Voss, einst gefeierter UFA-Star, lebt in den 50er Jahren vergessen von Kritikern und Publikum einsam in München. Aus Frustration wendet sie sich dem Alkohol und dem Morphium zu, das ihr die skrupellose Ärztin Dr. Katz verschafft, die nicht daran denkt, sie zu heilen. Als ein Sportreporter Veronika kennenlernt, beschließt er, sie aus den Krallen der Ärztin zu befreien. (13. & 14.7.) Wo hört Filmarbeit auf, wo fängt Politik an? Als Filmredakteur des WDR zeichnete Peter Märthesheimer bereits 1969 verantwortlich für Klaus Lemkes BRANDSTIFTER, der in Köln in den Zeiten der APO spielt: Die Studentin Anka (Margarethe von Trotta) deponiert auf eigene Faust einen Brandsatz in der Wäscheabteilung eines Kölner Kaufhauses. Dabei handelt es sich um ein Requisit von den Dreharbeiten für einen Agit-Prop-Film (eine Anspielung auf Anleitung zum Bau eines Molotow-Cocktails von Holger Meins), der unter der Regie ihrer WG-Genossen entstand und im Film ausschnittsweise zu sehen ist. Bei ihrem Geständnis erklärt sie der Polizei: "Ich wollte einfach nicht länger hinnehmen (…), dass Leute, die sich für Revolutionäre halten, ihre Bomben immer nur als Dekoration benutzen." (13.7.) Über die Vorlage zu Querelle (1982), Fassbinders letzten Spielfilm, sagte er selbst: "'Querelle de Brest' von Jean Genet ist vielleicht der radikalste Roman der Weltliteratur, was die Diskrepanz von objektiver Handlung und subjektiver Phantasie anbetrifft." Leider können wir den Film aus rechtlichen Gründen nicht zeigen. Jeanne Moreau spielt darin die Chefin eines Hafenbordells, und wir haben entschieden, den Referenzfilm, der anhand ihrer Person ausgewählt wurde, im Programm zu lassen. In einer Einführung zu ASCENSEUR POUR L'ÉCHAFAUD (1958) wird der Filmwissenschaftler Marc Siegel über Querelle, Jeanne Moreau und Warhols Factory sprechen. Jeanne Moreau wurde mit diesem Film in der Rolle einer mörderischen Ehebrecherin bekannt. Als Ikone des europäischen Autorenkinos der 60er Jahre und durch ihr anhaltendes Gespür für die Regie-Avantgarde kann sie auf die wohl beeindruckendste Filmografie ihrer Generation zurückblicken. (16.7.) Einen weiteren Fassbinder-Film aus den frühen 70er Jahren konnten wir aus rechtlichen Gründen ebenfalls nicht zeigen, dennoch zeigen wir den ausgewählten Referenzfilm. Als "Pornographie mit sozialkritischem Touch" bezeichnete Franz Xaver Kroetz die Verfilmung seines Bühnenstücks und versuchte, die Kinoauswertung des Films Wildwechsel (1972) zu verhindern. Die TV-Ausstrahlung erregte durch die rüden Sexszenen einiges Aufsehen. Eva Mattes spielt darin die 14-jährige Hanni, die mit einem 19-Jährigen schläft, der wegen Verführung Minderjähriger angezeigt, verhaftet und wieder entlassen wird. Als Hanni schwanger wird, beschließt sie, gemeinsam mit ihrem Freund ihren Vater zu erschießen, der sie bedroht hatte. In DEUTSCHLAND, BLEICHE MUTTER von Helma Sanders-Brahms (1979) spielt Mattes eine Trümmerfrau. 1939, vor dem Hintergrund von Hitlers Kriegsvorbereitungen, eine Liebesgeschichte. Unmittelbar nach der Hochzeit beginnt der Polenfeldzug, der Mann muss an die Front. Die Frau bekommt allein ihr Kind und schlägt sich durch die Kriegsjahre. Als der Mann zurückkehrt, wird ihre Kraft nicht mehr gebraucht. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder werden ihr so unerträglich wie ihre Kleinfamilie. (20.7.) Wir nähern uns der Kinoaufführung von BERLIN ALEXANDERPLATZ. Die meisten der Personen, die bei dieser Serie und in anderen Fassbinderfilmen mitwirkten, haben wir in den vergangenen Monaten mit Referenzfilmen vorgestellt. Nicht alle konnten wir berücksichtigen, das Fassbinderuniversum ist einfach zu groß, die Welten, die mit ihm verdrahtet sind, zu zahlreich. Doch drei Personen wollen wir noch hervorheben: Die Brüder Hark und Marquard Bohm stellen wir in einem Programm vor: Rudolf Thomes Kurzfilm mit dem Lieblingstitel JANE ERSCHIESST JOHN, WEIL ER SIE MIT ANNE BETRÜGT (1968) besteht aus Zwischentiteln, Worten, Gesten und Gesichtern – und aus einem klaren Handlungsablauf. Dazu zeigen wir Hellmuth Costards DER KLEINE GODARD AN DAS KURATORIUM JUNGER DEUTSCHER FILM (1978). "Zehn Jahre nach Besonders wertvoll bastelt Costard, Mitglied der inzwischen aufgelösten Hamburger Filmemacher Cooperative, an einem eigenen Aufnahmesystem mit mehreren Super 8-Kameras, das jedoch durch ein vom Fernsehen entwickeltes 16mm-Verfahren überholt wird. Über seine Anstrengungen als unabhängiger Filmemacher dreht er einen Film, in dem sein vergebliches Ringen um die richtige Formulierung des Förderantrags eingebaut ist. Im Kontrast zu seinen Kämpfen beobachtet er etablierte Regiekollegen wie Fassbinder und Hark Bohm bei Dreharbeiten und fragt: 'Ist es möglich, heute in Deutschland Filme zu machen?' Um diese Frage zu verhandeln, kommt schließlich der 'große' Godard zum NDR nach Hamburg." (Filmportal) (21. & 22.7.) Günter Lamprecht schließlich spielt in BERLIN ALEXANDERPLATZ die Hauptrolle, den Franz Biberkopf. Fast parallel dazu spielte er einen Vater in Marianne Lüdckes legendärem Dreiteiler DIE GROSSE FLATTER (1978/79) nach dem Roman von Leonie Ossowski. Der Film erzählt die Geschichte zweier Jugendlicher, die in einer Obdachlosensiedlung am Stadtrand von Berlin leben. Probleme mit den Eltern und Freunden sowie die Arbeitslosigkeit bestimmen ihren Alltag. Sie träumen davon, eines Tages der Alltagstristesse und dem sozialen Elend entfliehen zu können, die "große Flatter" zu machen. (23., 24. & 25.7.) Zum Abschluss schließlich, verteilt auf mehrere Abende, die neu restaurierte und im Rahmen der Berlinale uraufgeführte Kopie der Serie BERLIN ALEXANDERPLATZ: Erzählt wird die Geschichte des Franz Biberkopf, der ohne Perspektive, ohne Ziele, ohne Arbeit durch das Berlin der Jahre 1928/29 taumelt, ein gutmütiger, weicher, zärtlicher Mensch, ein harter, jähzorniger, brutaler Mensch – am Leben gehalten nur von dem großen Vertrauen, dass die Welt vielleicht schlecht sein möge, aber die Menschen doch gut. "Verflucht ist der Mensch, der sich auf Menschen verlässt", das ist das Leitmotiv des Romans, aber Franz Biberkopf rappelt sich immer wieder hoch, erholt sich von allen Schlägen, bis ihm das Liebste genommen wird, das er auf der Welt hatte. "Berlin Alexanderplatz ist ein Film, dessen Handlung, mit ihren Haupt- und Nebenmotiven, sich nicht adäquat nacherzählen lässt, so wenig wie die des Romans. Der Inhalt ist Fassbinder auch gar nicht so wichtig, eine 'Folge von wüsten, kleinen Geschichten, von denen jede einzelne den obszönsten Boulevardblättern die allerobszönsten Aufmacher liefern könnte'. Wichtig ist die Haltung des Autors zu den Personen: er sieht, dass sich in den allerschäbigsten Handlungen der Menschen die Sehnsucht nach Zärtlichkeit äußert, dass die Gewalt nur eine andere Form der Liebe ist; dass Menschen, die sich überhaupt aufeinander einlassen, sich immer gegenseitig verletzen. Nahtlos fügt sich Berlin Alexanderplatz in das Werk von Fassbinder, ist sein vorläufiger Abschluss, entstanden aus einer großen, vielleicht übergroßen Anstrengung." (Janssen/Schütte). (26.–31.7)
Wir bedanken uns für die Unterstützung bei der Fassbinder Foundation, dem KW Institute for Contemporary Art, Clara Burckner, Erika und Ulrich Gregor und Marc Siegel.

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