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In der Geschichte des Films ist das Kollektiv um den Japaner Shinsuke Ogawa (1936–1992), kurz Ogawa Pro genannt, einzigartig: Über 25 Jahre lang lebten und arbeiteten die Kollektivmitglieder gemeinsam und schufen in der Zeit ein Werk, das seinesgleichen sucht, von politischem Widerstand ebenso erzählt wie von Traditionen in abgelegenen Bergdörfern. Sein erstes wichtiges Betätigungsfeld fand Ogawa, der in den 60er Jahren schon einige Filme über die japanische Studentenbewegung gedreht hatte, in Sanrizuka nahe Tokio, wo die japanische Regierung 1966 den Bau des Narita International Airports plante, für den zahlreiche Bauernfamilien ihr Land aufgeben und umgesiedelt werden sollten. Den darauf folgenden, über mehrere Jahre andauernden Protesten schloss sich ebenso wie viele linke Aktivist*innen das Kollektiv an, das den Kampf in mehreren Filmen begleitete und so politisches und filmisches Engagement ineinander übergehen ließ. Diese alternative Art des Filmemachens setzte sich in der Distribution fort. In ganz Japan organisierten eigens gegründete Komitees Vorführungen der Filme und schufen so ein Unterstützernetz. Nach mehreren Jahren des Zusammenlebens mit den Bäuerinnen und Bauern verschob sich der Fokus der Filmproduktion und entstand der Wunsch nach einer profunderen Auseinandersetzung mit der ländlichen Realität. In der Zähigkeit des bäuerlichen Lebens, der Verwurzelung mit dem Land und ihrer oft wiederständischen Geschichte sah Ogawa den Ursprung des hartnäckigen Widerstandes, mit dem gegen staatliche Autoritäten gekämpft wurde. Die Ogawa Pro zog in ein Dorf in der Präfektur Yamagata im nördlichen Japan, wo sie sich mit enormer Sorgfalt erst der Landwirtschaft, insbesondere dem Reisanbau, widmeten. Die in Yamagata gedrehten Filme, Dokumente einer im Verschwinden begriffenen Kultur, entstanden erst nach einigen Jahren des gemeinsamen Lebens – eine gleichsam „organische“ Art des Filmemachens, die eine besondere Form der Beziehung zwischen Filmenden und Gefilmten voraussetzt. Diese Arbeitsweise war nicht ohne Widersprüche: Der grenzenlose persönliche Einsatz verunmöglichte nicht nur finanzielle Sicherheiten, und mit der Fokussierung auf die charismatische Persönlichkeit Ogawas blieb den meisten Mitgliedern eine eigene künstlerische Praxis verwehrt.

Wir zeigen sieben Filme der Ogawa Pro zusammen mit Filmen, die sich mit dem Kollektiv beschäftigen.

SANRIZUKA – HETA BURAKU (Sanrizuka – Heta Village, Shinsuke Ogawa, Japan 1973, 4.6., zu Gast: Ricardo Matos Cabo & 13.6.) Ein Wendepunkt im Filmschaffen Ogawas: Nach mehreren Jahren des Dokumentierens der Proteste und der immer weiter eskalierenden Gewalt in Sanrizuka fand das Kollektiv sich in einer veränderten politischen Landschaft wieder und hatte das Bedürfnis, sich den Realitäten des Lebens im Dorf auf eine neue Art zu nähern, und in der lokalen Geschichte nach dem Ursprung der bäuerlichen Widerstandskraft zu suchen. Im tiefen Eintauchen in die Lebenswelt des Dorfes Heta und langen Gesprächen mit den Bewohner*innen über die Auswirkungen der Proteste und ihren Alltag im dörflichen Kosmos schält sich das spezifisch ländliche Zeitempfinden als eigentliches Thema heraus.

NIHON KAIHO SENSEN – SANRIZUKA NO NATSU (The Battle Front for the Liberation of Japan – Summer in Sanrizuka, Shinsuke Ogawa, Japan 1968, 5.6.) war der erste von insgesamt sieben Filmen Ogawas über den außerordentlichen Widerstand gegen den geplanten Flughafen Narita, die er mit dem 1968 gegründeten Kollektiv drehte. Während einige Familien ihr Land verkauften, protestierten viele andere unter hohem persönlichem Einsatz und mit Unterstützung zahlreicher Studenten gegen die geplante Enteignung ihres Landes. Die Kamera ist inmitten der Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Protestierenden positioniert, filmt die erregten Diskussionen nah an den Protagonist*innen und überführt das Chaos der Kämpfe in eine entsprechende filmische Form. Ein kämpferisches Manifest des politischen Aktivismus, das mit einer Luftaufnahme über die Felder und der Musik von Beethovens Neunter Sinfonie endet.

EIGA-ZUKURI TO MURA E NO MICHI (Filmmaking and the Way to the Village, Katsuhiko Fukuda, Japan 1973, 5.6.) Gedreht vom Ogawa-Pro-Mitglied Katsuhiko Fukuda zum Zeitpunkt der Fertigstellung von HETA VILLAGE, zeigt der Film aus der Innensicht die einzigartige Arbeitsweise des Kollektivs und bietet einen Einblick in die einzelnen Schritte der Filmproduktion. In den vielen Diskussionen werden Gruppenprozesse sichtbar und es stellt sich die Frage nach Autorschaft in kollektiven Arbeitszusammenhängen. Ogawa war mit dem Film unzufrieden, erst nach seinem Tod wurde er erstmals vorgeführt.

HARE TO KE – DAS BESONDERE UND DER ALLTAG (Regina Ulwer, BRD 1988, 7.6., in Anwesenheit von Regina Ulwer) In ihrem Dokumentarfilm setzt sich Regina Ulwer sowohl mit den Filmen der Ogawa Pro wie mit ihrer kollektiven Lebens- und Arbeitsweise auseinander. Sie zeigt Ogawa und das ganze Team in den alltäglichen, herzlichen Beziehungen mit den Dorfbewohner*innen in Magino, beim gemeinsamen Kochen und Essen, beim Diskutieren über Kamerastandpunkte und Filmprojekte, wobei das Charisma und die schier grenzenlose Energie Shinsuke Ogawas eindrücklich sichtbar werden. Zu Wort kommen die Bäuerinnen von Sanrizuka, die rekapitulieren, was die Kämpfe auch für ihr Selbstbewusstsein als Frauen bedeuteten, die Bewohner von Magino mit Dorflegenden, jetzige und ausgestiegene Mitglieder von Ogawa Pro, die insbesondere von Schwierigkeiten berichten: prekäre finanzielle Verhältnisse, die problematische Rolle der Frauen, die im Wesentlichen auf reproduktive Arbeiten reduziert wurden, und die Unmöglichkeit eines Familienlebens innerhalb des Kollektivs.

MANZAN BENIGAKI (Red Persimmons, Ogawa Shinsuke, Xiaolian Peng, Japan 1984/2001, 9. & 20.6.) Die rote Kakipflaume des Titels – wobei die deutsche Übersetzung des japanischen Originaltitels sinngemäß lautet: „Der ganze Berg ist voller roter Kakipflaumen“ – ist eine für Yamagata typische Delikatesse. Nach Ogawas Tod stellte die chinesische Regisseurin Xiaolian Peng, die mit Ogawa seit den späten 80er Jahren befreundet war, aus Originalaufnahmen, die ursprünglich für MAGINO-MURA MONOGATARI verwendet werden sollten, Ogawas Schnittanweisungen, und wenigem neu gedrehtem Material den Film fertig. Er porträtiert Menschen, die die leuchtend rote Kakipflaume ernten, Gerätschaften zur Verarbeitung entwickelt haben, die Früchte verkaufen und nebenbei amüsante Geschichten erzählen. Peng nahm sich als Regisseurin selber zurück, um Ogawas Vision so weit wie möglich zu bewahren. Der Film beginnt mit der Sichtung des hinterlassenen Filmmaterials und endet mit Fotos derjenigen Protago-nis-t*in-nen, die in der Zwischenzeit gestorben sind – ganz zum Schluss Ogawa selbst.

NIPPON KOKU: FURUYASHIKI-MURA („Nippon“: Furuyashiki Village, Shinsuke Ogawa, Japan 1982, 11.6., Einführung: Philip Widmann) In den frühen 80er Jahren lebte das Kollektiv schon einige Jahre im nördlichen Japan und arbeitete an Filmprojekten über die landwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise, als in einem Sommer eine Kaltfront die Reisernte im nahen Bergdorf Furuyashiki zerstörte. Mit großer Neugier und wissenschaftlicher Akribie führte das Team Experimente mit Kaltluft aus, erstellte eine Reliefkarte der Gegend, um den Effekt der Luftströme auf die Reisernte zu erkunden, und stieß bei Bodenproben auf historische Ablagerungen. Benutzt der Film im ersten Teil Konventionen des wissenschaftlichen Films, taucht er im zweiten tief in die Geschichte des aus nur acht Haushalten bestehenden Dorfes ein, in dessen Geschichte und Gegenwart sich ein Abbild ganz Japans findet. In den Erzählungen der Dorfbewohner*innen mischt sich persönliche mit kollektiver Geschichte, die von den Ahnen überlieferte mit der gegenwärtigen.

SANRIZUKA NI IKIRU (The Wages of Resistance: Narita Stories, Koshiro Otsu, Haruhiko Daishima, Japan 2014, 14.6.) 45 Jahre nach den heftigen Protesten um den Bau des Flughafens Narita besucht Regisseur Haruhiko Daishima zusammen mit dem Kameramann der ersten Sanrizuka-Filme, Koshiro Otsu, die Dörfer um den Flughafen Narita erneut. Einige wenige Bauern bewirtschaften immer noch ihre Felder unter dem ohrenbetäubenden Lärm der an- und abfliegenden Flugzeuge und führen so den Widerstand im Kleinen weiter. Fotos und Aufnahmen von damals rufen die Erinnerung wach an die Vorgänge, die das Leben der betroffenen Menschen entscheidend geprägt haben.

OGAWA PURO HOMON-KI (A Visit to Ogawa Productions, Jun’ichiro Oshige, Japan 1981/1999, 20.6.) Wenige Jahre, nachdem Ogawa und sein Kollektiv nach Yamagata umgezogen waren, besuchte Nagisa Oshima die Gruppe und führte zahlreiche Gespräche. Diese bilden das Herzstück dieses Dokuments zweier symbolischer Figuren der japanischen Filmgeschichte – Ogawa und Oshima, beide in der Blüte ihres künstlerischen Schaffens – sowie eines bis heute einmaligen Filmkollektivs. 1981 wurde der Film nur einmal in einer vorläufigen Fassung vorgeführt und geriet danach in Vergessenheit. Neu geschnitten und mit zusätzlichem Material ergänzt, wurde er 18 Jahre später beim Dokumentarfilmfestival von Yamagata aufgeführt.

SANRIZUKA – DAINI TORIDE NO HITOBITO (Sanrizuka – Peasants of the Second Fortress, Shinsuke Ogawa, Japan 1971, 21.6.) In der 1971 schon seit fünf Jahren andauernden Verteidigung ihres Landes gegen den geplanten Flughafen nahm der Protest der Bäuerinnen und Bauern verschiedene Formen an, gewann an Kraft und Unerschrockenheit. Der brutal auftretenden staatlichen Repression trotzten sie mit Barrikaden; erbauten Festungen und gruben Tunnel unter ihre eigenen Felder, in denen sie sich verschanzten; Frauen ketteten sich mit ihren Kindern an Bäume. Das mittlerweile in enger Beziehung zu den Bauern stehende Kollektiv zeigt in epischen Bildern nicht nur Zwangsräumungen und den erbitterten Widerstand dagegen, sondern lässt auch die Bauern und Bäuerinnen zu Wort kommen, Wut und Hoffnung äußernd.

SANRIDUKA NO IKARUS (The Fall of Icarus: Narita Stories, Haruhiko Daishima, Japan 2017, 24.6.) Komplementär zu THE WAGES OF RESISTANCE nimmt THE FALL OF ICARUS die Sicht der damals beteiligten Student*innen und Protagonist*innen der linken Bewegungen ein, die in Narita eine Möglichkeit fanden, wirksam politisch tätig zu werden. Die Proteste forderten ihren Tribut in Form von Verhaftungen und Verletzungen, die bis heute nachwirken.

SENNEN KIZAMI NO HIDOKEI – MAGINO-MURA MONOGATARI (The Sundial Carved with a Thousand Years of Notches – The Magino Village Story, Shinsuke Ogawa, Japan 1986, 28.6.) In dem monumentalen, fast vier Stunden dauernden und im Verlauf von über zehn Jahren entstandenen Film kommen all die Themen zusammen, die Ogawas Werk geprägt haben: Geschichten des Widerstands gegen Autoritäten, die Beziehungen der Menschen zum von ihnen bewirtschafteten Land, die eigenen Regeln gehorchende „Dorfzeit“, die Bedeutung der mündlichen Weitergabe von lokalem Wissen. In der Erkundung der bäuerlichen Kultur im Dorf Magino und ihrer tief wurzelnden Geschichte(n) verbinden sich dokumentarische mit fiktiven Szenen, gehen Vergangenheit, Gegenwart und Mythen ineinander über, wird Zeit weit abseits der kapitalistischen Verwertungs-logik in der Wachstumsdauer von Reis gemessen und weitet sich in archäologischen Funden weiter aus. Ein in Kyoto eigens erbautes, temporäres Kino aus Holz, Stroh und Erde wird schließlich zum Vorführort dieses einmaligen Films.

DEVOTION: A FILM ABOUT OGAWA PRODUCTIONS (Barbara Hammer, USA/Japan 2000, 29.6.) Die kürzlich verstorbene Barbara Hammer, eine der wichtigsten Protagonistinnen queeren Experimentalfilmschaffens, lernte Ogawas Filme beim Dokumentarfilmfestival von Yamagata kennen. Ihre Auseinandersetzung mit dem Kollektiv erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Frage nach dem Umgang mit der Hinterlassenschaft Ogawas virulent wurde. Sie stellt das komplizierte Beziehungsnetz, die Hierarchien und Abhängigkeiten, die Geschlechterbeziehungen und die paradoxe Persönlichkeit Ogawas in den Mittelpunkt ihres Films. In zahlreichen Gesprächen mit Kollektivmitgliedern entsteht in ihrer Vielstimmigkeit eine kollektive Erzählung, in der sich verschiedene Perspektiven zu einem oft widersprüchlichen Bild zusammenfügen. (al)

Ein Projekt von Film Feld Forschung im Rahmen von „Archive außer sich“. Dank an die Japan Foundation, das Athénée Français Cultural Center und Asako Fujioka.

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