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Seit den 90er Jahren stellt Moretti die eigene Person ins Zentrum seiner Reflexionen über die Wechselseitigkeit von Persönlichem und Politischem. Damals wie heute erwachsen aus der filmischen Auseinandersetzung mit dem Persönlichen Zustandsbeschreibungen einer Generation und eines Landes, die in Italien immer wieder Debatten ausgelöst haben. Zentraler Grundton dabei ist bis auf wenige Ausnahmen die für Nanni Moretti so bestimmende Ironie, mit der er über sich selbst, die Gesellschaft, die Krise der politischen Linken im Speziellen sowie der Politik im Allgemeinen spricht und in die er zuweilen bissige Satire, Zorn und Beunruhigung mischt. Wie eng Komödie und Tragödie beieinander liegen, lässt sich in seinen Filmen nachvollziehen. Ebenso charakteristisch ist das Fragmentarische im Werk von Nanni Moretti, mit großer Leichtigkeit und Eleganz fügt er jedoch nicht nur unterschiedlichste Szenen, Einstellungen, Bilder und Töne zu einem sinnfälligen Ganzen, sondern verbindet auf unverwechselbare Weise Popkultur und Politik, Fiktion und dokumentarisches Material, Humor und bitteren Ernst.
Wir freuen uns, in Zusammenarbeit mit dem Italienischen Kulturinstitut im Dezember fast alle Filme des großen italienischen Regisseurs im Arsenal präsentieren zu können. Zudem laufen drei Filme, in denen Nanni Moretti als Schauspieler und Produzent mitgewirkt hat. Das Eröffnungs-Wochenende erhält durch die Anwesenheit von Nanni Moretti eine besondere Strahlkraft: Neben CARO DIARIO (1994) und PALOMBELLA ROSSA (1989) zeigen wir seine ersten drei mittellangen Filme, die er Anfang der 70er Jahre auf Super8 gedreht hat.
CARO DIARIO (Liebes Tagebuch, I 1993, 4.12., zu Gast: Nanni Moretti & 6.12.) Morettis erster Tagebuchfilm in drei Episoden: Zu den Klängen mitreißender Musik durchstreift Moretti "Auf der Vespa" Rom, sinniert über Architektur und das Kino und trifft Jennifer Beals. Einen Platz zum Arbeiten suchen Moretti und ein Freund auf den "Inseln", werden jedoch von Eltern, Bürgermeistern und dem Fernsehen daran gehindert. Ein Juckreiz lässt Moretti im 3. Teil eine Vielzahl von "Ärzten" aufsuchen, deren Behandlungen allesamt erfolglos bleiben. Ein CT bringt die zunächst erschreckende Diagnose, aber auch einen Heilungsweg. Drei Odysseen unterschiedlichster Art, die um zentrale Themen kreisen: Individuum und Gesellschaft, Autobiografie, Kino und Fernsehen.
IL GIORNO DELLA PRIMA DI CLOSE UP (Am Tag der Premiere von Close Up, I 1995, 4.12.) In Morettis Kino, dem "Nuovo Sacher", steht die Premiere von Abbas Kiarostamis Close-Up (Iran 1990) unmittelbar bevor. Die Nervosität des Kinobetreibers überträgt sich auf seine Mitarbeiter.
Nur in seiner Anwesenheit zu sehen sind Nanni Morettis erste drei Super8-Filme (5.12., Einführung: Nanni Moretti), die bereits persönliche Reflexionen und politische Fragestellungen verbinden. LA SCONFITTA (I 1973, dt.: Die Niederlage) Zwei Männer unterhalten sich über Politik und Aktivismus. Einer zweifelt, der andere ist voller Zuversicht. Einen Teil der Aufnahmen greift Moretti in PALOMBELLA ROSSA wieder auf. Fast zeitgleich entsteht PATE DE BOURGEOIS (I 1973), dessen Titel ein Wortspiel aus "Paté de foie gras" und "épater le bourgeois", zu dt.: das Bürgertum schockieren, ist. Auf dem Klo werden Gespräche über das Kino und menschliche Beziehungen geführt, keiner hört dem anderen zu. COME PARLI FRATE? (I 1974) Parodie des berühmten italienischen Romans Die Verlobten von Manzoni – ein "Kostümfilm" der anderen Art.
PALOMBELLA ROSSA (Wasserball und Kommunismus, I 1989, 5.12., zu Gast: Nanni Moretti & 9.12.) In der Folge eines Autounfalls hat Michele Apicella sein Gedächtnis verloren. Es stellt sich heraus, dass er Mitglied der KP ist und zudem für ein Wasserball-Turnier nominiert wurde. Im Verlauf des Spiels versucht er herauszufinden, warum er Kommunist wurde – Erinnerungen an seine Kindheit und an die Partei brechen über ihn herein. Eine wilde Satire über den Zustand der italienischen Linken Ende der 80er Jahre.
IO SONO UN AUTARCHICO (I Am Self Sufficient, I 1976, 7. & 10.12.) Auf Super8 gedrehtes, selbst finanziertes Debüt und überragender Erfolg. Darsteller und Team rekrutierte Moretti aus seinem Freundeskreis, die Hauptrolle, Michele Apicella, übernahm er selbst. Apicella wurde gerade von seiner Frau verlassen, versucht sich in der Betreuung seines Kindes und weigert sich zu arbeiten. Statt dessen beteiligt er sich an einer avantgardistischen Theaterinszenierung. In einer Zeit der Krise der italienischen Film-Komödie ironisiert Moretti "mich selbst, mein Milieu, all das, was die Zukunft repräsentiert."
PADRE PADRONE (Mein Vater, mein Herr, Paolo & Vittorio Taviani, I 1977, 8. & 12.12.) Anstelle eines Jobs als Assistent boten die Tavianis dem jungen Moretti eine Rolle in ihrer Verfilmung des Romans des sardischen Autors Gavino Ledda an. Moretti spielt Cesare, der der Hauptperson Gavino Lesen und Schreiben beibringt. Die Tavianis haben die authentische Geschichte der Sprachlosigkeit, Sprachwerdung und Selbstbefreiung eines sardischen Hirten mit der Wucht eines antiken Mythos verfilmt.
ECCE BOMBO (Die Nichtstuer, I 1978, 8. & 12.12.) Inmitten von Morettis Müßiggängern, desillusionierten Studenten, treffen wir wiederum auf Michele Apicella, der sich mit seiner "neurotischen Beziehung zu Frauen, der engen Bindung an das Elternhaus, den schwierigen Kontakten zu seinen Freunden der Studentenbewegung" (Nanni Moretti) herumplagt und von einem radikalen Kino träumt. Mit Direktton gedreht – damals eine Sensation – verdichtet Moretti die tragikomischen Augenblickseindrücke zu einer Gruppenbiografie.
LA COSA (The Thing, I 1990, 9. & 20.12.) Der einstündige Zusammenschnitt einer Grundsatzdebatte der italienischen KP vom November 1989 über die Namens- und Programmänderung der Partei gleicht einer kollektiven Selbsterfahrung. "Es ist schon fast ein Psychogramm, worin leidenschaftliche Wut, Panik und Hoffnung aufeinanderprallen. Was mich überraschte, war die Heftigkeit der Debatte, denn keiner ließ sich von der Gegenwart der Kamera stören." (Nanni Moretti)
SOGNI D'ORO (Sweet Dreams, I 1981, 11. & 18.12.) Eine Auseinandersetzung mit der Welt des Kinos und des Fernsehens. Dieses Mal sehen wir Michele Apicella als zweifelnden Regisseur, der Schwierigkeiten mit seinem jüngsten Film, "Freuds Mutter", seiner eigenen Mutter, seiner Freundin, einem jüngeren Kollegen, dem er in einer skurrilen TV-Gameshow unterliegt, und seinen Alpträumen hat, die sich immer mehr in seine Realität drängen. DIARIO DI UNO SPETTATORE (Tagebuch eines Kinogängers, I 2007, 6. & 11.12.) Episode eines Omnibusfilms, in dem Moretti von Kino zu Kino gehend eine Chronologie der Bilder entwirft.
IL PORTABORSE (Briefcase Carriers, Daniele Luchetti, I 1991, 11. & 20.12.) Rollenwechsel für Nanni Moretti: Nicht mehr grübelndes KP-Mitglied oder studentenbewegter Müßiggänger, sondern ein korrupt-berechnender Minister im Film eines jüngeren Kollegen. In einem Gewirr von Intrigen und Ränkespielen versucht Minister Botero, einen naiven Lehrer (Silvio Orlando) zu instrumentalisieren. Der moralische Sieg am Ende der beißenden Polit-Satire entpuppt sich für Orlando gleichzeitig als politische Niederlage.
BIANCA (I 1984, 14. & 22.12.) Unvergesslich: Moretti alias Michele Apicella neben einem gigantischen Nutella-Glas, aus dem er den süßen Aufstrich löffelt. Dies ist nur ein Popkulturzitat aus einem von Morettis verspieltesten Filmen, der am anti-autoritären Marilyn-Monroe-Gymnasium spielt. Der hier als Mathematiklehrer angestellte pedantische Michele verliebt sich in die Französischlehrerin, Bianca. Mit der Liebe kommt die Eifersucht, zudem gerät er unter Mordverdacht.
LA MESSA È FINITA (Mass is Over, I 1985, 15. & 23.12.) "Ich sah mich selbst in der Soutane, das war mein allererstes Bild." (Nanni Moretti) – und der Anfang dieser melancholischen Komödie. Don Giulio, ein ehemaliger Linksradikaler, der das Priesteramt angenommen hat, soll eine Pfarrei in Rom übernehmen. Zurück in seiner alten Umgebung realisiert er den Zerfall seiner neuen Gemeinde und seiner Familie, die Resignation oder das Unverständnis seiner alten Mitstreiter. Wohlmeinende Interventionen bis hin zu handgreiflichen Zusammenstößen geben die Grundstruktur des Films vor.
LA SECONDA VOLTA (Das zweite Mal, Mimmo Calopresti, I 1996, 15. & 28.12.) Moretti unterstützte dieses Debüt, ein stilles, komplexes Psychogramm, zunächst als Produzent, und übernahm erst nach umfangreichen Castings die Rolle des Universitätsprofessors Sajevo, der zufällig der Ex-Terroristin (Valeria Bruni Tedeschi) begegnet, die vor zwölf Jahren einen Anschlag auf ihn verübt hat. Kein Film über Terrorismus, sondern über die Entwicklung der schwierigen Beziehung zweier Menschen – eine Konfrontation, geprägt von Groll und Erinnerung.
APRILE (April, I 1998, 16. & 25.12.) "Mein privatester Film und zugleich mein politischster." (Nanni Morett) Das zweite Filmtagebuch, in weiten Teilen ohne Drehbuch entstanden, bündelt private und politische Ereignisse Mitte der 90er Jahre. Es beginnt mit Morettis erstem Joint, mit dem er über den Sieg Berlusconis hinwegzukommen versucht, und setzt Jahre später mit zwei neuen Filmprojekten Morettis wieder ein: die Dokumentation des kommenden Wahlkampfs und die Vorbereitungen für ein Musical über einen trotzkistischen Zuckerbäcker. Dann beansprucht ein drittes Projekt Morettis ganze Aufmerksamkeit: die Geburt seines Sohnes. Ein atemloser Essay, Dokument und Reflexion eines persönlichen Wandels.
IL GRIDO D'ANGOSCIA DELL'UCCELLO PREDATORE (Anguished Cry of the Predator Bird: 20 Cuts from April, 2002, 16. & 25.12.) – 20 Szenen, die für APRILE gedreht wurden, aber nicht in den endgültigen Film gelangten.
LA STANZA DEL FIGLIO (Das Zimmer meines Sohnes, I 2001, 17. & 26.12.) Ausgezeichnet mit der Goldenen Palme in Cannes, nimmt diese vorsichtige Studie über den Zerfall einer Familie eine Ausnahmestellung in Morettis Werk ein. Die Variation des klassischen italienischen Familienmelodrams zeigt, wie der tragische Tod eines Jungen die Familienmitglieder entzweit. Die Unfähigkeit der Einzelnen, ihre Trauer (mit) zu teilen, lässt die Familie auseinanderfallen, bis ein junges Mädchen eine neue Bewegung anstößt. Ein ernster Film, genau in der Beobachtung menschlicher Reaktionen, nüchtern im Stil.
THE LAST CUSTOMER (I 2003, 17. & 26.12.) Der letzte Tag in einer Apotheke, die Bulldozern weichen muss. Das Dokument einer anrührenden Abschiednahme.
IL CAIMANO (Der Italiener, I 2006, 19. & 29.12.) Weder als führender Berlusconi-Kritiker noch als Regisseur war von Nanni Moretti ein reiner Politfilm über den italienischen Ministerpräsidenten zu erwarten. Entstanden ist ein vielschichtiger Film über einen Film über Berlusconi bzw. das Prinzip oder Phänomen Berlusconi. Moretti spielt darin eine "Nebenfigur", einen Schauspieler, dem die Hauptrolle in einem Politthriller über Berlusconi angeboten wird, die er jedoch zunächst ablehnt, weil er an der politischen Schlagkraft des Films zweifelt. Das Filmprojekt soll die Firma eines kauzigen Produzenten (Silvio Orlando) retten, in dessen Leben auch sonst alles schief läuft.
Eine Zusammenarbeit mit dem Italienischen Kulturinstitut Berlin und Unterstützung von Sacher Film Rom, Cinecittà Luce und der Cineteca Nazionale. Besonderer Dank an Susi Baldasseroni.

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