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Das Programm ist in folgende vier parallel stattfindende Schwerpunkte gegliedert, die in der Relation zueinander, durch Überschneidungen und zahlreiche Querverbindungen eine Idee vom Geschmack der Zeit vermitteln: "Agitation & Gegen-Information" versammelt militante filmische Manifeste, die im Zuge der politischen Ereignisse um 1968 meist in kollektiven Strukturen entstanden. Unter der Überschrift "Rot liegt in der Luft" finden sich internationale Filme aus den Jahren 1967/68/69, die zeigen, dass filmisch und gesellschaftlich etwas im Umbruch war und an denen sich das politische und geistige Klima von 1968 ablesen lässt, ohne dass sie sich in jedem Fall direkt auf das konkrete politische Geschehen des Jahres 1968 beziehen. "Mai, toujours" widmet sich dem Echo des Pariser Mai 68 in Filmen bis heute – vor allem das französische Kino hat sich immer wieder mit dem Mai 68 auseinandergesetzt. Die Filme des von Godard 1968/69 ins Leben gerufenen Kollektivs Groupe Dziga Vertov bilden den vierten Schwerpunkt und einen Höhepunkt des Programms, da diese politisch engagierten, inhaltlich und formal radikalen Filme, die jenseits der Filmindustrie entstanden, so selten gezeigt werden, dass man sie als so gut wie unsichtbar bezeichnen könnte. Im Zentrum des Programms steht das Interesse an Vergegenwärtigung und Reflexion von 1968 als Filmgeschichte sowie die Frage nach der Relevanz der damals aufgeworfenen Fragen für aktuelle Diskurse. Die Rolle der Zeitzeugen wird von den Filmen selbst übernommen: Sie künden davon, was 1968 auf dem Spiel stand – für das Kino wie für die Gesellschaft. 1968 und 2008 ausdrücklich in Beziehung zu setzen ist ein Anliegen der begleitenden Vorträge und einer Podiumsdiskussion am 31. Mai zum aktuellen Verhältnis von Film und Politik. Ausgehend von Godards viel zitierter Äußerung, es gelte, "keine politischen Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen", die hier als Hinweis dient, dass es etwas Problematisches gibt in der Beziehung zwischen Film und Politik, wird der Themenkomplex "Film/Kino/Politik" ins Verhältnis zur heutigen Situation und zu aktuellen Debatten gesetzt. Es diskutieren, moderiert von Birgit Kohler: Harun Farocki (Filmemacher), Ulrich Gregor (Filmhistoriker), Ulrich Köhler (Filmemacher), Cristina Nord (Filmredakteurin der "Tageszeitung"), Vrääth Öhner (Film-, Medien- und Kulturwissenschaftler, Wien). (31.5.) Zur Eröffnung des Programms am 1. Mai zeigen wir Jean-Luc Godards Director's Cut von ONE PLUS ONE (GB 1968), der die Studio-Sessions der Rolling Stones zu "Sympathy for the Devil" mit Mick Jagger als hochkonzentriertem Musiker bei der Arbeit mit den Reden der Black Panthers auf einem Schrottplatz verbindet. Weitere Schauplätze sind ein Wald, in dem Reporter ein Ja-Ja-Nein-Nein-Interview mit "Eve Democracy" (Anne Wiazemsky) führen und ein Porno-Shop, in dem ein Jung-Nazi im lila Jeansanzug aus Hitlers "Mein Kampf" deklamiert und die Kunden zur Bezahlung zwei Hippies ohrfeigen müssen. Dazu Texte aus dem Off und Graffitis wie: HI/FICTION, SO/VIETCONG, FREUDEMOCRACY und CINEMARXISM. In ONE PLUS ONE geht es um das Verhältnis von Kultur und Revolution, die Gegenüberstellung eines musikalischen und eines politischen Diskurses und was sich daraus entwickelt. Klaus Theweleit schrieb unlängst: "Es gibt kaum eine bessere Dokumentation des politischen Moments – des Geisteszustands – der mit '1968' bezeichnet wird." Wir freuen uns sehr, Klaus Theweleit mit einem einführenden Vortrag zur Eröffnung zu Gast zu haben. (1.5., in Anwesenheit von Klaus Theweleit, & 14.5.) In Frankreich entstanden in engem Zusammenhang mit der Studenten-Revolte und den Streiks der Arbeiter 1967/68 zahlreiche Filme, die wie Manifeste der direkten Agitation dienten und meist in kollektiven Strukturen entstanden. Ein solches kollektives Projekt sind die CINÉ-TRACTS (Flugblattfilme) – kurze, agitatorische Filme, auf den Straßen gedreht, deren Länge von zwei bis drei Minuten der einer Filmrolle entspricht. Sie entstanden im Mai und Juni 1968 im Umfeld der eben einberufenen "Generalstände des Kinos" unter Mitwirkung von Jean-Luc Godard, Alain Resnais und Chris Marker. Wir zeigen, erstmalig in Berlin, alle erhaltenen 30 Kurzfilme. (2. & 15.5.) Eine künstlerische Bearbeitung der Barrikaden-Bilder aus dem Pariser Mai ist Maurice Lemaîtres lettristisches Manifest LE SOULÈVEMENT DE LA JEUNESSE – MAI 68 (Der Aufstand der Jugend, F 1968). Lemaître verwendet Sequenzen aus Nachrichtensendungen, Negativ-Bilder der revoltierenden Studenten und von Polizeieinsätzen. Auf der Tonspur wechseln sich der O-Ton der Nachrichten, ein innerer Monolog und die Verlesung eines programmatischen Texts des Lettristen Isidore Isou über politische Ökonomie ab. Das Spektakuläre der Bilder wird durch die eintönige Stimme konterkariert, die diese liest. (2.5.) Eine moderne Farbdramaturgie, Musik, Kostüme und Dekors mit Pop-Qualitäten, ein schwungvolles Tempo und West-Berliner Flair jener Zeit (Mauerbesichtigung im Doppeldeckerbus mit der "Matthäuspassion" als Begleitmusik) prägen TÄTOWIERUNG (Johannes Schaaf, BRD 1967) – ein Zeitbild aus dem Jahr 1967, das erstickenden liberalen Mief, repressive Toleranz, rebellisches Aufbegehren und das Unverständnis zwischen den Generationen zeigt. Der Stiefvater lässt sich das dem Jungen Benno geschenkte Moped in Raten bezahlen, damit dieser lernt "was Besitz ist." Das sagt schon alles. Benno (Christof Wackernagel), im Waisenhaus aufgewachsen, wurde adoptiert von Herrn und Frau Lohmann, die eine nahe der Mauer gelegene kleine Mosaikfabrik betreiben. Ihre gut gemeinte, aber übergroße Fürsorge, ihr penetrantes Wohlwollen und ihre ausgestellte Liberalität machen ihn erst recht trotzig und treiben ihn schließlich zum Griff zur Waffe … (2. & 18.5.) Ein fast zeitgleich entstandenes, präzises gesellschaftliches BRD-Stimmungsbild in dokumentarischer Form ist Peter Fleischmanns HERBST DER GAMMLER (BRD 1967). Ohne Kommentar lässt er jugendliche „Gammler“ (so der damalige Sprachgebrauch) in München zu Wort kommen, fragt nach ihren Motiven und konfrontiert dieses neue Phänomen, sozusagen die damalige alternative Jugendkultur, mit "Volkes Stimme" auf der Straße. Die Reaktionen der älteren Generation auf die "Gammler" und ihren Wunsch nach Ausbruch – und sei es nur auf Zeit – sind verständnislos, verächtlich, voller Hass. Es geht um lange Haare, Hygiene, Sitte und Anstand, Arbeitsverweigerung: "Wenn deutsche Gammler arbeiteten, wären wir die Gastarbeiter los", heißt ein Argument. Das deutsche Kleinbürgertum redet außerdem von Hitler, Ausweisen, Einsperren, Arbeitslager. (4.5., in Anwesenheit von Peter Fleischmann) Dem Zeitgeist auf der Spur, allerdings in essayistischer Form, ist auch Johan van der Keuken in seinem gleichnamigen Film DE TIJDGEEST (NL 1968). Es ist ein Film, der sich von strengen filmischen Formen befreit, um Neues auszuprobieren, nicht unähnlich seinen Protagonisten, Drop-Outs, deren Kreativität im Mittelpunkt steht. Ein Film, der von filmischem und gesellschaftlichem Umbruch zeugt, mit einer Kombination aus Demonstrationsszenen, wild geschminkten Männergesichtern, Performances, Fernsehbildern, viel Musik und formalen Kapriolen. "Ist es möglich, einer existierenden Gesellschaft den Rücken zuzudrehen und eine Parallelgesellschaft zu errichten oder läuft der Weg zur Veränderung über den politischen Kampf innerhalb der Gesellschaft?" (J. van der Keuken) (3.5.) Als ersten und herausragenden Film des Programmschwerpunkts, der sich dem filmischen Echo des Pariser Mai 68 quer durch die Jahrzehnte widmet, zeigen wir Philippe Garrels LES AMANTS RÉGULIERS (F 2005). Garrel hat bereits im und um den Mai 68 herum Filme gemacht (als Mitglied der Zanzibar-Gruppe, deren Arbeiten im letzten Jahr im Arsenal gezeigt wurden) und sich seitdem in mehreren Filmen mit den damaligen Ereignissen und ihren Auswirkungen auseinandergesetzt. Stilisiert und nahezu meditativ bildet er in LES AMANTS RÉGULIERS (F 2005) den Straßenkampf in schwarzweißen Tableaus ab, sparsam ausgestattet und doch episch. Er schaut einer Gruppe junger Leute zu, beim revolutionären Kampf, beim Opiumgenuss, beim Kunst machen und beim Verliebtsein, bis zum allmählichen Auseinanderfallen der Gruppe und der Paare. Ein Film über "hingerichtete Hoffnungen" und die individuelle Erfahrung extremer Gefühlszustände. Zu hören sind die Kinks: "This time tomorrow where will we be …" (3.5.) Im Gegensatz zu Garrel hat sich Bernardo Bertolucci bei THE DREAMERS (GB/F/I 2003), seinem zwei Jahre früher gedrehten Film über den Mai 68, für einen nostalgischen Rückblick entschieden. Beide Filme verhalten sich antithetisch zueinander (Nüchternheit und Ernüchterung einerseits zu Opulenz und Nostalgie andererseits), sind dadurch aber auch verbunden, und dies nicht nur, weil Garrels Sohn Louis jeweils eine der Hauptfiguren verkörpert. Ein Geschwisterpaar befreundet sich mit einem jungen Amerikaner – alle drei sind glühende Cineasten, was den Film reich an Reminiszenzen an die Filmgeschichte macht. Als die Cinémathèque nach der Entlassung ihres Direktors Langlois schließt und es zu ersten Demonstrationen kommt, ziehen die drei sich in das Labyrinth der elterlichen Wohnung zurück. Dort entwickelt sich aus Film-Ratespielen schnell eine sexuelle "ménage à trois". (4.5.) Unbemerkt von der brasilianischen Militärdiktatur drehte Glauber Rocha TERRA EM TRANSE (Brasilien 1967), sein zentrales poetisches und politisches Manifest zur Problematik des politischen Engagements von Intellektuellen. Er zeigt Politik als Delirium und zwar mit den Mitteln einer delirierenden Ästhetik: einer kunstvollen Mischung dokumentarischer, surrealistischer, opernhafter, poetischer, mythologischer Elemente. Paulo, ein dichtender Intellektueller, schwankt zwischen den politischen Extremen. Zuerst verschreibt er sich dem rechtskonservativen Diaz. Dann schlägt er sich auf die Seite von Vieira, dem populistischen Reformer. Doch seine wahre Liebe gilt Sara, der Kommunistin. Paulo muss jedoch erkennen, dass es beiden nur um Macht, nicht um Veränderung geht. Enttäuscht und verzweifelt macht er sich auf seinen eigenen Weg als Revolutionär. (5. & 7.5.) Nicht für die Nachwelt mache er seine Filme, sondern aus Dringlichkeit, so Santiago Alvarez. Wir zeigen vier seiner agitatorischen Montagefilme: NOW (Kuba 1965) ist ein aus Standfotos zusammengesetzter Film über die Diskriminierung der Schwarzen in den USA, rhythmisch geschnitten nach dem gleichnamigen Lied der Sängerin Lena Horne. HANOI, MARTES 13 (Hanoi, Dienstag der 13., Kuba 1967) geht von fast lyrischen Bildern des nordvietnamesischen Arbeitsalltags unvermittelt zur Schilderung eines Bombenangriffs über, wobei man diesen vor allem als Reflex auf den Gesichtern der Menschen erlebt. HASTA LA VICTORIA SIEMPRE (Kuba 1967) ist ein Film zu Ehren von Che Guevera. Zu Fragmenten eines Interviews und zwei seiner Reden sind Fotos und Filmaufnahmen von revolutionären Kämpfen und Zeitungsschlagzeilen montiert. LBJ (Kuba 1968) ist ein filmisches Pamphlet in drei Kapiteln. Die Buchstaben LBJ stehen für Lyndon Baines Johnson, den damaligen Präsidenten der USA. Die einzelnen Kapitel nehmen die Buchstaben neu auf: L steht für (Martin) Luther King, dessen Kampf gegen die Rassendiskriminierung in Bezug gesetzt wird zur Geschichte der afrikanischen Kultur. Die Initialen B und J stehen für Bob und John F. Kennedy, die – ebenso wie Luther King – einem Mordanschlag zum Opfer fielen. (6. & 23.5.) Helke Sanders agitatorischer Kurzspielfilm EINE PRÄMIE FÜR IRENE (BRD 1971) über die doppelte Ausbeutung weiblicher Fabrikangestellter am Arbeitsplatz und zu Hause zeigt, wie sich Irene mit diesem Zustand nicht abfindet und Kolleginnen und Mieter zu agitieren versucht. Er endet mit der gemeinschaftlichen Zerstörung einer Überwachungskamera in der Fabrik. Ein Kollektivfilm aus der italienischen Frauenbewegung ist L'AGGETTIVO DONNA (Das Adjektiv Frau, I 1971). Souverän und ironisch im Umgang mit der Montage dokumentarischen Materials, zeigt er, wie die Frau immer als "Adjektiv-Frau", als Anhängsel des Mannes definiert wird. (6.5.) Im Zuge der politischen Ereignisse um 1968 und den großen Streiks der Arbeiter 1967/68 in Frankreich, nahmen diese auch selbst die Kamera in die Hand. Wir zeigen ein Programm mit Filmen des Arbeiter-Kollektivs Groupe Medvedkine aus Besançon und Sochaux, die der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit dienten. In Besançon entstanden: NOUVELLE SOCIÉTÉ N°5 (F 1969), NOUVELLE SOCIÉTÉ N°6 (F 1969/70), NOUVELLE SOCIÉTÉ N°6 (F 1969/70) sowie RHODIA 4 x 8 (F 1969), ein klassenkämpferisches "Musik-Video", in dem Colette Magny ein Lied zu Ehren der Arbeiter der Textilfabrik Rhodiacéta singt, deren sechswöchiger Streik 1967 für Aufsehen sorgte. Aus Sochaux im Programm: SOCHAUX, 11 JUIN 1968 (F 1970) und LES TROIS-QUARTS DE LA VIE (F 1971). SCÈNES DE GRÈVE EN VENDÉE (F 1973) von Paul Bourron zeigt Arbeiterinnen im Streik. Ohne Fließbänder und Zeituhren entdecken die Frauen, dass man miteinander sprechen und sogar singen kann. (8.5.) Marin Karmitz, mittlerweile einer der größten Produzenten Frankreichs mit einem riesigen Kino-Imperium, hat in den 70er Jahren militante Filme gedreht. CAMARADES (Marin Karmitz, F 1969) erzählt die Geschichte eines jungen Mannes aus der Provinz, der nach Paris geht, einen Job in einer Fabrik bekommt und langsam einen revolutionären Bewusstwerdungsprozess durchmacht. Zahlreiche Songs fungieren als Kommentar. Als Vorfilm zeigen wir den damaligen Trailer zu CAMARADES, der unter Mitwirkung von Godard entstand. FILM-TRACT: N°1968 (Gérard Fromanger, F 1968) löst das rote Band der französischen Flagge in einen Farbfluss auf. (8. & 13.5.) Die Farben der Trikolore, Blau, Weiß und Rot, sind auch die zentralen Farben in Godards polemischen Film WEEK-END (F/I 1967), einem "Trümmerstück der abendländischen Kultur am Wege des Kapitalismus im Stadium des Imperialismus" (Enno Patalas). Ein junges Ehepaar, Corinne (Mireille Darc) und Roland, macht sich am Wochenende auf den Weg von Paris nach Oinville, wo sie Corinnes Vater beerben wollen, den sie seit längerer Zeit langsam vergiften. Die verstopften Straßen sind gesäumt von Autowracks und Verkehrstoten. Corinne und Roland verirren sich wie in einem Labyrinth – auch in der Zeit. Sie begegnen St. Just (Jean-Pierre Léaud) und Emily Brontë, ehe sie auf ihre Richter treffen, die Guerilleros der FLSO ("Befreiungsfront Seine und Oise"). (7. & 12.5.) Blau, weiß und rot beginnt auch der surreal-komische Film PARTNER (I 1968) von Bernardo Bertolucci, eine freie Dostojewskij-Adaption, formal stark geprägt durch Einflüsse Godards (Farbigkeit, Ausstreichungen im Bild und motivische Ähnlichkeiten). Es finden sich: ein Revolver im Buch, Plakate zur Befreiung Vietnams, Bücherstapel, ein Molotow-Cocktail in der Lambruscoflasche, eine Rede zu Waschmitteln und ihrer Wirkung, die Treppe von Odessa, Theater, Kino, Masken. Zitate. Für den Helden Jakob wird die Idee vom absoluten Theater, das Publikum und Schauspieler verschmelzen lässt, zum Albtraum. Eines Tages steht er vor seinem Doppelgänger, den er freudig begrüßt, da er ihm all das übertragen kann, wozu er selbst nicht fähig ist. Sie inszenieren eine Revolution, aber die Mitwirkenden kommen nicht … (9. & 13.5.) Pierre Clémenti, der in PARTNER in einer Doppelrolle zu sehen ist, pendelte während der Dreharbeiten zwischen Rom und Paris, wo er Aufnahmen von Demonstrationen und Polizeieinsätzen machte. Sein stummer Film LA RÉVOLUTION N’EST QU’UN DÉBUT. CONTINUONS LE COMBAT. (F 1968) changiert zwischen historischem Dokument und Familienalbum. (9. & 13.5.) Als eines der ersten und engagiertesten Werke des feministischen Films gilt mittlerweile FLICKORNA (Die Mädchen, Schweden 1968) von Mai Zetterling, eine moderne "Lysistrata"-Version mit Tomatenwürfen und anderen Rebellionen. Drei Schauspielerinnen um die 40 spielen Aristophanes' Stück, in dem ein Liebesstreik – als Mittel gegen den Krieg – und die Gleichheit der Geschlechter ausgerufen werden. Im Lauf der Tournee wird ihnen der Zusammenhang zwischen ihren Bühnenrollen und ihrer realen Situation als Frau immer bewusster. Versuche, die Botschaft des Stücks mit dem Publikum zu diskutieren, misslingen: "Ist es möglich, die Menschen und die Welt, in der wir leben, zu ändern?" Die Wirklichkeit der Frauen vermischt sich zunehmend mit ihren Wünschen und Träumen, die Mai Zetterling in komplexen Bildmontagen und durch Auflösung klassischer narrativer Strukturen abbildet. (9. & 11.5.) Ein Höhepunkt des Programms ist die Deutschlandpremiere von LES IDOLES (F 1967/68), eine Analyse des kapitalistischen Starsystems im Gewand eines bunten Musikfilms. Gedreht von Marc'O nach seinem gleichnamigen Theaterstück, geschnitten von Jean Eustache. Die Filmhandlung fächert sich in mehrere Erzählstränge rund um eine Pressekonferenz auf, die etwas von einem Ritual oder einer Beerdigung hat. Drei Popstars treten auf, singen, tanzen, vertrauen sich ihrem Publikum an, entlarven die Ränkespiele der Presse und Produzenten. "LES IDOLES hinterfragt auch die eigene Rolle im kapitalistischen Betrieb. Denn jeder Film, auch ein revolutionärer, unterliegt dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. LES IDOLES beschäftigt sich also einerseits mit einem sozio-ökonomischen Phänomen und analysiert zugleich die Art und Weise, wie er dieses selbst repräsentiert." (J. Magny) (10. & 14.5.) Chris Marker stellte 1977 aus einer Vielzahl unterschiedlicher Filmdokumente LE FOND DE L'AIR EST ROUGE (F 1977/93) zusammen. Unterteilt in die Kapitel "Die zerbrechlichen Hände" (1. Von Vietnam zu Ches Tod, 2. Mai 68 und all das) und die „Die abgeschnittenen Hände“ (1. Vom Prager Frühling zu einem gemeinsamen Programm, 2. Von Chile zu, ja was eigentlich?) zeigt der Film die Anstrengungen der zehn Jahre von 1967 bis 1977, den Revolutionstraum zu verwirklichen. Er versucht eine Bilanz zu ziehen, was von den Idealen der 60er Jahre verwirklicht wurde und was gescheitert ist. 1993 überarbeitete Chris Marker den Film und fügte ihm einen Schlusskommentar hinzu. (11. & 26.5.) Louis Malle, der im Mai 1968 maßgeblich am Abbruch des Filmfestivals in Cannes beteiligt war, blickt mit MILOU EN MAI (F/I 1989) ebenfalls zurück auf den Mai 68 und interessiert sich vor allem für dessen Auswirkungen in der Provinz. Der 60-jährige Witwer Milou lebt mit seiner Mutter im Landhaus der Familie im Südwesten Frankreichs. Als die Mutter stirbt, kommt die ganze Familie zusammen. "Der Film ist eine Satire über eine bestimmte Form von Bürgertum, und obwohl ich mich über meine Figuren lustig machte, wollte ich auch, dass sie ergreifend wirkten. Sie wandeln sich. Am Beginn sind sie kritiksüchtig und egoistisch; als sie herausfinden, dass sie die Großmutter nicht begraben können, werden sie lockerer und träumen gemeinsam den Traum von einer utopischen Gesellschaft: eine Landkommune auf dem Gut, sexuelle Befreiung, all diese Ideen à la mode." (Louis Malle) (15. & 18.5.) Das von Chris Marker initiierte Produktionskollektiv SLON (Société pour le Lancement des Œuvres Nouvelles) realisierte eine Reihe von wochenschauähnlichen Magazinen, die sich internationalen Themen widmeten. Den Anspruch der Dokumentationen definiert der Untertitel: "Magazin der Gegen-Information". ON VOUS PARLE DE PARIS: LES MOTS ONT UN SENS (F 1970) ist ein Porträt des linken Verlegers François Maspéro sowie dessen Buchhandlung La joie de lire (Die Freude am Lesen). Herzstück von ON VOUS PARLE DU CHILI: CE QUE DISAIT ALLENDE (F 1971/73) sind Gespräche zwischen dem chilenischen Präsidenten und Régis Debray, der wegen seiner Guerilla-Aktivitäten mit Che Guevara drei Jahre interniert war. ON VOUS PARLE DU BRÉSIL: TORTURES (F 1969) enthält die Aussagen von vier Frauen und Männern über ihre Haft in Gefängnissen der brasilianischen Militärdiktatur. ON VOUS PARLE D'AMÉRIQUE LATINE: LE MESSAGE DU CHE (F 1968) entstand nach der Ermordung Che Guevaras und stellt dessen Botschaft "Schafft zwei, drei, viele Vietnams!" in den Mittelpunkt. (16.5.) MR. FREEDOM (F 1967/68), ein poppiger Comic-Strip, wurde von der französischen Regierung mit dem Mai 68 in Verbindung gebracht und passierte monatelang nicht die Zensur. Ein texanischer Supermann wird von einer Organisation namens Freedom Inc. nach Paris geschickt, um anti-amerikanischen Umtrieben Einhalt zu gebieten. Es kämpfen: Muschik-Man, ein schaumgummiverpackter russischer Potentat und ein großer, gelber chinesischer Drachen, Red-China-Man. Hilflos im fremden Land verfällt Mr. Freedom der aufstandsbekämpfenden Marie-Madeleine (Delphine Seyrig) – eine Liaison, die sexuell und politisch in einem Fiasko endet. (16. & 20.5.) Lindsay Anderson schildert in IF … (GB 1968) die Unterdrückung der Schüler in einem rückständigen britischen Internat. Drei ältere Schüler (darunter Malcolm McDowell, der hier sein Filmdebüt gab) schmuggeln aus den Ferien Gegenstände des wirklichen Lebens in die Anstalt: Alkohol, Zigaretten, Drogen, Fotografien aus dem Vietnam-Krieg, Pin-Ups – Zeichen der Popkultur, die andeuten, dass woanders die Revolte schon im Gange ist. Der Geist Che Guevaras zündet schließlich inmitten des ehrwürdigen Colleges; die Zöglinge greifen zu automatischen Schnellfeuerwaffen und liefern sich ein Gefecht mit dem pädagogischen Establishment. (17. & 21.5.) ICH BIN EIN ELEFANT, MADAME (BRD 1968/69), der einzige Kinofilm des Theaterregisseurs Peter Zadek, skizziert die Geschichte des Bremer Abiturienten Jochen Rull, dessen anarchistische Provokationen fortschrittliche wie konservative Lehrer so irritieren, dass er von der Schule verwiesen wird. Zadeks auf herkömmliche Erzähltechnik verzichtende Collage wurde in zeitgenössischen Kritiken mit Richard Lester, Fellini, Antonioni und vor allem Godard (Farbgebung, Schriftinserte) in Verbindung gebracht. Die dokumentarischen Szenen am Schluss verweisen auf den in der Öffentlichkeit ausgetragenen Generationenkonflikt in HERBST DER GAMMLER (4.5.). Dieser spiegelt sich im Soundtrack, der von Velvet Underground bis zu Freddy Quinns Anti-Protestbewegungs-Lied "Wir" reicht. Im Vorprogramm ist Rainer Boldts Roadmovie THE MASTER COPY (BRD 1969) zu sehen, ein Blow-Up von 8 mm auf 35 mm Cinemascope, unterlegt u.a. mit der Musik der Rolling Stones. (17. & 24.5.) LOIN DU VIÊT-NAM (F 1967) ist einer der ersten militanten Filme dieser Zeit, der von einem Autorenkollektiv signiert wurde (Jean-Luc Godard, Joris Ivens, William Klein, Claude Lelouch, Alain Resnais, Agnès Varda und Chris Marker). Der in elf Episoden unterteilte Film über den Vietnamkrieg, der die Solidarität der Beteiligten mit dem vietnamesischen Volk zum Ausdruck bringen sollte, ist zugleich ein Film über die Ohnmacht der Linken in Europa angesichts eines grausamen, aber entlegenen Kriegsgeschehens. Wir zeigen LOIN DU VIÊT-NAM zusammen mit Harun Farockis NICHT LÖSCHBARES FEUER (BRD 1968/69), einem Agitprop-Film über Napalm-Produktion, Arbeitsteilung und fremdbestimmtes Bewusstsein. (19.5.) Proteste gegen den Vietnamkrieg spielen auch in Haskell Wexlers Regiedebüt MEDIUM COOL (USA 1968/69) eine Rolle. "Bring the GI's Home … Now!" fordern Kriegsgegner bei Demonstrationen während des Wahlkonvents der Demokratischen Partei in Chicago 1968. "The whole world is watching", rufen die Demonstranten, die sich der Macht der Kamera plötzlich bewusst werden. "Look out Haskell, it's real!", ruft ein Mitglied des Filmteams, als bei den Dreharbeiten die mit äußerster Härte agierende Polizei plötzlich Tränengas einsetzt. MEDIUM COOL ist eine beispiellose Mischung aus Fiktion und Dokument, ein Grenzgang zwischen einer erfundenen Geschichte rund um einen entlassenen Fernsehkameramann und den tatsächlichen, gewaltsamen Ereignissen und Straßenkämpfen. (20. & 24.5., mit Vortrag von Bert Rebhandl) CAPRICCI (I 1968) ist Carmelo Benes eigenwillige Reaktion auf die politischen Ereignisse des Jahres 1968. Er bringt einen Maler, einen Dichter und eine Prostituierte zusammen und streut Ausschnitte aus einem Essay von Roland Barthes ein. Maler und Dichter liefern sich ein Scheingefecht mit ihrem Werkzeug, darunter Hammer und Sichel. Und Anne Wiazemsky scheint sich in einer endlosen Autodemolierungsszene über Jean-Luc Godards WEEK-END (7. & 12.5.) lustig zu machen. (22.5., mit einem Vortrag von Marc Siegel in englischer Sprache, & 29.5.) Alain Tanner wirft mit JONAS QUI AURA 25 ANS EN L'AN 2000 (CH/F 1975/76) einen Blick zurück aus dem Jahr 1975. Der "Diskursfilm" (Tanner) skizziert die sich kreuzenden Lebenswege von acht Personen, die von der politischen Aufbruchbewegung des Mai 68 geprägt wurden und sich Mitte der 70er Jahre in alternativen Lebensformen versuchen. Obwohl JONAS die Ernüchterung und Orientierungslosigkeit der Linken Mitte der 70er Jahre zum Ausdruck bringt, hat Tanner das Thema nicht mit Larmoyanz, sondern mit Selbstironie und Humor behandelt und einen Film gemacht, der mit schwebender Leichtigkeit daherkommt. (23. & 28.5.) Jean-Luc Godard griff den Mai-Ereignissen voraus und schilderte in LA CHINOISE (F 1967) sich ankündigende Auseinandersetzungen, bevor diese zu Realität wurden. Fünf junge Leute schließen sich zu einer Kommune zusammen. Die Farbgestaltung der großen, bürgerlichen Wohnung wird vom Rot der Mao-Bibeln bestimmt, an den Wänden steht Godards Satz "Es gilt, vage Ideen mit klaren Bildern zu konfrontieren". Die Philosophie-Studentin Véronique, der Schauspieler Guillaume, der Maler Kirilov, der Naturwissenschaftsstudent Henri und die Gelegenheitsprostituierte Yvonne diskutieren über Marx, Mao, Vietnam und den richtigen Weg zur Revolution. Am Ende steht ihr Scheitern: Guillaumes Traum von einem sozialistischen Theater ist zerplatzt, Kirilov nimmt sich das Leben, und das von der Gruppe geplante Attentat schlägt fehl. (23. & 30.5.) Von einem filmischen Zeugnis der Mai-Unruhen geht Hervé Le Roux in REPRISE (F 1996) aus: dem ergreifenden kurzen Film LA REPRISE DU TRAVAIL AUX USINES WONDER (F 1968), der von Studenten der Pariser Filmhochschule am 10. Juni 1968 gedreht wurde. Er zeigt, wie Gewerkschaftsvertreter versuchen, Arbeitern der Glühlampenfabrik Wonder klarzumachen, dass ein dreiwöchiger Streik beendet werden soll. Inmitten von hitzigen Diskussionen weigert sich eine junge Arbeiterin standhaft, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren und schreit all ihre Verzweiflung heraus. Fasziniert von dieser Frau, hat sich Hervé Le Roux drei Jahrzehnte später auf die Suche nach ihr und den damals Beteiligten begeben – eine spannende Reise in die Welt der Akteure von damals: Gewerkschafter, Aktivisten, Vorarbeiter, Abwiegler, Streikbrecher; eine Reise, die zur Reflexion über Geschichte und Gedächtnis wird. (25.5.) In LE GAI SAVOIR (F/BRD 1968) entwirft Godard einen Dreijahresplan, demzufolge Bilder und Töne gesammelt, auseinandergenommen und, befreit von der bürgerlichen Logik der Repräsentation, neu zusammengesetzt werden sollen. "Émile Rousseau (Jean-Pierre Léaud) und Patricia Lumumba (Juliet Berto) treffen sich im schwarzen Niemandsland eines Filmstudios und diskutieren; sie versuchen Klarheit zu schaffen über die Sprache der Bilder und Töne, über das Hören und das Sehen. Godard, unsichtbar, hilft ihnen dabei, führt ihnen Bild-Ton-Kombinationen vor, diesen ABC-Schützen des audiovisuellen Zeitalters, die Töne, Wörter, Bilder, Hören, Sehen, Denken, Abbildung, Wirklichkeit zu isolieren und wieder zusammenzufügen versuchen." (Martin Schaub) (29.5. & 7.6.) Während in Paris Straßenschlachten tobten, hielt sich Jacques Demy im Mai 68 in Los Angeles auf, um seine erste Hollywood-Produktion zu realisieren. Statt des ursprünglich geplanten Film-Musicals zeichnete Demy jedoch ein ungeschöntes Bild der USA mitten im Vietnam-Krieg. MODEL SHOP (USA/F 1968) ist die melancholische Fortschreibung der Geschichte von Lola, Demys Langfilmdebüt aus dem Jahr 1960, wiederum mit Anouk Aimée in der Hauptrolle. Von der romantischen ersten großen Liebe ist allerdings nicht mehr die Rede. MODEL SHOP ist ein Film über die Möglichkeit zweiter Chancen. Lola ist acht Jahre älter, sie arbeitet nach ihrer gescheiterten Ehe als Fotomodell, um ihre Heimreise nach Frankreich bezahlen zu können. (30.5., Einführung: Hans-Joachim Fetzer & 8.6.) Peter Whitehead wurde durch seine Filme über die britische Rock- und Popszene von 1965 bis 1969 bekannt. Wir zeigen seinen politischsten Film THE FALL (GB 1968/69). In dieser, zwischen Oktober 1967 und Juni 1968 in New York gedrehten Arbeit nahm Whitehead ein Stimmungsbild der USA auf. Sein Thema ist brisant: Es geht um Fragen zu Krieg, Rassenunruhen, Gewalt und sozialen Aufständen zu einer Zeit, in der die USA über die Vietnam-Frage zutiefst in zwei Lager gespalten war. Whitehead gelang es, hinter die Barrikaden des von radikalen Studenten besetzten Campus der Columbia University zu kommen, während Polizeieinheiten vordrangen, um die Besetzer aus den Gebäuden zu zwingen. In einer „fiktiven“ Einstellung à la Godard – beziehungsweise einer, die auf Vertov zurückgreift – ist Whitehead als "Mann mit der Kamera" selbst im Bild zu sehen, während er versucht, Geld für den Film aufzutreiben, den er gerade dreht. (31.5. & 5.6.)
(Birgit Kohler, Hans-Joachim Fetzer) "1968//2008" wird im Juni und Juli fortgesetzt. Eine ausführliche Programmbroschüre liegt an der Kasse aus. An den Wochenenden ist die Bar im Arsenal-Foyer geöffnet. Ein großes Dankeschön an alle, die bei der Recherche und in Gesprächen mit ihren Kenntnissen behilflich waren. "1968//2008" ist gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Mit freundlicher Unterstützung der Botschaften von Frankreich, Italien und Schweden.

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