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Momente des Wandels, der Umbrüche und Krisen in der Filmgeschichte stehen im Mittelpunkt der Magical History Tour im Februar. Gezeigt werden Filme, die direkt auf technische, ökonomische, soziale oder politische Veränderungen Bezug nehmen, diese markieren oder davon beeinflusst sind, aber auch Arbeiten, in denen besondere Zäsuren erst mit Verzögerung ihr Echo finden. Offensichtliche filmische Spiegelungen einschneidender Ereignisse stehen neben Werken, deren Reflexion vergangener Krisen sich erst auf den zweiten Blick offenbart. Die Filmgeschichte an ihren Schnittstellen und Epochenschwellen zu betrachten, lädt einmal mehr dazu ein, die Geschichte des Films nicht in einer kontinuierlichen, einem vermeintlichen „Fortschrittsgedanken“ verpflichteten Entwicklung zu sehen, sondern als vielfältig lesbares Netz von Diskontinuitäten und Verwerfungen.

TANGERINE (Sean Baker, USA 2015, 1. & 7.2.) spielt sich an Heiligabend in einem wenig glamourösen Teil von Hollywood ab. Die Transgender-Sexarbeiterin Sin-Dee erfährt, dass ihr Freund sie mit einer anderen betrogen hat und macht sich mit ihrer besten Freundin auf die Suche nach ihm, wobei sich ihre Wege immer wieder mit dem armenischen Taxifahrer Rezmik kreuzen. TANGERINE ist einer der ersten Kinofilme, der ausschließlich mit einem Smartphone gedreht wurde. Sein Milieu-Realismus ist von einer unmittelbaren, atemberaubenden Dringlichkeit und wird durch eine intensive Farbgebung überhöht.

SHOAH (Claude Lanzmann, F 1974–85, Teil 1: 2.2., Teil 2: 3.2.) Lanzmanns „filmische Geschichte des Holocausts“ (C.L.) entzieht sich allen Genrezuweisungen und Kategorisierungsversuchen. Wie kein zweites Werk der Filmgeschichte nähert sich der Film ganz ohne Archivmaterial oder Kommentarstimme dem, was ein Protagonist des Films noch zu Beginn mit den Worten umschreibt: „Das kann man nicht erzählen; das übersteigt jede mögliche Darstellung.“ Doch Lanzmann insistiert, beharrlich bringt er Zeugen des Massenmords an den europäischen Juden zum Sprechen, interviewt sowohl Überlebende der Vernichtungslager als auch Täter. Präzise fügt Lanzmann Bilder und Töne zu einem vielschichtigen Erinnerungsbild und ermöglicht damit eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Jetzt.

HUNG SIK LEUNG DJE CHING (Das rote Frauenbataillon, Regie-Kollektiv, China 1970, 6.2.) Sechs Filme entstanden während der chinesischen Kulturrevolution, so auch DAS ROTE FRAUEN-BATAILLON, ein Beispiel kommunistischen Kitsches und gleichzeitig beunruhigendes Zeugnis einer der radikalsten staatlich verordneten gesellschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Das Revolutionsmusical spielt im Jahr 1930 auf der Insel Hainan, wo die revolutionären Truppen ein aus Frauen bestehendes Bataillon ausbilden. Eine junge Dienstmagd schließt sich dem Bataillon an und überwindet ihre kleinbürgerliche Herkunft.

SOUS LES TOITS DE PARIS (Unter den Dächern von Paris, René Clair, F 1930, 5. & 24.2.) Wie viele Regisseure der späten 20er Jahre sah auch René Clair den damals aufkommenden Tonfilm als drohende Gefahr und die Tonfilmtechnik als Auslöser einer Krise, wenn nicht als Ende der Filmkunst. Trotz seiner anfänglichen Vorbehalte schuf er mit seinem Film über den Alltag der „kleinen Leute“ in Paris ein großartiges „Ton-Gemälde“, in dem er Ton und Bild in kontrapunktische Beziehung setzte. Chansons und Geräusche lehnen sich gegen jeden vordergründigen Realismus auf, wie der Straßensänger Albert gegen seinen Freund Louis, der versucht, ihm seine Freundin, die schöne Pola, auszuspannen.

LADRI DI BICICLETTE (Fahrraddiebe, Vittorio De Sica, I 1948, 19. & 23.2.) Der Diebstahl eines Fahrrads stürzt eine römische Familie in eine derart dramatische Existenzkrise, dass der bestohlene Vater keine andere Möglichkeit sieht, als selbst zum Dieb zu werden. Die gradlinige Fabel ist ein zentrales Werk des italienischen Neorealismus, einer einschneidenden Erneuerungsbewegung der Filmgeschichte, die für ein ungeschminktes Kino als Gegenentwurf zu Propaganda und Unterhaltung stand.

IM NORDEN DAS MEER, IM WESTEN DER FLUSS, IM SÜDEN DAS MOOR, IM OSTEN VORURTEILE (Klaus Wildenhahn, BRD 1976, 20. & 28.2.) porträtiert Landschaft und Bewohner der ostfriesischen Provinz und kombiniert beobachtende Kamera, Ansichten von Landschaften und Begegnungen mit einem literarischen Kommentar. Klaus Wildenhahn, der jahrzehntelang für den NDR Dokumentarfilme drehte, war ein Pionier des Direct Cinema in Deutschland. Seit Anfang der 60er Jahre war es durch leichte 16-mm-Kameras und tragbare Tonaufnahmegeräte möglich, eine vorher nicht gekannte Leichtigkeit und Unmittelbarkeit herzustellen, eine Hinwendung zu Themen des Alltags und der „kleinen Leute“ prägte auch die Arbeit Wildenhahns.

DE CIERTA MANERA (One Way or Another, Sara Gómez, Kuba 1977, 21. & 27.2.) Der erste kubanische Spielfilm einer Frau kombiniert die Spielhandlung um eine Lehrerin, ihre Beziehung zu einem Mann und die Probleme mit einem Schüler aus schwierigen familiären Verhältnissen mit dokumentarischen Szenen von marginalisierten Menschen und Stadtteilen aus dem nachrevolutionären Kuba. DE CIERTA MANERA ist ein Beispiel des „Dritten Kinos“, das in bewusster Abgrenzung zur Unterhaltung Hollywoods die Aktivierung der Zuschauer*innen anstrebt und eine politische, antikoloniale Haltung vertritt.

WANDA (Barbara Loden, USA 1970, 22. & 26.2.) Hollywood in der Krise: Mitte der 60er Jahre stoßen die großen Studio-Produktionen auf Unverständnis und Desinteresse vor allem beim jungen Publikum, dessen Realität von Protestbewegungen und Popkultur geprägt ist. In dieser Zeit meldet sich eine neue Generation amerikanischer Filmemacher*innen zu Wort, experimentiert mit Erzähl- und Darstellungsformen und produziert außerhalb des Studiosystems. Dazu gehört auch Barbara Loden, deren erster und einziger Film WANDA als eine Art „Anti-Bonnie-und-Clyde“ bezeichnet wird. Wanda (Barbara Loden) kehrt einem tristen Kohlebergbaugebiet, ihrem frisch geschiedenen Mann und Kindern den Rücken, um sich einem Kleinkriminellen anzuschließen und mit ihm eine Bank auszurauben. (mg/al)

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