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Das Schaffen keines anderen Filmemachers wurde von den Ereignissen des Mai 68 so sehr verändert wie das von Jean-Luc Godard. Er proklamierte eine neue Praxis, nämlich "Filme politisch zu machen" – und eben nicht "politische Filme zu machen". Anstatt einfach nur linke Inhalte mittels einer traditionellen Ästhetik zu vermitteln, sollten von Grund auf neue Bilder hergestellt und neue Formen erfunden werden – sowohl ästhetisch als auch die Art der Produktion betreffend. In diesem Sinne kehrte Godard der Filmindustrie den Rücken und rief mit Jean-Pierre Gorin 1968/69 die "Groupe Dziga Vertov" ins Leben – ein Etikett, hinter dem er seinen berühmten Namen verschwinden lassen wollte, um nicht "bourgeoisen" Begriffen von "Autorschaft" und "Werk" Vorschub zu leisten. In Auseinandersetzung mit dem Maoismus entstanden inhaltlich und formal radikale, experimentelle Filme, in denen das Verhältnis von Bildern und Wörtern, von Bildern und Tönen, von Bild und Schrift durchdekliniert wurde. Wir eröffnen diesen Programmteil am 6. Juni mit der Vorführung von LE VENT D'EST und einem einführenden Vortrag von Volker Pantenburg. Zuvor stehen im Juni noch einige andere Filme auf dem Programm. Wir beginnen mit MAI 68 (F 1974), der den Ablauf der Ereignisse in Frankreich über einige Monate hinweg chronologisch rekonstruiert. Es fehlte nicht an Material, dieses war bis dahin aber weit verstreut (Nachrichtensendungen, Filme ausländischer Fernsehanstalten, Filme aus dem Umfeld der "Generalstände des Kinos") – die Filmemacherin Gudie Lawaetz hat es mühevoll zusammengetragen und sortiert. Auch Amateuraufnahmen von Augenzeugen sind dabei: So wurde der Angriff der Polizei auf die besetzten Renault-Werke in Flins von einem Taxifahrer, die Errichtung einer Barrikade in der Rue Gay-Lussac von einem Anwohner gefilmt. (1.6.) Ebenfalls aus dem Jahr 1974 datiert Jacques Doillons Spielfilm LES DOIGTS DANS LA TÊTE (Die Finger im Kopf, F 1974), auch ein Rückblick auf den Mai 68, aber jenseits von Parolen, großer Politik und Straßenkampf. Nachdem der Bäckerlehrling Chris gefeuert wurde, weil er zu spät zur Arbeit kam, soll er sein Zimmer räumen. Doch stattdessen verbarrikadiert er sich mit seinem Freund Léon, der schüchternen Rosette und der forschen schwedischen Tramperin Liv, in die er sich verliebt hat, in seiner Mansarde und verlangt Lohnnachzahlungen. Die vier jungen Leute entziehen sich der Arbeit und dem Alltag, improvisieren auf engem Raum ein Kommunenleben und sprechen über ihre Wünsche, Träume und Ängste. (3.6. & 17.7.) Zum Klassiker des politischen Kinos, exemplarisch in der Verbindung von Information und Agitation, wurde mittlerweile LA HORA DE LOS HORNOS (Die Stunde der Feuer, Argentinien 1968) von Fernando E. Solanas. LA HORA DE LOS HORNOS – "Notizen und Zeugnisse zum Neokolonialismus, zur Gewalt und zur Befreiung", so der Untertitel – war viele Jahre lang in Lateinamerika verboten. Wir zeigen den ersten Teil des mehrstündigen Werks, in dem Solanas Argentinien als Beispiel der Kolonisierung Lateinamerikas analysiert. In 13 "Notizen" beschreibt er die Geschichte des Landes als eine Folge wechselnder Abhängigkeiten, enthüllt das System von Ausbeutung und Unterdrückung sowie seine Folgen: Analphabetismus, Hunger, Krankheit, Prostitution; er führt die Gruppe der Besitzenden und ihre Herrschaftsformen vor und fordert schließlich mit dem Bild Che Guevaras zur Revolution auf. (4.6.) Peter Whitehead wurde durch seine Filme über die britische Rock- und Popszene von 1965 bis 1969 bekannt. Wir zeigen seinen politischsten Film THE FALL (GB 1968/69). In dieser zwischen Oktober 1967 und Juni 1968 in New York gedrehten Arbeit nahm Whitehead ein Stimmungsbild der USA auf. Es geht um Fragen zu Krieg, Rassenunruhen, Gewalt und sozialen Aufständen zu einer Zeit, in der die USA über die Vietnam-Frage in zwei Lager gespalten war. Whitehead gelang es, hinter die Barrikaden des von Studenten besetzten Campus der Columbia University zu kommen, während Polizeieinheiten vordrangen, um die Besetzer aus den Gebäuden zu zwingen. In einer "fiktiven" Einstellung à la Godard – beziehungsweise einer, die auf Vertov zurückgreift – ist Whitehead als "Mann mit der Kamera" selbst im Bild zu sehen, während er versucht, Geld für den Film aufzutreiben, den er gerade dreht. (5.6.) Wo hört Filmarbeit auf, wo fängt Politik an? Ausgehend von der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung im April 1968, siedelt Klaus Lemke seine BRANDSTIFTER (BRD 1969) in Köln an. Die Studentin Anka (Margarethe von Trotta) deponiert einen Brandsatz in der Wäscheabteilung eines Kaufhauses – "aus Wut und Verzweiflung". Dabei handelt es sich um ein Requisit von den Dreharbeiten für einen Agitprop-Film (eine Anspielung auf Anleitung zum Bau eines Molotow-Cocktails von Holger Meins), der unter der Regie ihrer WG-Genossen entstanden ist. Lemke gelingt eine genaue Bestandsaufnahme der politischen Gemengelage zwischen Spaßguerilla, Hochschulpolitik, Eskapismus und Radikalisierung. Dabei werden – à la Godard – Pop-Verfahren mit Reflexionen auf das filmische Medium verbunden. Zuvor zeigen wir zwei Filme, die an der Berliner dffb entstanden sind, auf die in BRANDSTIFTER mehrfach angespielt wird. In Harun Farockis DIE WORTE DES VORSITZENDEN (BRD 1967) sieht man, wie ein aus Seiten der "Mao-Bibel" gefalteter Pfeil auf eine Figur mit den Gesichtszügen des Schahs von Persien geworfen wird – aus Worten werden Waffen. FARBTEST ROTE FAHNE (Gerd Conradt, BRD 1968) zeigt einen Staffellauf mit roter Fahne durch Berlin, bis diese schließlich auf dem Balkon des Rathaus Schöneberg gehisst wird. (6.6.) Als Gründungsmanifest der "Groupe Dziga Vertov" bezeichneten Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin ihren Film LE VENT D'EST (Ostwind, F/I/BRD 1969). "Was tun?" – Diese Frage steht mit Bezug auf die gleichnamige Studie Lenins (1902), jedoch bildpolitisch gedacht, im Zentrum des Films, der sich gewissermaßen an die Umsetzung des in LE GAI SAVOIR (11.6.) skizzierten Plans macht: Bilder und Töne werden auseinandergenommen, um sie getrennt voneinander zu verstehen und danach neu zusammenzusetzen. Die Möglichkeiten linker Politik, politisches Filmemachen, die Herstellung und die Funktion von Bildern und Tönen, ihre Beziehung zueinander sowie die Repräsentation an und für sich werden (selbst)kritisch hinterfragt. "Das Bild wird immer wieder zerkratzt, mit einem Stift übermalt und geradezu physisch angegriffen. Godard, Gorin und die übrigen Beteiligten sitzen auf einer Wiese und diskutieren, immer wieder unterbrochen von roten Zwischenbildern und brüsken Tonschnitten. Die didaktische Geste des Zeigens liegt mit der des Zerstörens im Widerstreit." (Volker Pantenburg) (6.6., mit einem Vortrag von Volker Pantenburg, & 29.6.) Die französische Filmemacherin Agnès Varda verbrachte das Jahr 1968 nicht in Paris, sondern in Kalifornien. Die drei Filme, die sie dort drehte, zeugen alle von der Atmosphäre jener Zeit. LIONS LOVE (USA/F 1969) versucht, "Hippies und Hollywood und Film unter einen Hut zu bekommen" (Agnès Varda). Die Ausgangssituation ist die eines Films im Film. In einer Hollywood-Villa mit Swimming-Pool lebt der Warhol-Superstar Viva in idyllischer ménage à trois mit zwei Darstellern aus dem Musical "Hair". Die Avantgarde-Filmemacherin Shirley Clarke will mit den dreien einen Film drehen. Das Unternehmen scheitert jedoch an den Kämpfen mit der Filmindustrie und der Depression der Filmemacherin. "Währenddessen überschlagen sich in der äußeren Welt die Ereignisse. Varda setzt die Attentate auf Martin Luther King, Robert Kennedy und Andy Warhol in den Zusammenhang einer Einstellung: Während im Fernsehen die Nachrichten zu sehen sind, läutet das Telefon, und Viva erfährt von den Schüssen auf Warhol. Die Rückschläge dreier progressiver Bewegungen (der gewaltlosen Fraktion der Bürgerrechtsbewegung, der liberalen Kräfte der Demokratischen Partei, der Pop-Fraktion innerhalb der New Yorker Avantgarde) hebt Varda im Scheitern des eigenen Films auf." (Bert Rebhandl) (7.6., Einführung: Birgit Kohler, & 12.6.) Im Sommer 1968 drehte Agnès Varda mit BLACK PANTHERS (USA 1968) ein Dokument des Aktivismus dieser Bewegung in den Straßen, Parks und dem Gefängnis von Oakland. Sie zeigt unvoreingenommen die Proteste der Black Panthers (darunter auch Eldridge und Kathryn Cleaver sowie Stokely Carmichael) anlässlich der Inhaftierung von Huey Newton und des Prozesses, den man ihm wegen des Mordes an einem Polizisten machte. Ein Zeitbild ganz anderer Art ist der heitere, bunte Film UNCLE YANCO (USA 1967), Agnès Vardas Porträt ihres Onkels Jean, eines nonkonformistischen Malers, dessen Hausboot in der Bucht von San Francisco ein Treffpunkt der dortigen Hippie- und Künstlerszene ist. Kalifornische Hippies sind es auch, die Les Blank in seinem Film GOD RESPECTS US WHEN WE WORK, BUT LOVES US WHEN WE DANCE (USA 1967/68) beim "Easter-Sunday-Love-In" in einem Park in San Francisco zeigt: Blumenkinder, die tanzen, lächeln und sich gegenseitig mit Blumen, Obst und Dope beschenken. (8.6.) Agnès Vardas Ehemann Jacques Demy hielt sich mit ihr im Mai 68 in Los Angeles auf, um seine erste Hollywood-Produktion zu realisieren, ein ungeschöntes Bild der USA mitten im Vietnam-Krieg. MODEL SHOP (USA/F 1968) ist die melancholische Fortschreibung der Geschichte von Lola, Demys Langfilmdebüt aus dem Jahr 1960, wiederum mit Anouk Aimée in der Hauptrolle. Von der romantischen ersten großen Liebe ist allerdings nicht mehr die Rede. MODEL SHOP ist ein Film über die Möglichkeit zweiter Chancen. Lola ist acht Jahre älter, sie arbeitet nach ihrer gescheiterten Ehe als Fotomodell, um ihre Heimreise nach Frankreich bezahlen zu können. (8.6.) Eine Reflexion über Utopien ist Alexander Kluges DIE ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS (BRD 1967/68). Die Zirkusdirektorin Leni Peickert (Hannelore Hoger) will ihre Idee eines Reformzirkus verwirklichen, die Möglichkeiten der Literatur mit den Kunstfertigkeiten des Zirkus verbinden. Sie lässt sich beraten und muss erkennen, "dass sie nicht Artistin bleiben kann, wenn sie freie Unternehmerin sein will. Nur als Kapitalist ändert man das, was ist!" Noch vor der Premiere wird ihr klar, dass ihr Reformzirkus abstrakt bleiben muss. Um die Utopie, an die sie glaubt, nicht zu gefährden, sagt sie die Premiere ab und geht stattdessen zum Fernsehen. Sie sagt: "Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten." (7. & 22.6.) Im Vorprogramm zeigen wir am 22. Juni Jean-Marie Straubs DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER (BRD 1968), eine dem SDS gewidmete Dreiecksgeschichte von Prostitution, Kunst und Gefühlen. In einer zehnminütigen Totale sind Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla in einer von Straub inszenierten Aufführung (Ferdinand Bruckners "Krankheit der Jugend") des Action Theaters zu sehen. (22.6.) Der erst im nachhinein der "Groupe Dziga Vertov" zugesprochene Film UN FILM COMME LES AUTRES (Jean-Luc Godard, F 1968) besteht im Wesentlichen aus einer Diskussion. Eine Gruppe von Arbeitern und Studenten sitzt im Gras. Einige Wochen nach den Ereignissen des Mai 68 versuchen sie zu verstehen, was eigentlich geschehen ist, und insbesondere, was nicht geschehen ist während dieser "verfehlten" Revolution, in der Verbindung zwischen Arbeitern und Studenten. Als Kontrapunkt zu diesen friedlichen Plansequenzen in Farbe sieht man Schwarzweißaufnahmen vom Mai 68: Straßenschlachten, die Besetzung der Sorbonne, Generalversammlungen und Barrikaden. (8. & 10.6.) Unter dem Titel DIE KAMERA IN DER FABRIK (Chris Marker/ Groupe Medvedkine, F/BRD 1970) hat Marker für den NDR im Jahr 1970 die beiden Filme À BIENTÔT, J'ESPÈRE (1968) und CLASSE DE LUTTE (1969) zusammengestellt. Marker und einige Mitstreiter hatten À BIENTÔT, J'ESPÈRE zur Unterstützung des Streiks der Fabrik Rhodiacéta gedreht. Er lässt die Arbeiter zu Wort kommen, zeigt die Auswirkungen des Streiks und Solidarisierungen. Der sparsame Kommentar ordnet sich den Aussagen der Betroffenen unter. Dennoch wird von diesen kritisiert, dass der Blick des Films zu ethnografisch sei und der Arbeiterklasse fern bliebe. Einige Arbeiter gründeten daraufhin ein Filmkollektiv. Ihre erste Arbeit war CLASSE DE LUTTE. (9.6.) Romain Goupil gibt in MOURIR À TRENTE ANS (Sterben mit 30, F 1982) rückblickend die Geschichte einer von politischem Engagement geprägten Generation wieder. Anhand von gefilmten Erinnerungen und Interviews mit seinem Freund Michel Recanati, einem der Anführer der französischen Studenten im Mai 68, der in Paris als Mitglied der Revolutionären Kommunistischen Jugend zahllose Versammlungen und Kundgebungen organisierte, zeichnet er nicht nur ein persönliches Porträt, sondern rekapituliert Bedeutung und Mythos der Studentenbewegung. Recanatis politische Aktivitäten endeten 1973 mit einer kurzen Gefängnisstrafe. 1978 nahm er sich mit 30 Jahren das Leben. (10. & 13.6.) BRITISH SOUNDS (Jean-Luc Godard, Jean-Henri Roger, GB 1969) ist die erste Produktion der "Groupe Dziga Vertov". "Ton- und Bild-Verschiebungen, hervorgehobene Vielstimmigkeit, Einstellungen, die länger sind als die Wirklichkeit, endlose marxistisch-freudianische Kommentare. Zwei Anthologiesequenzen werden immer wieder daraus zitiert: die der Gewerkschaftsdiskussion und die der Frau, die nackt die Treppen hinuntergeht. Erstere ist die reine und einfache (oder reine und komplizierte) Anwendung einer Idee, die Godard zu jener Zeit sehr wichtig war: Warum immer denjenigen zeigen, der spricht, und nie den, der zuhört? Hier geschieht also das Gegenteil. Das gleiche gilt für die nackte Frau: Entweder sie spricht (am Telefon) und ihre Nacktheit wird aus dem Bild geschoben, oder sie wird gesprochen (von einer Off-Stimme), und der Ton passt nicht mehr zum Bild." (Jacques Aumont) (11. & 14.6.) In LE GAI SAVOIR (F/BRD 1968) entwirft Godard einen Dreijahresplan, dem zufolge Bilder und Töne gesammelt, auseinandergenommen und, befreit von der bürgerlichen Logik der Repräsentation, neu zusammengesetzt werden sollen. "Émile Rousseau (Jean-Pierre Léaud) und Patricia Lumumba (Juliet Berto) treffen sich im schwarzen Niemandsland eines Filmstudios und diskutieren; sie versuchen Klarheit zu schaffen über die Sprache der Bilder und Töne, über das Hören und das Sehen. Godard, unsichtbar, hilft ihnen dabei, führt ihnen Bild-Ton-Kombinationen vor, diesen ABC-Schützen des audiovisuellen Zeitalters, die Töne, Wörter, Bilder, Hören, Sehen, Denken, Abbildung, Wirklichkeit zu isolieren und wieder zusammenzufügen versuchen." (Martin Schaub) (11.6.) Einen "Film um Sozialismus und Sex" nannte Vilgot Sjöman das nach den schwedischen Nationalfarben betitelte Doppelporträt seines Heimatlandes JAG ÄR NYFIKEN – GUL (S 1967, Ich bin neugierig – gelb), JAG ÄR NYFIKEN – BLÅ (S 1967/68, Ich bin neugierig – blau). Die neugierige Lena sammelt nicht nur Material über ihre bisher 23 Sexualpartner, sondern über die gesamte schwedische Gesellschaft. Sie stellt Passanten Fragen wie "Gibt es in Schweden eine Klassengesellschaft?", "Ist die Frau in der Gesellschaft gleichgestellt?", diskutiert über weibliche (Homo-)Sexualität und interviewt junge Männer bei der Musterung zum Thema Gewaltlosigkeit. Die Filme wurden 1968 wegen der freizügigen Darstellung von Sexualität heftig angefeindet, zensiert und in einigen Ländern wegen "Obszönität" verboten. ("Gelb": 12. & 16.6.) ("Blau": 18. & 20.6.) Ein Höhepunkt des Programms ist die Präsentation von Guy Debords LA SOCIÉTÉ DU SPECTACLE (F 1973), der Verfilmung seines gleichnamigen Buchs "Die Gesellschaft des Spektakels" (1967); ein theoretischer Text, der großen Einfluss auf die revolutionären Bewegungen der Zeit hatte. Seine erste (und zentrale) These lautet: "Das gesamte Leben der Gesellschaften, in denen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, hat sich in einer Repräsentation entfernt." Debord, Gründungsmitglied und theoretischer Kopf der Situationistischen Internationale, ging es darum, den Film als Mittel zur Vorstellung revolutionärer Theorien zu nutzen und so in den Dienst der Abschaffung des Kapitalismus zu stellen. Die wichtigste Strategie, die Debord im Film anwendet, ist das "détournement", die Zweckentfremdung bereits existierender künstlerischer Elemente in einem neuen Zusammenhang. Neben Ausschnitten aus einigen Filmklassikern wie Nicholas Rays Johnny Guitar (1954) und Orson Welles' Mr. Arkadin (1955) benutzt Debord außerdem Bilder aus der Werbung, Nachrichtenmaterial und Aufnahmen von Filmemachern aus den sozialistischen Ländern. Wir freuen uns, Thomas Y. Levin von der Universität Princeton zu einem einführenden Vortrag begrüßen zu dürfen. (14.6.) Ein Film, der angesichts der raren Gelegenheiten, ihn zu sehen, in die Kategorie der "unsichtbaren Filme" aufgenommen werden könnte, ist Jacques Rivettes L'AMOUR FOU (F 1967/68): die komplexe Liebesgeschichte eines Theaterregisseurs und einer Schauspielerin. Eifersucht, Verzweiflung und Hassliebe eskalieren in dem häufig mit Eustaches La maman et la putain (26. & 31.7.) in Verbindung gebrachten Film und münden schließlich in ein Schauspiel der Selbstzerstörung. In langen Sequenzen beobachtet die Kamera die Auseinandersetzungen des zerstrittenen Paars, die von Bildern einer Theaterprobe unterbrochen und kommentiert werden. Aus dem Geflecht von Fiktion und Wirklichkeit, strenger Inszenierung und Spontaneität ergibt sich ein sehr intimes, intellektuelles Journal über die Beziehungen zwischen Kunst und Leben. (15. & 18.6.) Dezsö Magyars Film AGITÁTOROK (Agitatoren, Ungarn 1969) hat zwar die Geschichte der ungarischen Sowjetrepublik des Jahres 1919 zum Thema, der historische Hintergrund diente jedoch mehr als Vorwand für die Suche nach einem allgemeingültigen Revolutionsmodell, das auf die späteren Revolutionen des 20. Jahrhunderts übertragen werden konnte. Die langen Haare der Revolutionäre verweisen ebenso auf das Jahr 1968 wie die Musik der Rolling Stones ("Factory Girl"). Der Film wurde von jungen oppositionellen Künstlern und Intellektuellen realisiert und zeigt u.a. den jungen Gábor Bódy in einer der Hauptrollen. Als Folge der zeitgemäßen politischen Botschaft und des Status der Beteiligten als "Personae non gratae" wurde AGITÁTOROK nach Fertigstellung nicht freigegeben. (17.6., mit einem Vortrag von Claus Löser) PRAVDA (F/CSSR 1969), der einzige Film der "Groupe Dziga Vertov", der in einem der Länder des "real existierenden Sozialismus" entstand, besteht aus drei Teilen: der erste setzt sich aus Bildern eines politischen Touristen zusammen, der zweite soll die Situation konkret analysieren, der dritte legt "richtige Töne über falsche Bilder". "Vladimir (Lenin?) und Rosa (Luxemburg?) kommentieren den dialektischen Gang der gedanklichen und filmischen Ereignisse (wie Émile und Patricia in LE GAI SAVOIR). Nach rund 50 Einstellungen, die vom Kommentar, oft witzig, oft weniger witzig, begleitet worden sind, setzt die Selbstkritik des Films ein oder, wie Vladimir aus dem Off erklärt, die Überführung des 'sinnlichen Bewusstseins in ein rationales'." (Martin Schaub) (17. & 23.6.) Theodor Kotulla zeichnet in BIS ZUM HAPPY END (BRD 1968) ein atmosphärisch genaues Bild des Nachkriegswohlstands in der Bundeshauptstadt Bonn. Der Fotohändler Arnold (Klaus Löwitsch) und seine Frau führen eine gepflegte Ehe in einem gepflegten Einfamilienhaus. Bei einem Streit um das Erbe kommt Arnolds Bruder Paul ums Leben – im Off. Es war angeblich ein Unfall, was Arnolds zehnjähriger Sohn Peter jedoch bezweifelt. Das Leben des Ehepaars geht ungerührt weiter seinen bürgerlichen Gang. "Kotullas Film handelt vom Kaufen in allen Varianten: einkaufen, verkaufen, abkaufen, sich loskaufen. Fast alle menschlichen Beziehungen sind kommerzialisiert, jede Geste hat ihren Tausch- und Handelswert." (Yaak Karsunke) (19. & 26.6.) Jacques Doillon verlegt die Zeit des Konsumzwangs in seiner Post-68er Utopie L'AN 01 (Das Jahr 01, F 1972/73) kurzerhand in die Vergangenheit. In dem von Gébés Comic inspirierten und zusammen mit Alain Resnais und Jean Rouch realisierten Film beschließt die Bevölkerung Frankreichs gemeinsam, "alles anzuhalten". "An einem festgelegten Termin wird friedlich und konsensuell die Arbeit niedergelegt. Nach und nach wird das Geld abgeschafft, die Schlüssel zum Privateigentum auf die Straße geworfen. Man demontiert Autos, liebt sich und philosophiert dabei über die Nutzbarkeit sexueller Energien. Die sanfte Revolution in Paris greift unter dem Motto der 'allgemeinen Demobilisation' auf die ganze Welt über." (Anja Streiter) (19.6., mit einem Vortrag von Anja Streiter, & 24.6.) Tomás Gutiérrez Alea beschäftigt sich in MEMORIAS DEL SUBDESARROLLO (Kuba 1968) mit radikalen gesellschaftlichen Veränderungen von ganz anderem Realitätsbezug. Im zehnten Jahr der kubanischen Revolution blickt er auf die Konsolidierungsphase der ersten Jahre zurück: "Erinnerungen an die Unterentwicklung". Der Film erzählt die Geschichte eines Schriftstellers in Havanna zur Zeit der Kuba-Krise 1961. Wie viele Angehörige der Bourgeoisie fliehen auch Sergios Familie und Frau nach Miami. "Mit den dekadenten Verwandten und Freunden verschwinden, so hofft Sergio, auch die eigenen, negativen Angewohnheiten: das Verwöhnte, Blasierte und Ängstliche. Der Film ist wie ein essayistisches Tagebuch aufgebaut: Das aktuelle, fiktive Geschehen wird durch innere Monologe und Rückblenden kommentiert. Zwischendurch montiert Alea auf elegante Weise Dokumentaraufnahmen aus Havanna. Man spürt auf der Straße und in den kurzen Fernsehausschnitten die Angst vor einem Krieg, aber auch den Aufbruchswillen der kubanischen Revolution." (Dorothee Wenner) (20. & 25.6.) D.A. Pennebaker filmte 1967 in Kalifornien mit dem mittlerweile zu einem Hauptwerk des Direct Cinema avancierten MONTEREY POP einen der musikalischen Höhepunkte des "Summer of Love". Inmitten von 50.000 Zuschauern versuchte er mit sechs Kameramännern das Wesentliche einzufangen und komprimierte das 72 Stunden dauernde Festival von Monterey auf 80 Minuten. Der Film zeigt unkommentiert die zum Teil legendären Auftritte von Jimi Hendrix, Janis Joplin, Otis Redding, Jefferson Airplane, Eric Burdon and the Animals, Canned Heat, The Who, The Mamas and the Papas, Simon and Garfunkel, Ravi Shankar, Scott McKenzie u.a. (21. & 25.6.) COUP POUR COUP (Schlag auf Schlag, F/BRD 1971) ist der letzte Film, den Marin Karmitz drehte, ehe er sich ganz dem Aufbau seines Kinoimperiums MK2 widmete; eine Kollektivarbeit einer Gruppe von Filmemachern sowie 100 Arbeiterinnen. Karmitz engagierte sie auf dem Arbeitsamt, um Arbeiterinnen zu spielen; sie konnten Drehbuch, Regie und Schnitt mitgestalten, alle am Film Beteiligten erhielten den gleichen Lohn. Gezeigt wird ein spontaner Streik in einer französischen Textilfabrik, wobei die Arbeitgeber von den Arbeiterinnen eingesperrt werden – mit Erfolg. Als Vorfilm zeigen wir Helmut Wietz' 1971 entstandenen Film LOB DES REVOLUTIONÄRS, der zu Brecht/Eislers gleichnamigem Lied für den "Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei" wirbt. (23. & 26.6.) Louis Malle erhielt 1972 die seltene Erlaubnis, in einer französischen Fabrik drehen zu dürfen. Von Citroën in Auftrag gegeben, von der Konzernleitung nach Fertigstellung jedoch abgelehnt, zeigt Malle in HUMAIN, TROP HUMAIN (Menschlich, allzu menschlich, F 1972/74) eine Stunde lang Menschen bei der Arbeit am Fließband. "HUMAIN, TROP HUMAIN ist der einzige meiner Dokumentarfilme, in dem es keinen Kommentar gibt. Ich wollte ein körperliches Gefühl dafür erzeugen, wie ermüdend und langweilig es für die Arbeiter ist – für die völlig unmenschlichen Aspekte der Fließbandarbeit – ohne es aussprechen zu müssen. Ich wollte es auf eine sehr sinnliche Weise vermitteln, in Bildern und im Ton." (Louis Malle) (24. & 28.6.) Ousmane Sembène schildert in seiner Satire MANDABI (Die Postanweisung, Senegal 1968) die grotesken Verwicklungen, die eine Geldanweisung aus Paris in Dakar auslöst. Der Briefträger, der beim Überbringen der Nachricht mit der Frage konfrontiert wird: "Willst Du uns mit Hoffnung umbringen?", wendet sich zum Schluss direkt an den Zuschauer: "Sie, Du, ich können gemeinsam die Dinge verändern!". Der erste Film, der in der afrikanischen Wolof-Sprache gedreht wurde, ist eine Umsetzung des ästhetischen und politischen Programms, das sich Ousmane Sembène gesetzt hatte: Filme zu machen, die gleichzeitig "spektakulär" und didaktisch sind. (27. & 29.6., mit einer Einführung von Ulrich Gregor) In BIKE BOY (USA 1967/68), einer Art Sexploitation-Film, beobachtet Andy Warhol das (inszenierte) Treiben in einer New Yorker Männerboutique, die Eitelkeiten und Selbstinszenierungen der Kunden, und greift sich die Person des "Bike Boy" heraus, der verbissen an seine Qualitäten als Verführer glaubt. Eine Duschszene zu Beginn etabliert ihn als Objekt der Begierde, doch in den folgenden Begegnungen kann er den hohen Anforderungen der Konversation mit den Warhol-Stars (Viva, Brigid Berlin, Ingrid Superstar) kaum entsprechen. Dennoch glaubt der Motorradfahrer unerschütterlich an seine Qualitäten als Verführer. (27. & 30.6.) Jean-Pierre Léaud, neben Pierre Clémenti der herausragende Schauspieler dieser Filmreihe, nutzte eine Unterbrechung der Arbeiten zu LE GAI SAVOIR (11.6.), um in Brüssel unter der Regie von Jerzy Skolimowski LE DÉPART (Der Start, B 1967) zu drehen. Skolimowski gab ihm die Gelegenheit, als immer unter Hochspannung stehender Friseurlehrling, der nur an Autorennen denkt, neben den Qualitäten des unangepassten Jugendlichen seine artistischen Fähigkeiten in Szene zu setzen. Ein Film über jugendliche Energie, die sich gegen die Arriviertheit der Erwachsenwelt zur Wehr setzt, und ein Film über die Faszination der Geschwindigkeit, des Automobils, genauer: des Porsche 911 S. (28. & 30.6.) (Birgit Kohler, Hans-Joachim Fetzer) Die Aufführung von LA SOCIÉTÉ DU SPECTACLE ist eine Vorpremiere im Hinblick auf eine Retrospektive aller Filme von Guy Debord im Herbst 2008 im Kino Arsenal. Unser Dank gilt Alice Debord und Christopher Yggdre. "1968//2008" wird im Juli fortgesetzt. Eine ausführliche Programmbroschüre ist an der Kasse erhältlich. Ein großes Dankeschön an alle, die bei der Recherche und in Gesprächen mit ihren Kenntnissen behilflich waren. "1968//2008" wird gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Mit freundlicher Unterstützung der Botschaften von Frankreich, Italien und Schweden.

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