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MOI, UN NOIR (Jean Rouch, Frankreich/Elfenbeinküste 1957, 1. & 5.9.) Fiktion, Improvisation und Dokument überlagern sich in Rouchs Cinéma-vérité-Vorläuferfilm, einem Porträt dreier junger Nigerianer, die sich Edward G. Robinson, Eddie Constantine und Tarzan nennen, ihre ländliche Heimat und ihre Familien zurückgelassen haben, um sich in Abidjan mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen. Der Fluss der stummen Aufnahmen wird spontan, mitreißend und immer wieder komisch vom Off-Kommentar eines der drei Protagonisten reflektiert, gespiegelt und unterlaufen. Godard nannte MOI, UN NOIR einen „der mutigsten und zugleich bescheidensten Filme von unfassbarer Machart“.

TRI PESNI O LENINE (Drei Lieder über Lenin, Dsiga Wertow, UdSSR 1934, 3.9.) Auf dem Höhepunkt der Lenin-Verklärung in den 30er Jahren (anlässlich seines 10. Todestages) und ausgehend von drei usbekischen Volksliedern fügt Wertow Wochenschauaufnahmen sowie eigenes dokumentarisches Material aus europäischen und asiatischen Teilen der Sowjetunion, improvisierte Interviews, ekstatische Gesänge und reduzierte Zwischentitel zu einem nachdrücklichen Sinnbild der glorreichen Entwicklung der Sowjetunion. Jenseits des vordergründigen Pathos’ eröffnet sich ein rhythmisiertes Montage-Poem, das Wertows Interesse an der Verfremdung filmischer Verfahren und Gattungen sowie an der Etablierung einer neuen Ästhetik Raum gibt.

THE EXILES (Kent Mackenzie, USA 1961, 3. & 21.9.) Im Nachgang seines kurzen Dokumentarfilms über das heruntergekommene Viertel in Los Angeles Bunker Hill (1956) bat Regisseur Mackenzie drei junge Mitglieder der Native American Community in Bunker Hill, ihm beim Verfassen des Drehbuchs zu seinem nächsten Filmprojekt zu unterstützen und in seinem Film mitzuwirken. Die ausführlichen Gespräche mit ihnen bildeten nicht nur die Grundlage des Skripts, sondern grundieren den zuweilen melancholischen Soundtrack des Films – ein präziser, poetischer Einblick in die Lebenswelt einer Gruppe von native americans zwischen rastlosen Touren durch die Main-Street-Bars und den Traditionen ihrer Vorfahren, zwischen flüchtigen Kicks und der Hoffnung auf ein besseres Leben.

DOKFAH NAI MEU MAAN (Mysterious Object at Noon, Apichatpong Weerasethakul, Thailand 2000, 4. & 11.9.) ist gleichermaßen spielerischer Dokumentarfilm und dokumentarischer Spielfilm. In seinem Langfilmdebüt reist Weerasethakul mit einer Filmcrew von Bangkok in den ländlichen Süden und zurück. Der dokumentarische Ansatz ist verbunden mit dem fiktionalen „Es war einmal …“: Die von einer Thunfischverkäuferin lancierte Geschichte von einem Jungen im Rollstuhl und seiner Lehrerin lässt Weerase-thakul von Menschen, die er trifft, nach Belieben weiterspinnen – und in Szene setzen. Wir zeigen die 2013 von der Film Foundation’s World Cinema Project und dem Österreichischen Filmmuseum restaurierte Fassung. An der in enger Zusammenarbeit mit Apichatpong Weerasethakul erfolgten Restaurierung waren das Österreichische Filmmuseum, LISTO MediaServices in Wien, Technicolor Ltd in Bangkok sowie die Cineteca di Bologna/L’Immagine Ritrovata beteiligt.

ACTO DA PRIMAVERA (Rite of Spring, Manoel de Oliveira, Portugal 1963, 7. & 15.9.) Jedes Jahr führen die Bauern aus dem Dorf Curalha (Trás-os-Montes) in der Karwoche den Leidensweg Jesu auf. Das Passionsspiel findet im Freien statt, die Dorfbewohner rezitieren Verse der Textvorlage aus dem 16. Jahrhundert in ihrem volkstümlichen Dialekt. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, einen klassischen Dokumentarfilm über diese lokale Tradition zu drehen, stellte Oliveira die Aufführung der Passionsgeschichte für seinen Film nach und intervenierte, indem die Dreharbeiten, das Filmteam und Szenen aus dem dörflichen Alltag ins Spiel integriert wurden. „Ich entschied mich für eine Kompromissform zwischen Dokumentar- und einem Spielfilm, durch die ich der Kraft des Spiels besser zum Ausdruck verhelfen konnte, der menschlichen Wärme, die es ausstrahlte und die mich so beeindruckt hatte.“ (Manoel de Oliveira)

NEMA-YE NAZDIK/CLOSE-UP (Abbas Kiarostami, Iran/Frankreich 1990, 8. & 17.9.) „Die Filmversion einer realen Begebenheit“: Der junge, arbeitslose Hossain wird für Mohsen Makhmalbaf gehalten. Anstatt die Verwechslung aufzuklären spielt Hossain die „Rolle“ des von ihm verehrten Regisseurs weiter und verschafft sich damit Zutritt zum Haus der wohlhabenden Familie Ahankhah. Dort wird er großzügig bewirtet und erhält finanzielle Unterstützung für ein bevorstehendes Filmprojekt. Seine Enttarnung lässt nicht lange auf sich warten und endet vor Gericht. Kiarostami erwirkte nicht nur die Erlaubnis, den Prozess mit der Kamera zu begleiten, sondern konnte die Beteiligten ebenfalls davon überzeugen, sich selbst zu spielen. „Das bislang letzte Wort auf dem Gebiet der Spiegelung von Film im Film – und eine zutiefst berührende, tragikomische Studie über kreative Auswege aus der Einsamkeit.“ (Christoph Huber)

NUESTRA VOZ DE TIERRA, MEMORIA Y FUTURO (Unsere Stimme von Erde, Erinnerung und Zukunft, Marta Rodríguez, Jorge Silva, Kolumbien 1981, 9. & 22.9.) Die Darstellung der Unterdrückung der Bauern und indigenen Bevölkerung in Kolumbien bilden einen Schwerpunkt im umfangreichen Œuvre von Rodríguez und Silva. Im Vorfeld und während der Realisierung von NUESTRA VOZ … lebte das Regiepaar ein Jahr bei den Ureinwohnern. Ihre kritische Mitarbeit floss wesentlich in die Erzählweise des Films ein, in dem „Mythos, Ideologie, Politik, Wirklichkeit und Fantasie, magisches Denken und aktuelle politische Prozesse miteinander interagierten und koexistierten. Diese Dualität, diese Dialektik wurde die Grundlage der spezifischen Erzählweise, die wir für den Film entwickelten, und bei der wir die ihrem Wesen nach naturalistische Form des Dokumentarfilms mit anderen Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit kombinierten.“ (Jorge Silva)

AQUELE QUERIDO MÊS DE AGOSTO (Our Beloved Month of August, Miguel Gomes, Portugal 2008, 10.9.) Hochsommer im Herzen Portugals, in der bergigen Region um Arganil, wo man im August Wildschweine jagt, Hockey spielt, Waldbrände bekämpft, von Brücken springt, Prozessionen absolviert, Feuerwerke entzündet, Feste feiert, singt und tanzt. Über dokumentarische Beobachtungen, die sich vor allem auf die populären lokalen Bands und Musikkapellen mit ihren Schlagern konzentrieren, gleitet der Film ganz allmählich in die Fiktion, bis sich schließlich -zwischen Realem und Inszeniertem nicht mehr unterscheiden lässt: Es kristallisiert sich eine melodramatische Dreiecksgeschichte um Vater, Tochter und deren Cousin heraus.

LA TERRA TREMA (Luchino Visconti, Italien 1948, 13. & 15.9.) Als erster Teil einer sizilianischen Trilogie konzipiert und von der kommunistischen Gewerkschaft mitfinanziert, gehört der zwischen antiker Tragödie, italienischer Oper und ethnologischer Betrachtung angesiedelte Film zu den ambitioniertesten Werken des italienischen Kinos. Visconti arbeitete eng mit den Fischern der Gegend zusammen, in der der Film entstand, ließ die Laiendarsteller ihre Dialoge selbst improvisieren und in ihrem Dialekt sprechen. An der Schnittstelle von Klassenkampf, Verismus und Stilwillen kreist der Film um den jungen sizilianischen Fischer Ntoni, der sich gegen das Preisdiktat der Fischgroßhändler auflehnt und sich selbstständig macht. Als er sein Schiff verliert, muss er sich zwar den Grossisten erneut unterwerfen, erkennt jedoch die Möglichkeit einer zukünftigen Befreiung.

SOLEIL Ô (Med Hondo, Frankreich 1969, 14. & 20.9.) Stilisierte, surreale Sequenzen, scharfe Satire, Cartoons und ein Voiceover-Kommentar rahmen und verbinden episodische Vignetten um einen Mauretanier, der in Paris auf der Suche nach einer Wohnung und einem Job die Härte, den Rassismus und die Gleichgültigkeit der französischen Gesellschaft erlebt. Das in kontrastreichem Schwarzweiß gedrehte Debüt eines der wichtigsten Regisseure des postkolonialen Kinos verbindet in Form einer scharfen Anklage die Erfahrungen eines Immigranten im Frank-reich der 60er Jahre mit narrativen Echos der Sklaverei und Arbeitsmigration. „An authentic act of rage and liberation.“ (Med Hondo)
Wir zeigen die von der Cineteca di Bologna/- L’Immagine Ritrovata Laboratory in Zusammenarbeit mit Med Hondo restaurierte Fassung, die von der George Lucas Family Foundation und The Film Foundation’s World Cinema Project gefördert wurde.

BESPRECHUNG (Stefan Landorf, D 2009, 18.9.) Konferenzen, Meetings und Sitzungen gehören zum Arbeitsalltag. Sie verlaufen nach eigenen Dynamiken, haben eigene sprachliche Kodes und sind Spiegel der Verfasstheit eines Unternehmens. „Mit besonderem Fokus auf der Sprache und den Gesten der Beteiligten zeigt BESPRECHUNG Sitzungen in unterschiedlichsten Institutionen. Er führt in eine Welt der Floskeln, Phrasen und Rituale und zeigt Besprechungen als Bühne für (Selbst-)Inszenierungen aller Art. Auf den Punkt gebracht wird das durch performative Einheiten, in denen einzelne Sätze von Protagonisten wiederholt und von Schauspielern beim Kulissenschieben vorgetragen werden – als flexibel einsetzbare Versatz-Stücke, losgelöst von jeglichem Inhalt.“ (Birgit Kohler)

DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT – REDUPERS (Helke Sander, BRD 1978, 19. & 23.9.) Edda Chiemnyjewski, freiberufliche Pressefotografin und alleinerziehende Mutter, versucht jenseits ihres anspruchvollen Alltags zwischen Beruf und Familie gemeinsam mit anderen Westberliner Fotografinnen eine Ausstellung mit Berlin-Aufnahmen vorzubereiten, die ihren ganz eigenen Blick auf die Stadt postuliert. Mit der dokumentarischen Rahmung des Films – Originalaufnahmen der Fotografin Abisag Tüllmann, Kamerafahrten entlang der Berliner Mauer, Aufnahmen kaputter Häuserfassaden, Straßenszenerien, Demonstrationen und Graffitis – macht Helke Sander nicht nur die (geteilte) Stadt zur Co-Protagonistin des Films, sondern unterwandert gleichermaßen die Grenze zwischen Fiktion und Dokument. Ein ironisch präzises Porträt eines geteilten Lebens in einer geteilten Stadt.

NANOOK OF THE NORTH (Robert J. Flaherty, USA 1922, 21. & 29.9., am Klavier: Eunice Martins) Unendliche weiße Weiten, ein Meer von Eisschollen, die kleine Kanäle freigeben, sich auftürmende Schneemassen: Im nördlichen Kanada entstanden die Aufnahmen für Flahertys dramatisierende und zum Teil romantisierende Alltagsbeschreibung des Inuit Nanook und seiner Familie. Vor dem Hintergrund arktischer Szenerien geht Nanook auf Walross- und Robbenjagd, baut ein Iglu, kämpft gegen die Kälte. In einer Mischung aus dokumentarischen und nach dem Verlust der originalen Aufnahmen (re-)inszenierten Szenen skizziert Flahertys dynamische Kamera gleichzeitig die Härte des Lebens in der Hudson-Bay-Region wie die Schönheit der dortigen Eislandschaft. (mg)

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