Direkt zum Seiteninhalt springen
Unsere Auswahl von zehn aktuellen chilenischen Spiel- und Dokumentarfilmen aus den Jahren 2008–2010 – die meisten sind erstmalig in Berlin zu sehen – legt den Schwerpunkt auf Debüts und zweite Filme junger FilmemacherInnen. Sie versammelt ein breites Spektrum an eigenwilligen Autorenhandschriften. Es finden sich darunter mehrfach preisgekrönte Filme wie LA BUENA VIDA, TONY MANERO und HUACHO, als auch international noch weniger bekannte, formal experimentierfreudige Arbeiten wie MANUEL DE RIBERA und MAMI TE AMO, ein Low-Budget-Abschlussfilm. Um filmische Vergangenheitsbewältigung geht es nur wenigen dieser Arbeiten – sie beschäftigen sich vielmehr mit den Herausforderungen der Globalisierung, mit Einsamkeit, Identitätsproblemen und der Beziehung von Mensch und Natur. Häufig werden Spielfilme mit dokumentarischen Elementen grundiert. Die Vielfalt der landschaftlichen Gegebenheiten Chiles wird produktiv genutzt: Von der Südspitze Patagoniens über die Hauptstadt Santiago de Chile bis hin an die Grenze zu Bolivien im Norden spannen sich die Schauplätze der Filme dieses Programms. Mit den dunklen Kapiteln der Geschichte des Landes setzt sich der investigative Dokumentarfilm EL DIARIO DE AGUSTÍN auseinander – und auch das Porträt der Punk-Poetin Stella Díaz Varín beleuchtet anhand ihrer Biografie zentrale Momente der chilenischen Vergangenheit. Wir eröffnen die Reihe am 3. September mit HUACHO, dem beeindruckenden Debütfilm von Alejandro Fernández Almendras, mit dem er zum Festival in Cannes eingeladen war. Wir freuen uns ganz besonders, den Filmemacher zur Diskussion zu Gast zu haben.
HUACHO (Alejandro Fernández Almendras, Chile / F 2009, 3.9., Eröffnung in Anwesenheit von Alejandro Fernández Almendras, & 7.9.) Ein Tag im Leben einer Bauernfamilie, die mit Armut zu kämpfen hat. Drei Generationen leben unter einem Dach. Daraus werden vier Geschichten: die Großmutter, die ihren selbst gemachten Käse am Straßenrand zu billig verkaufen muss; die Tochter, die im städtischen Kaufhaus ein neues Kleid zurückgibt, um die Stromrechnung bezahlen zu können; der Enkel, der in der Schule als "Bauer" verspottet wird und sich vor allem für Playstation interessiert und der Großvater, der auf dem Feld arbeitet und von früher erzählt. Vier dokumenta-risch anmutende, mit LaiendarstellerInnen gedrehte Geschichten, die eine unsentimentale Erzählung ergeben über eine Gesellschaft im Umbruch, über den Wandel der Zeit und der Werte und über die Gleichzeitigkeit von modernem Hightech und ländlichem Leben in einer globalisierten Welt.
EL CIELO, LA TIERRA Y LA LLUVIA (Himmel, Erde und Regen, José Luis Torres Leiva, Chile / F / D 2008, 4.9., Einführung: Peter B. Schumann, & 16.9.) Die Natur, die Kraft der Elemente und das Wetter in Patagonien, an der Südspitze Chiles, haben großen Einfluss auf das Leben von Ana. Sie verbringt ihre immer gleichen Tage schüchtern und in sich gekehrt, gefangen in den täglichen Routinen als Verkäuferin, auf Spaziergängen mit ihrer Freundin und bei Treffen mit deren behinderten Schwester. Als sie beginnt, einem rätselhaften Außenseiter den Haushalt zu führen, kommt Bewegung in ihr Leben. Ohne viele Worte, in langen Einstellungen und mit atmosphärisch starken Bildern zeigt der Film vier Einzelgänger am Ende der Welt, den Einfluss der Landschaft auf die Menschen und den stummen Versuch, sich zu öffnen und die Einsamkeit zu überwinden.
ALICIA EN EL PAÍS (Alicia in the Land, Esteban Larraín, Chile 2008, 5. & 14.9.) Ein junges Que-chua-Mädchen, ganz allein und zu Fuß unterwegs, inmitten von atemberaubenden Landschaften: Die 13-jährige Alicia hat ihr Dorf in Südbolivien verlassen, um in Nordchile, mehr als 180 Kilometer entfernt, Arbeit zu suchen. Der Weg ist lang und beschwerlich: über Bergkämme und durch Steppen, Wüsten und Täler. Angetrieben von prekären Lebensumständen ist ihr Marsch gleichzeitig auch eine innere, spirituelle Reise, durch ihre Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft. Fast ohne Dialog – zu hören sind vor allem Regen, Donner und Wind – und mit faszinierenden Bildern erzählt der auf realen Ereignissen basierende Film von der Beziehung zwischen Mensch und Natur, von Heimat und Fremde, von geopolitischen Realitäten und kulturellen Wurzeln.
MAMI TE AMO (I Love You Mum, Elisa Eliash, Chile 2008, 5. & 10.9.) Raquel muss erleben, wie ihre Mutter allmählich erblindet und manches nicht mehr erledigen kann. Die zunehmend selbstbezo-gene Mutter lässt ihre kleine Tochter (wie in Hänsel und Gretel) jeden Tag in einem anderen Stadtteil von Santiago alleine zurück. Das Mädchen aber sehnt sich vor allem danach, der Mutter zu gefallen. Um ihr nahe zu kommen, denkt sich die Kleine einen makabren Plan aus: Sie will genau so sein wie ihre Mutter und mixt sich spezielle Augentropfen, um wie diese zu erblinden … Eine extreme Geschichte, die formal radikal erzählt wird: mit Unschärfen, Überbelichtungen und ausfransenden Bildern. Eine Studie über Auflösung und Orientierungslosigkeit, eine Reflexion über Blicke und Kino.
EL DIARIO DE AGUSTÍN (Agustín's Journal, Ignacio Agüero, Chile 2008, 7. & 13.9.) El Mercurio ist seit fünf Generationen die einflussreichste Tageszeitung Chiles und prägt die öffentliche Meinung maßgeblich. Die Frage, welche Rolle die konservativ ausgerichtete Zeitung und ihr Herausgeber Agustín Edwards während der Pinochet-Diktatur spielten, ist bis heute ein Tabu in Chile. Der Filmemacher schließt sich der Recherche einer Gruppe von Studierenden an, um der Sache trotz vieler Widerstände auf den Grund zu gehen. Der Dokumentarfilm enthüllt, wie El Mercurio die Regierung von Salvador Allende schwächte, der Militärdiktatur von Pinochet zum Aufstieg verhalf, als deren rechter Arm Desinformation betrieb und somit mitverantwortlich ist für die Verbrechen der Diktatur und die Verletzung der Menschenrechte in Chile.
LA BUENA VIDA (The Good Life, Andrés Wood, Chile / Argentinien / Spanien / GB / F 2008, 11. & 23.9.) Einige Mosaiksteinchen aus dem Leben einer Großstadt: Eine Psychologin, die Fortbildungen für Prostituierte zu Safer Sex anbietet, erfährt, dass ihre 15-jährige Tochter schwanger ist. Ein Friseur träumt von einem eigenen Auto und verkauft dafür das Grab seines Vaters. Ein junger Musiker fällt durch die Aufnahmeprüfung beim philharmonischen Orchester und landet mit seiner Klarinette bei der Polizeikapelle. Alle vier leben in Santiago. Ihre Wege kreuzen sich im städtischen Trubel, doch sie begegnen sich nicht wirklich. Jede/r versucht, seinen Traum zu verwirklichen – und bleibt letztlich doch auf sich allein gestellt.
LA COLORINA (Fernando Guzzoni, Werner Giesen, Chile 2008, 12.9., Einführung: Adrián Solar, & 20.9.) Das Porträt einer außergewöhnlichen Frau, der chilenischen Dichterin Stella Díaz Varín (1926–2006), die wegen ihrer roten Haare "La colorina" genannt wurde. Ende der 40er Jahre begann sie mit ihren Gedichten die chilenische Intellektuellen-Szene zu verblüffen. Sie wurde dar-über hinaus bekannt für ihre kräftigen Faustschläge, ihr politisches Engagement und für ihre Vorliebe, barfuß und wild bemalt auszugehen. Anhand der Aussagen von Wegbegleitern (darunter auch Alejandro Jodorowsky) und Gesprächen mit Stella Díaz Varín als alter Dame mit heiserer Stimme zeichnet der Film das Bild einer Legende: Poetin, Anarchistin, Kommunistin, Provokateurin, Boxerin, Großmutter, Alkoholikerin – gewissermaßen der erste Punk der Geschichte.
MANUEL DE RIBERA (Christopher Murray, Pablo Carrera, Chile 2010, 14. & 18.9.) Als Manuel de Ribera, ein verschrobener Outsider, mit 48 Jahren eine kleine unbewohnte Insel vor Chiles Südküste erbt, sieht er seine Chance gekommen, der Gesellschaft, in der er nicht heimisch wird, zu entfliehen. Auf der Insel möchte er eine Gemeinschaft nach seinen Regeln und Werten aufbauen – über die allein er bestimmt. Dabei lernt er einen jungen Fischer kennen, der ums Überleben kämpft, und eine Prostituierte, die ihrem Gewerbe nicht mehr nachgehen möchte. Es ist jedoch gar nicht so einfach, alle nach seiner Pfeife tanzen zu lassen … Die Methode der Filmemacher beruht auf Improvisation und dem Dokumentarisieren der Fiktion, indem aus dem Off Fragen an den Protagonisten gerichtet werden.
TONY MANERO (Pablo Larraín, Chile / Brasilien 2008, 18. & 22.9.) Santiago de Chile, 1978. Auf dem Höhepunkt der Pinochet-Diktatur hat der 50-jährige Raúl Peralta nur ein einziges Ziel: Er will um jeden Preis bei einem im Fernsehen übertragenen Wettbewerb von Tony-Manero-Imitatoren auftreten. Besessen von John Travoltas legendärer Figur aus Saturday Night Fever verfolgt er skrupellos sein Ziel. Dabei ist ihm jedes Mittel recht. Zur gleichen Zeit setzen die Kollegen aus seiner Tanztruppe ihr Leben im Kampf gegen die Diktatur aufs Spiel und werden von der Geheimpolizei verfolgt. Aus dieser bizarren Kollision von Disco-Fieber, politischem Widerstand und Diktatur entsteht eine Charakterstudie sowie eine dunkle Parabel auf die chilenischen Verhältnisse zu Zeiten des Pinochet-Regimes.
TURISTAS (Touristen, Alicia Scherson, Chile 2009, 19. & 21.9.) Von ihrem Mann nach einer Auseinandersetzung auf dem Weg in die Sommerferien am Straßenrand zurückgelassen, findet sich die Biologin Carla mit einem norwegischen Rucksacktouristen im Nationalpark Siete Tazas wieder. Eine Städterin in der Natur, eine Frau am Scheideweg: Wie soll man leben? Carla hadert, zögert, weiß nicht recht. Diverse Bekanntschaften mit kuriosen Menschen von ebenfalls prekärem Selbstverständnis und das Erleben der Natur bringen Carla sich selbst wieder näher. Mit hyperrealistischen Bildern in knalligen Farben und der Kamera als Forscherin wird neben dem menschlichen auch der tierische Artenreichtum in diesem Mikrokosmos genau inspiziert.
Eine Veranstaltung mit freundlicher Unterstützung durch die Kulturabteilung des Außenministeriums von Chile. Dank an Peter B. Schumann.

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur