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Von den Ich-Erzählern aus EXPERIMENTER und MACHINE GUN OR TYPEWRITER? ist es nur ein kurzer Weg zum Werk von Ed Pincus. Nachdem das Special von UP #7 den Filmen von Alfred Guzzetti gewidmet war, setzt das diesjährige Programm mit dem Werk von Ed Pincus die Erkundung des Filmschaffens der Region Boston fort. Gestützt durch diverse lokale Institutionen wie der Universität Harvard und dem MIT (dessen Filmabteilung von Pincus gegründet wurde) kann man Boston durchaus als so etwas wie die Avantgarde des dokumentarisch-ethnografischen US-Films bezeichnen. Pincus war eine der Schlüsselfiguren dieser Szene. Standen seine ersten Filme noch ganz in der Tradition des beobachtenden Direct Cinema, wie etwa BLACK NATCHEZ (1967), ein Film über die schwarze Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA, so interessierte sich Pincus zunehmend dafür, sein eigenes Leben zu dokumentieren sowie die Arbeit des Filmemachers in den Filmen zu reflektieren. "Welcher Natur ist unser Leben und sind unsere Beziehungen, unsere kleinen Lügen und Täuschungen? Ein neuer Typ Filmemacher ist hervorgetreten, der sich diesen Fragen widmet und der sein Material direkt vor sich findet", fasste er 1977 seine Arbeit zusammen. Seine Überlegungen gipfelten schließlich in DIARIES (1971–1976) (1980), einer epischen Chronik über sein Leben und seine Ehe und einer der Pionierfilme des autobiografischen Dokumentarfilms. Nach DIARIES (1971–1976) folgte eine lange Schaffenspause, erst im neuen Jahrtausend drehte er mit The Axe in the Attic (2007) und ONE CUT, ONE LIFE (2013), beide in Ko-Regie mit Lucia Small, zwei weitere Filme. Im November 2013 verstarb Ed Pincus. Zum ersten Mal wird nun in Deutschland eine Auswahl seiner Filme zu sehen sein.

EXPERIMENTER (Michael Almereyda, USA 2015, 3.6., zu Gast: Michael Almereyda & 14.6.) Während der Eichmann-Prozess in Jerusalem weltweit für Schlagzeilen sorgt, führt der amerikanische Wissenschaftler Stanley Milgram 1961 eine Reihe von Experimenten zum Gehorsam durch. Was veranlasst Menschen, blind Befehlen zu gehorchen? Die Ergebnisse waren erschütternd: Die große Mehrheit folgte den Anweisungen, selbst dann, wenn sie der zweiten Testperson (vermeintlich) Schmerzen zufügten. Nach dem Vampirfilm Nadja (USA 1994) und der Literaturverfilmung Hamlet (USA 2000) interpretiert Michael Almereyda nun mit EXPERIMENTER das Biopic neu. Er lässt Milgram (gespielt von Peter Sarsgaard) als Erzähler seines eigenen Lebens auftreten und verwirft den im biografischen Film so beliebten Naturalismus. Immer wieder spricht der Forscher direkt in die Kamera, ein anderes Mal folgt ihm ein Elefant durch die Gänge der Universität. "Indem er karge Sets mit unverhohlen künstlichen Tableaus mixt, scheint Michael Almereyda zu suggerieren, dass Milgram in seiner Suche nach Wahrheit schlussendlich in einer Welt schwebte, die irgendwo zwischen der realen und der seiner Imagination angesiedelt war." (Manohla Dargis)

IN JACKSON HEIGHTS (Frederick Wiseman, USA 2015, 4. & 12.6.) Man sagt, dass in Jackson Heights, einem Quartier im New Yorker Stadtteil Queens, 167 verschiedene Sprachen gesprochen werden. In diesen brummenden Melting Pot begibt sich Frederick Wiseman mit seinem 40. Film. Es ist einer seiner schönsten, eine große Stadtsymphonie, überbordend vor Farben, Klängen und Gerüchen. Im Verlauf von drei Stunden erfahren wir von Problemen von LGBT-Gruppen, von Generationskonflikten, dem schwierigen Leben von Immigranten und einer stetig voranschreitenden Gentrifizierung. Man spürt die Präsenz von Wiseman in jedem Bild, seine immer wieder durchbrechende Meinung sowie die Leidenschaft der Menschen vor seiner Kamera machen IN JACKSON HEIGHTS zu einem der wichtigsten amerikanischen Filme des vergangenen Jahres. Ein Film über die USA – dessen erste Bilder Menschen in einer Moschee zeigen.

MACHINE GUN OR TYPEWRITER? (Travis Wilkerson, USA 2015, 5. & 13.6.) Ein Mann sucht nach einer Frau, die er in Los Angeles getroffen hat, die nun jedoch plötzlich verschwunden ist. In Form einer Radiosendung erinnert sich der Mann an ihre Begegnungen und Erlebnisse. Ist sie tot oder gar ein Spitzel der Polizei? Die Schilderung dieser Liebe, vorgetragen von Travis Wilkerson, tut weh. Gleichzeitig entwirft Wilkerson eine alternative Geschichte von Los Angeles voller gespenstischer Momente – die Entmachtung der Gewerkschaften, ein verfallener jüdischer Friedhof, diverse Bombenattentate – und unterbricht die Sendung in den kalifornischen Äther mit Bildern aus Vietnam und der Occupy-Bewegung.

JUKE: PASSAGES FROM THE FILMS OF SPENCER WILLIAMS (USA 2015, 5. & 13.6.) Thom Andersens neuer Videoessay über die Filme von Spencer Williams, der im Texas der 40er Jahre neun unabhängige Filme drehte, die heute so gut wie vergessen sind und dringend wiederentdeckt werden müssen.

ROSEHILL (Brigitta Wagner, USA/D 2015, 7.6., zu Gast: Brigitta Wagner) "Rocks, women, motion, metamorphosis, and erotica." Die Schauspielerin Katriona (Kate Chamuris) besucht Alice (Josephine Decker), eine alte Freundin, die in Indiana lebt und dort an der Universität unterrichtet und über pornografische Filme forscht. Die beiden haben sich länger nicht mehr gesehen und Alice sieht in dem plötzlichen Besuch ihrer Freundin eine willkommene Abwechslung. Zusammen streifen sie durch das ländliche Indiana und begegnen den Menschen, die dort leben. In ROSEHILL fließt das Dokumentarische ins Fiktive (oder umgekehrt). "Vielleicht liegt der beste Weg, einen Dokumentarfilm zu machen gerade darin, keinen Dokumentarfilm zu machen. Ich hatte also diese verschiedenen fiktiven und dokumentarischen Elemente, die sich organisch zusammenführen ließen. Und ich dachte, das ist vielleicht mein idealer Weg, Filme zu drehen." (Brigitta Wagner)

HENRY GAMBLE'S BIRTHDAY PARTY (Stephen Cone, USA 2015, 9. & 16.6.) Henry Gamble wohnt in einem schicken Vorort Chicagos, ein großer Swimmingpool füllt den Garten. Nun feiert er seinen 17. Geburtstag und lädt zahlreiche Freunde zu einer Poolparty ein. Man hört Musik, trinkt Limonade und spricht über Gott. Denn Henry wächst in einem christlichen Umfeld auf. Sein Vater ist ein hipper Pastor, zusammen mit seinen Freunden besucht er religiöse Ferienlager und seine ältere Schwester studiert Biologie (minus Evolutionslehre) an einer ebenfalls christlichen Uni. Es überrascht nicht, dass es unter dieser Oberfläche brodelt und dass auch hier Scheinheiligkeit herrscht. Wie Stephen Cone jedoch die jungen Menschen porträtiert und sie in knappen Bikinis (plus angeheftetem Kreuz) und Badehosen in ihrer Körperlichkeit filmt, ist in seiner Sinnlichkeit besonders eindrücklich. Ein Film über das Erwachen – religiös, sexuell –, getragen von einem Elektro-Soundtrack.

JUNUN (Paul Thomas Anderson, USA 2015, 10. & 18.6.) Das Werk von Paul Thomas Anderson ist eng mit Musik verknüpft. In JUNUN, seinem ersten Dokumentarfilm, begleitet er Jonny Greenwood auf einer Reise in die indische Stadt Jodhpur, wo dieser zusammen mit indischen und israelischen Musikern ein Album einspielt. Ist er in seinen Spielfilmen ein vehementer Verfechter analogen Filmmaterials, so experimentiert er hier verspielt und mit sichtlicher Freude mit Digitalkameras. Während die Musiker etwa im prächtigen Schloss des Maharadschas die Musik einspielen, füttert auf dem Dach ein Mann die Vögel, eine Aufgabe, die seine Familie seit Generationen erfüllt. Andersons Kamera, montiert an einer Drohne, schießt senkrecht in die Höhe durch den Vogelschwarm. Ein euphorisch befreiender Moment in diesem nicht minder euphorischen Film über Musik.

THE GRIEF OF OTHERS (Patrick Wang, USA 2015, 11.6., zu Gast: Patrick Wang & 15.6.) In seinem zweiten Film erzählt Patrick Wang von einer Familie, die den Tod des neugeborenen Kindes nur schwer verkraftet. Während Ricky und John versuchen, ihr Leben so gut wie möglich fortzuführen, entwickeln ihre beiden Kinder ein immer eigenwilligeres Verhalten. Worte für ihre Trauer zu finden, das gelingt derweil keinem. Und dann taucht auch noch die ältere Tochter aus Johns erster Ehe auf. Sie ist schwanger. Das drohende Auseinanderbrechen einer weißen Familie der Mittelschicht gehört zu den beliebtesten Sujets des Independent-Films. Doch "niemand im modernen amerikanischen Kino macht Filme wie Patrick Wang" (Michael Tully). Und so ist THE GRIEF OF OTHERS von seiner ersten Einstellung, pink und geisterhaft, bis zur traumhaften letzten Einstellung ein Film, der trotz der schweren Thematik keinem modischen Pessimismus verfällt und immer wieder Konventionen unterläuft.

STINKING HEAVEN (Nathan Silver, USA 2015, 18.6.) Eine Gruppe von ehemaligen Alkoholikern und Drogenabhängigen lebt in einer Art Kommune und versucht, sich mit improvisierten Gruppentherapien die Sucht auszutreiben. Unter Aufsicht eines idealistischen Ehepaars werden so Hochzeitszeremonien durchgeführt, einschneidende Erlebnisse nachgespielt und Tee in der Badewanne fermentiert, den man skeptischen Passanten verkauft. Ein fragiles Gleichgewicht, das nur so lange hält, bis die Ex-Junkies ein neues Mitglied aufnehmen. "It's morning in America" rief Ronald Reagan seinen Mitbürgern in den 80ern zu und sang ein Lob auf das Eigenheim im Vorort, die Familie und harte, ehrliche Arbeit. Nathan Silvers fünfter Film STINKING HEAVEN, angesiedelt 1990 und mit einer alten, damals zeitgemäßen Betacam-Kamera gefilmt, scheint die chaotisch-wilde Antwort auf diese 80er zu sein. Wenn die Bewohner schließlich kitschige Liebeslieder singen, gehen Horror und Komödie Hand in Hand.

Special Program Ed Pincus
DIARIES
(1971–1976) (Ed Pincus, USA 1980, 6. & 17.6.) 1971 rückte Ed Pincus sein eigenes Leben ins Zentrum eines Films. Fünf Jahre lang nahm er, die Kamera auf der Schulter, das Leben seiner Familie auf: beobachtete seine Kinder beim Spielen, traf Arbeitskollegen und filmte diverse Frauen, mit denen er Affären hatte. DIARIES(1971–1976), das Porträt einer Zeit, in der der Slogan "das Persönliche ist politisch" jegliche Formen von Beziehungen neu dachte, ist das Magnum Opus von Pincus. Spürte man bereits in seinen früheren Filmen den Drang, die eigene Position mit in den Film einzubeziehen und zu reflektieren, so fand Pincus mit DIARIES zu einer Form, die diesen Überlegungen ideal entsprach. DIARIES ist ein Schlüsselfilm des amerikanischen Kinos und "einer der außergewöhnlichsten Dokumentarfilme aller Zeiten". (Ross McElwee) Vor allem jedoch ist es ein Film über seine Frau Jane, mit der er zum Zeitpunkt der Dreharbeiten seit elf Jahren verheiratet war und über das Leben, das sie gemeinsam führten. Und wenn Pincus’ Kamera immer wieder zu Jane zurückkehrt, dann wird deutlich, dass DIARIES eigentlich ein Liebesfilm ist.

BLACK NATCHEZ (Ed Pincus, David Neuman, USA 1967, 8. & 12.6.) 1965 beschlossen Ed Pincus und David Neuman, in den Süden der USA zu fahren und in Natchez, Mississippi die schwarze Bürgerrechtsbewegung zu dokumentieren. Die beiden Filmemacher erlebten dort Demonstrationen, Auseinandersetzungen zwischen jungen Radikalen und der alten Garde sowie geheime Treffen, in denen eine schwarze Bürgerwehr organisiert werden sollte. BLACK NATCHEZist das einzigartige Dokument dieser Reise und ein wichtiger Teil des amerikanischen Direct Cinema. Ein Bombenattentat auf einen der Anführer der Bürgerrechtsbewegung führt dazu, dass sich die Ereignisse überstürzen und noch größere Spannungen innerhalb der schwarzen Gemeinschaft entstehen.

PORTRAIT OF A MCCARTHY SUPPORTER (USA 1969, 8. & 12.6.) Ein Porträt des Schwiegervaters von Pincus. Eine Auftragsarbeit fürs Fernsehen, Pincus und Neuman wollten darin aufzeigen, wie weit die Politik des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Eugene McCarthy von einer tatsächlich progressiven Politik entfernt war.

LIFE AND OTHER ANXIETIES (Ed Pincus, Steve Ascher, USA 1977, 8. & 14.6.) David Hancock, ein befreundeter Filmemacher, Ende 30 und mit einer Krebserkrankung im Endstadium, bat Pincus, ihn zu filmen. Und so beginnt LIFE AND OTHER ANXIETIES als Porträt eines Mannes, dessen Leben zwischen Chemotherapie und New-Age-Kursen pendelt. Doch schon nach wenigen Minuten sehen wir die Beerdigung von Hancock. "Ich hatte nicht den Mumm, die letzten Tage seines Lebens zu filmen", konstatierte Pincus Jahre später. Der Zufall wollte es, dass Pincus ebenfalls eine Einladung zu einem Filmdreh in Minneapolis erhalten hatte. Zusammen mit Steven Ascher brach er auf und fragte Menschen auf der Straße, was ihnen wichtig ist und was sie für sie filmen sollten. LIFE AND OTHER ANXIETIES, gedreht, während Pincus an seinen epischen DIARIES(1971–1976) arbeitete, ist teils persönlicher Dokumentarfilm, teils experimentelle Versuchsanordnung, die an "Chronique d'un été" (F 1961) von Edgar Morin und Jean Rouch erinnert.

ONE CUT, ONE LIFE (Ed Pincus, Lucia Small, USA 2013, 10. & 16.6.) Nach DIARIES(1971–1976) zog sich Pincus vom Filmemachen zurück und wurde Blumenzüchter in Vermont. Erst 2007 drehte er, zusammen mit Lucia Small, mit The Axe in the Attic (USA 2007) einen weiteren Film. Als bei ihm Leukämie diagnostiziert wurde, beschloss er, zum Frust seiner Frau Jane, die die letzten Monate ihres Mannes nicht mit einem weiteren Filmprojekt teilen wollte, erneut mit Lucia Small einen Film über seine Krankheit zu drehen. ONE CUT, ONE LIFEist der letzte Film von Pincus, gedacht einerseits als filmisches Vermächtnis, das das Leben und die Überzeugungen von Pincus mit Leidenschaft und überraschend unsentimental präsentiert. Andererseits ist ONE CUT, ONE LIFEein Film, in dem zwei Filmemacher_innen ihre Vorstellungen, Ideen und Blickwinkel zueinander führen und diskutieren. Letztlich überwiegt weniger die Schwere von Pincus' Tod, als vielmehr die Offenheit, mit der sich die beiden Filmemacher begegnen und somit dem Film eine Form geben, die nicht nur auf das Leben, sondern vor allem in die Zukunft weist. (hb)

Unknown Pleasures #8 wird unterstützt von der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika sowie vom Lokal Dolores. Das Programm wurde von Hannes Brühwiler und Andrew Grant kuratiert. Dank an Nele Luise Fritzsche, Stephanie Morin.

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