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Mit dem in Super-8 gedrehten und auf 16-mm aufgeblasenen Film DIE BELEIDIGUNG AMERICAS IM WINTER 1977/78 (1981, 14.6.) eröffnen wir eine Retrospektive der Filme von Ingo Kratisch und Jutta Sartory. Aus der Perspektive des ehemaligen West-Berlin war New York für viele näher als der Rest der Bundesrepublik, konnte man doch einfach ein Flugzeug besteigen und, ohne die Mühen der Transitstrecke auf sich nehmen zu müssen, in einer anderen Welt wieder verlassen. Ein poetischer Film über Amerika wird so zu einem Film über West-Berlin und damit über die Bundesrepublik, über das Verhältnis von Imagination und Realität, von Nähe und Distanz, Geschichte und Gegenwart. Seit 1979 arbeiten Ingo Kratisch und Jutta Sartory an gemeinsamen Filmen. Die Stadt Berlin, aufgeteilt in Ost und West und in ein Vorher und Nachher, bildet das Konstruktionsprinzip für die meisten ihrer Filme. Kratisch/Sartory führen uns eine Welt vor, die keiner bekannten Rhetorik folgt und die dennoch voller Momente des Wiedererkennens ist. Auf diese Art und Weise geben sie der Geschichte inmitten einer fiktionalisierten Gegenwart ein Gesicht, verweisen auf das Reale in der Imagination. Ihr Standpunkt ist Poesie, ihr Bezugspunkt die soziale und gegenständliche Realität.

Dem Film DIESSEITS UND JENSEITS (1983, 14.6.) liegt die Idee zugrunde, zwei weibliche Figuren eine Verbindung zwischen der Büste der Königin Nofretete in West-Berlin und dem Kopf ihrer Tochter Anches-en-pa-Aton in Ost-Berlin herstellen zu lassen. Beide gehen dabei sehr unterschiedlich vor. Auch O LOGISCHER GARTEN (1985/88, 14.6.) ist eine Darstellung der Stadt Berlin in ihren geistigen und materiellen Erscheinungen. „Da wir wissen, dass uns die Vergangenheit nicht loslässt, ist sie das Thema des Films, taucht in Bildern und Sequenzen unerwartet auf, macht aufmerksam und entflieht.“ (I.K./J.S.) Inspiriert von Walter Benjamins „Versuch, das Bild der Geschichte in den unscheinbarsten Fixierungen des Daseins, seinen Ab-fällen gleichsam, festzuhalten“, sind es die Menschen, Gebäude und Straßen in beiden Teilen Berlins, ist es die ganze Stadt, deren öffentliches und privates Zeugnis authentisch erhalten werden soll.

Ingo Kratisch, der wie zuvor Harun Farocki an der dffb Film studierte, war als Kameramann an zahlreichen Filmen von Farocki beteiligt. Harun Farocki wirkte als Schauspieler in LOGIK DES GEFÜHLS (1981, Drehbuch: Jutta Sartory, 15.6.) mit. Ein poetischer Text von Cäzilia Gall beschreibt den Film: „Hauptdarsteller: Georg, ein Liebeskranker, für den es nichts mehr darzustellen gibt. Menschen: denen er begegnet. Sie treten wie Spielfiguren auf die leeren Bretter seines Herzens: ‚Der Reisende‘, ‚Der Dichter‘, ‚Der Verliebte‘, ‚Der Spieler‘, ‚Der Verwirrte‘, ‚Der Mann im Hafen‘ und andere.“ Und über die Handlung: „Was geschieht darin? Nichts Besonderes. […] Wo spielt er? In einem Zwischenraum, der zwischen einer verlorenen Liebe und einer kommenden Liebe liegt. Winter. Berlin, 1981. Anna hat sich von Georg getrennt. Stille.“

Auch HENRY ANGST (1979, 15.6.) – ebenfalls mit Harun Farocki – ist ein Film über die Liebe, die mit einer Niederlage beginnt. Nachdem Henry Angst sich beim Vorlesen eines Abschiedsbriefes, der einen unaussprechlich heiteren Tod verheißt, seines Lebens bewusst wurde, verlässt er seine Arbeit und seine Frau. Er geht ins Hotel und lost aus, welchen Weg er nun einschlagen wird. Beide Filme werden vom Harun Farocki Institut präsentiert, ebenso wie DIE WOLLANDS (17.6.), den Ingo Kratisch 1972 mit Marianne Lüdcke drehte und den Farocki besonders schätzte. Der Berliner Horst Wolland arbeitet als Schweißer, auch seine Frau ist berufstätig. Um ihr gemeinsames Kind kümmert sich die Großmutter. Wolland strebt eine höhere Position an, um seine Familie besser versorgen zu können; tatsächlich steht er kurz vor einer Beförderung. Just zu dieser Zeit werden die Arbeitsbedingungen verschlechtert, was zu einem Streik der Belegschaft führt – Wolland hält sich angesichts seiner Situation heraus. Den Wunsch des Abteilungsleiters, ihm die Namen der Anführer zu nennen, lehnt er allerdings ab. Daraufhin wird ein anderer befördert. Wolland, der nun den Sinn solidarischen Verhaltens erkennt, versucht einen neuen Streik zu organisieren. Als Vorfilm läuft der Kurzfilm KUNSTPREIS ’69: Im März 1969 kommt es bei der Verleihung des „Berliner Kunstpreises — Jubiläumsstiftung 1848/1948“ im Schloss Charlottenburg zum Eklat. Die Eröffnungsrede des West-Berliner Bürgermeisters Klaus Schütz wird unter dem lauten Protest der Außerparlamentarischen Opposition (APO) abgehalten.

DAS GLEICHE WOLLEN UND DAS GLEICHE NICHT WOLLEN (1990, 20.6.) „handelt von wirklichen Personen und setzt sich aus Aufnahmen authentischer öffentlicher Ereignisse und aus authentischen Darstellungen privater Art zusammen, sowie aus inszenierten Szenen, die sowohl öffentlich wie privat sind. Die in Berlin lebenden Personen werden in der Zeit vom Sommer 1988 bis zum Dezember 1990 in ihrer persönlichen Beziehung zu den Tätigkeiten ihrer Arbeit, ihrer Kunst vorgestellt und an den Orten Berlins gezeigt, mit denen die Personen in ihrer Umgebung jeweils verknüpft sind (west-östliches Berlin). Wesentlich ist jedoch, dass sie handelnd und sprechend offenbaren, wer sie sind, sich also als einzigartige Person zu erkennen geben.“

DIE STEINE (1985, 21.6.) antizipiert die Idee der Stolpersteine: Die 14-jährige Sophie fährt im sommerlichen Berlin mit ihrem Rad auf ein abgelegenes Gelände – heute das Gelände der „Topographie des Terrors“, um dort in dem Buch „Die Vernichtung der europäischen Juden“ zu lesen. Als sie gestört wird und sich einen anderen Platz sucht, begegnet sie dem gleichaltrigen Joseph, mit dem sie den weiteren Nachmittag verbringt. Ein Haufen Pflastersteine neben einem Bunker bringt die beiden auf eine Idee: Sie wollen jedem von den Nazis Ermordeten einen Stein widmen. Mit Kreide auf Steinen wollen sie den Toten ein Denkmal geben.

Nur wenige Jahre später: Der Titel NOCH NICHT UND NICHT MEHR (1991–2000, 21.6.) beschreibt den Zustand Berlins, das nach dem Mauerfall über Jahre hinweg eine Baustelle war, sich selbst feiernd, dabei, etwas zu werden, was nicht zu benennen war. Eine Stadt – voller Geschichte – als schleierhafte Zukunftsvision. Neun Jahre lang beobachteten Kratisch und Sartory das Berliner Baugeschehen bis zum Jahr 2000. Zur gleichen Zeit und mit gleicher Intensität wird aber auch das Alltägliche im Leben der Stadt wahrgenommen. Im Arsenal am Potsdamer Platz sitzend wird das Geschehen auf der Leinwand zur Außenwelt der Gegenwart — wir sitzen im Kino.

Wir beschließen die Retrospektive mit der Premiere einer Trilogie über das Bild: RE PRO BILD (22.6.). RE entstand 2010: In diesem Experiment werden die unterschiedlichen Bildqualitäten einer digitalen Kamera und der 35-mm-Fotografie in Bezug zueinander gesetzt: Körniges Schwarzweiß-Video, das an 16-mm-Aufnahmen erinnert, vermischt sich mit brillanten Farbfotos. Dabei entstand die Frage nach der Herkunft von Bildern. Der medienarchäologische Ansatz vermischt sich mit dem Autobiografischen: Nach 30 Jahren Filmproduktion in der Stadt leben Kratisch und Sartory inzwischen größtenteils auf dem Land. PRO (2016) untersucht drei Beispiele der Bildproduktion: Das fotografische Bild, das entsteht, um zu vergessen, das „Bilderfasten“ der Katholiken, und die Verewigung des Bildes im Kopf. „Im Grunde wollte ich immer der Wertow’sche „Mann mit der Kamera“ für meine Zeit sein, die „Großstadtsinfonie“ von heute“, so Ingo Kratisch. „Sich einen Blick auf die Gegenwart leisten. Die Arbeit am Bild, die jetzt schon in früher Kindheit beginnt, dieser Arbeit bin ich nachgegangen, obgleich ich mich immer weigerte, Kameramann zu werden. Jetzt, am Ende, habe ich den Eindruck, ich bin es doch geworden, allerdings, zum Glück, zu meinen eigenen Konditionen: Mann + Kamera. Am Ende bleibt nur das Bild.“ BILD (2016): „Nach den Videos RE und PRO, in denen ich mit den Bildern frei spielen konnte, habe ich hier alle Personen, die bisher auftraten (also meist eher zufällig), nach ihrer Bildbiografie gefragt. An welche Bilder sie sich erinnern, welche Bilder sie wie beeinflusst haben, und mit welchen Bildern sie aufgewachsen sind. Ich wollte die Personen nicht nach persönlichen Vorlieben auswählen, sondern einer vorgegebenen Struktur folgen. Ich wollte mich überraschen lassen. Und ich wollte hier erfahren, wie meine Zeitzeugen die Welt der Bilder kennengelernt haben.“ (Ingo Kratisch) (stss)

In Kooperation mit dem Harun Farocki Institut. Das Programm findet statt im Rahmen vonArchive außer sich, ein Projekt des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. im Rahmen einer Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Pina Bausch Foundation, Teil des HKW-Projekts Das Neue Alphabet, gefördert von der Beauftragten für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.

Gefördert durch:

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