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Weerasethakul ist einer der wenigen Filmemacher Thailands, die außerhalb des strengen thailändischen Studiosystems arbeiten, und er ist schwul, was er wiederholt in seinen Werken thematisiert und was ihm – neben den latent regimekritischen Anspielungen in seinem Schaffen – beständig Probleme mit der Zensur einbringt. Mit seiner 1999 gegründeten unabhängigen Produktions- und Verleihplattform "Kick the Machine" fördert er den unabhängigen und experimentellen Film.
Im April präsentiert das Arsenal eine komplette Retrospektive der Filme von Apichatpong Weerasethakul – ein Höhepunkt in unserem Jahresprogramm. Neben seinen auf internationalen Festivals gefeierten und ausgezeichneten Langfilmen umfasst sie auch die zahlreichen kurzen und mittellangen Filme, die im Kontext der bildenden Kunst als Elemente von Installationen entstanden – wie die beiden ganz aktuellen Filme PHANTOMS OF NABUA und PRIMITIVE: A LETTER TO UNCLE BOONMEE, die für die zur Zeit im Münchner Haus der Kunst gezeigte Installation "Primitive" gedreht wurden und als Berliner Erstaufführung gezeigt werden. Ganz besonders freuen wir uns, dass Apichatpong Weerasethakul zur Eröffnung am 1. & 2. April persönlich zu Gast sein wird. Zum Auftakt der Retrospektive wird außerdem druckfrisch der aktuelle Band der FilmmuseumSynemaPublikationen aus Wien vorgestellt: "Apichatpong Weerasethakul", herausgegeben von James Quandt. Das reich illustrierte Buch enthält (in englischer Sprache) Beiträge von Tilda Swinton & Mark Cousins, Benedict Anderson, Karen Newman, Tony Rayns, Kong Rithdee, eine kommentierte Filmografie von Simon Field sowie Gespräche mit und Essays von Weerasethakul selbst.
In seinem Langfilmdebüt MYSTERIOUS OBJECT AT NOON / DOGFAR NAI MAE MARN (2000, 1.4., Eröffnung in Anwesenheit von Apichatpong Weerasethakul, & 9.4.), einer der ersten unabhängigen Produktionen Thailands, reist Weerasethakul mit einer Filmcrew von Bangkok in den ländlichen Süden und zurück. Der dokumentarische Ansatz ist jedoch verbunden mit dem fiktionalen "Es war einmal …", das das Erzählen einer Geschichte ankündigt. Die von einer Thunfischverkäuferin lancierte Geschichte von einem Jungen im Rollstuhl und seiner Lehrerin lässt der Filmemacher von Menschen, die er trifft, nach Belieben weiterspinnen – und in Szene setzen. Dabei scheinen verschiedenste Facetten des kollektiven Unbewussten Thailands auf, Elemente von Science-Fiction, Seifenopern, Musicals und Legenden. Das Erzählen selbst ist hier eine Reise, der Film die stetige Transformation einer Erzählung, die Einblicke in das städtische und ländliche Leben Thailands genauso bietet wie in Weerasethakuls Freiheit des Erzählens, das sich um Wahrscheinlichkeiten nicht schert.
In LIKE THE RELENTLESS FURY OF THE POUNDING WAVES / MAE YA NANG (1995, 1. & 9.4.) gibt die Tonspur ein melodramatisches Hörspiel wieder, das von einer Meeresgöttin handelt, die sehnsuchtsvoll ihren Liebhaber erwartet. Die Radiowellen tragen es zu den Passagieren eines Sammeltaxis, zu einem streitenden Paar und zu einer Filmcrew im Studio, deren Alltag in Verbindung mit der Legende selbst eine mythische Dimension annimmt.
Kurzfilmprogramm 1 (2.4., in Anwesenheit von Apichatpong Weerasethakul): Mit Bezug auf das in Thailand übliche Abspielen der Nationalhymne zu Ehren des Königs vor jeder Kinovorführung entstand THE ANTHEM (2006) – ein Film, "amtlich geprüft für alle Kinos und den audiovisuellen Reinigungsbeamten vorausgehend". In WORLDLY DESIRES (2005) macht Weerasethakul den nächtlichen Dschungel zur Bühne, stellt Scheinwerfer auf eine Lichtung und lässt Showgirls zu einem Pop-Song singen und tanzen. Die Filmemacherin Pimpaka Towira dreht dazu eine Liebesgeschichte im Tageslicht. TEEM, NOV 20 (2007) zeigt den Partner des Filmemachers beim Winterschlaf, aufgenommen mit einem Mobilte lefon. In LUMINOUS PEOPLE (2007) unternimmt Weerasethakul die Re-Inszenierung eines traditionellen Bestattungsrituals auf dem Mekong, währenddessen die Asche eines Verstorbenen in den Fluss gestreut wird, zum Gedenken an die Präsenz der Toten und an die Abwesenheit von Erinnerungen der Lebenden. In genau diesem Sinne hat Weerasethakul sein aktuelles Projekt "Primitive" in Nabua angesiedelt, einem Dorf im Nordosten Thailands, in dem kommunistische Bauern vom Militär verfolgt und gefoltert wurden. Ein Ort des Traumas, ein Schauplatz voller Erinnerungen, die offiziell nicht existieren dürfen. Hier drehte Weerasethakul mehrere Filme für die Installation "Primitive", gemeinsam mit den Teenagern des Dorfes, mit denen er auch ein Raumschiff baute. Wir zeigen PRIMITIVE: A LETTER TO UNCLE BOONMEE (2009) mit den Jugendlichen als Soldaten, die über sein nächstes Filmprojekt zum Thema Reinkarnation sprechen und PHANTOMS OF NABUA (2009), in dem die Teenager vor einer Open-Air-Leinwand mit einem Feuerball spielen. Ein Spiel, eine Geisterbeschwörung, eine Kommunikation von Lichtern, die einerseits von Heimat und andererseits von Zerstörung künden. "Im Grunde ist 'Primitive' das Projekt einer Reinkarnation des Verdrängten, durch Umdeutung und Umwidmung. Ein versehrtes Dorf wird mit neuen spielerischen Szenen, Bildern und Erinnerungen gefüllt – und durch das Kunstwerk dennoch als Ort des Terrors in die Welt getragen." (Katja Nicodemus)
SYNDROMES AND A CENTURY / SANG SATTAWAT (2006, 2.4., Einführung: Apichatpong Weerasethakul, & 12.4.) ist eine heitere Krankenhauskomödie in zwei Teilen. Der erste Teil spielt in einem Provinzkrankenhaus, der zweite in einer hochmodernen Klinik in Bangkok. In beiden Teilen gibt es die gleichen Schauspieler, komplementäre Kamerapositionen sowie Personen und Szenen, die sich entsprechen: eine hübsche Ärztin, ein abgewiesener Liebhaber, ein Orchideenexperte, ein buddhistischer Mönch, der gerne DJ wäre, ein singender Zahnarzt, ein Zimmer voller Prothesen, ein Bewerbungsgespräch der ungewöhnlicheren Art. Wiederkehr und Variation, mehr noch: eine Reflexion über die Erinnerung, Visionen, Träume, die Zeit und Reinkarnation.
Kurzfilmprogramm 2 (4.4.): In seiner frühen Arbeit 011•6643•225059 (1994) experimentiert Weerasethakul mit dem Verhältnis von Bild und Ton anhand eines Telefongesprächs mit seiner Mutter und einem Kinderfoto von ihr. Eingeleitet durch die Nacherzählung eines thailändischen Comics, ist das Verhältnis von Bild und Ton auch zentral in MALEE AND THE BOY (1999), wo die Tonaufnahmen eines 10-jährigen Jungen – man hört Baulärm, Geprächsfetzen, Videospielakustik, synthetische Computerstimmen, singende Kinder – mit Einstellungen kombiniert werden, die Szenen aus der Metropole Bangkok, jedoch nie die Quellen der Töne zeigen. Bilder und Erinnerungen aus dem Garten der Mutter, animierte Zeichnungen und prächtige Juwelenkreationen werden in MY MOTHER'S GARDEN (2007) übereinander gelegt. THIS AND A MILLION MORE LIGHTS (2003) entstand für die Nelson Mandela Stiftung und zeigt flackerndes Licht und Szenen aus einem Schwimmbad. Eine mit dem Handy gefilmte, impressionistisch-abstrakte digitale Komposition von Körpern und Körperteilen ist NOKIA SHORT (2003). In dem digitalen Flicker-Film WINDOWS (1999) spielt das Licht die Hauptrolle: durch den Lichteinfall in einen Innenraum und einen langsamen Kameraschwenk erlebt man dessen expressive Kraft. Das Ausgangsmaterial für HAUNTED HOUSES / BANN PHI SING (2001) waren zwei Episoden einer populären TV-Soap-Opera, deren melodramatisches Drehbuch um Liebe, Verrat und Geld Weerasethakul von Dorfbewohnern aus dem Norden Thailands in ihren ärmlichen Behausungen nachspielen lässt. So wird die Geschichte mit 66 verschiedenen Darstellern fortlaufend erzählt. Die Dialoge und Verhaltensmuster wirken im Setting des Dorfes extrem unnatürlich. Die Menschen verkörpern ihre eigenen Träume und die Fantasien, denen sie nachhängen.
Kurzfilmprogramm 3 (5. & 15.4.): Mit Bezug auf das in Thailand übliche Abspielen der Nationalhymne zu Ehren des Königs vor jeder Kinovorführung entstand THE ANTHEM (2006). In MOBILE MEN (2008) filmen sich zwei junge Männer, die auf einem Lastwagen sitzen, gegenseitig und lernen sich dadurch kennen. TEEM, NOV 21 und TEEM, NOV 22 (2007) zeigen den Partner des Filmemachers beim Winterschlaf, aufgenommen mit einem Mobiltelefon. Wie Bild und Ton zusammengehören, weiß man nie in THIRDWORLD / GOH GAYASIT (1997), der im Süden Thailands auf dem Land gedreht wurde und eine rätselhafte und doch alltägliche Welt zeigt. In VAMPIRE / SUD VIKAL (2008) geht es wieder in den Dschungel, an die Grenze zwischen Thailand und Burma, wo der Nok Phii gesichtet worden sein soll, der einzige Vogel, der sich von anderer Tiere Blut ernährt. Oder handelt es sich nur um einen imaginären Geistervogel?
Eine Hommage an das populäre thailändische Kino aus Weerasethakuls Jugend ist das in Ko-Regie mit Michael Shaowanasai entstandene kunterbuntschrille Camp-Abenteuer THE ADVENTURE OF IRON PUSSY / HUA JAI TOR RA NONG (2003, 5. & 15.4.), ein Spektakel, das Kampfkunst, Musical, Travestie und Spionagethriller-Parodie vereint. Als verdeckte Ermittlerin, die sich auf Transgender-Verwandlungen spezialisiert hat, setzt Agentin Iron Pussy ihre Verführungskünste ein, um die Schurken der Welt zu bekämpfen. Ihr Geliebter Pew ist, auf dem Motorrad, stets dabei und notfalls auch lebensrettend zur Stelle. Beide tanzen und singen sich ihren Weg durch allerlei Gefahren.
Unerhörtes und Ungesehenes geschieht in TROPICAL MALADY / SUD PRALAD (2004, 7. & 10.4.) auf der Leinwand – eine kinematografische Grenzerfahrung im Dschungel, im animistischen Zwischenreich von Mensch, Tier und Natur. Der Film beginnt mit zwei verliebten jungen Männern, die in Karaoke-Bars oder ins Kino gehen, bis der eine der beiden plötzlich verschwindet. Er habe sich, so eine alte thailändische Sage, in ein reißendes Tier verwandelt, um über die Lebenden herzufallen. Dann beginnt, nach einer langen Schwarzblende, der zweite Film: Dieser führt in den Dschungel, dessen nächtliche Bilder und vor allem auch Töne von nun an bestimmend sind. Man überlässt sich dem hypnotischen Sog der Tonspur, spiegelt sich im Auge einer riesigen Wildkatze und starrt gebannt auf einen von Glühwürmchen illuminierten Baum. "In einem Film wie TROPICAL MALADY stößt unser Bilderverständnis an seine Grenzen. Eine andere, physische Art der Wahrnehmung stellt sich ein." (Katja Nicodemus)
In GHOST OF ASIA (Ko-Regie: Christelle Lheureux, 2005, 7. & 10.4.) haben auf der einen Seite des Split Screen Kinder fantasievolle Ideen, die auf der anderen Seite des Split Screen ein junger Mann als Schauspieler-Geist (halb real, halb ausgedacht) ausbaden und durchführen muss. BLISSFULLY YOURS / SUD SANAEHA (2002, 11. & 13.4.) erzählt eine Liebesgeschichte, in der sich die Verortung in der thailändischen Gegenwart und die Offenheit für metaphorische Auslegungen nicht ausschließen. "Ein hypnotisches Bildgedicht über (politische) Entfremdung und Müßiggang. In der ersten Stunde skizziert Weerasethakul die Liebesgeschichte zwischen einem illegalen burmesischen Einwanderer, der an einer schmerzhaften Hautkrankheit leidet, und einer thailändischen Fabrikarbeiterin. Dann kommen die Credits – und ein Ausflug ins Grüne, an die Grenze, wo jeder erzählerische Druck vom Film abfällt und er in sinnlichen Bildern und fast ohne Dialoge (es dominiert die überwältigende, brütende Dschungel-Geräuschkulisse) schildert, wie es ist, 'die Dinge eine Zeitlang zu vergessen': Beeren an sonnendurchfluteten Lich tungen, Sex am Bach und unerklärliche Zeichen über dem Bild. Ein Unikat." (Christoph Huber) EMERALD / MORAKOT (2007, 11. & 13.4.) zeigt ein heruntergekommenes, verlassenes Hotel in Bangkok als Geisterhaus, als eine verwunschene Herberge in einem Gestöber von Erinnerungen, durch das es belebt wird.
Im Haus der Kunst in München ist noch bis zum 17. Mai die Filminstallation "Primitive" zu sehen. An der Kasse des Arsenals ist die jüngst vom Österreichischen Filmmuseum herausgegebene Monografie zum Sonderpreis von 18,00 € erhältlich. Dank an Klaus Volkmer (Filmmuseum München), Regina Schlagnitweit und Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum, Wien) und Simon Field (Illuminations Film, London).

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