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50 Jahre Berlinale Forum: Das ist ein guter Anlass, das Erreichte Revue passieren zu lassen, zu feiern und darüber nachzudenken, wie die Zukunft aussehen kann. Indem wir die Filme, die 1971 liefen, wiederaufführen, erinnern wir an den ersten Forums-Jahrgang. Einige haben längst Klassikerstatus erreicht (etwa W.R. – MISTERIJE ORGANIZMA von Dušan Makavejev), andere – wie ICH-AUSSEN-OBJEKTE von Klaus Bessau – sind fast vergessen. Es gibt keine Kopie mehr, nur ein hochempfindliches Umkehroriginal, das durch einen Projektor laufen zu lassen das Risiko der Zerstörung birgt. Film als Material, das wird beim Rückblick sichtbar, hat eine Zeitlichkeit. Nur die kontinuierliche konservatorische und archivarische Anstrengung, wie sie zu den Aufgaben von Berlinale Forum und Arsenal – Institut für Film und Videokunst gehört, beugt dem Verlust vor.

Viele Filme des ersten Jahrgangs zollen den gesellschaftlichen Aufbrüchen der späten 60er Jahre Tribut. Ein feministisches Schlüsselwerk wie THE WOMAN’S FILM vom Kollektiv San Francisco Newsreel etwa lässt Frauen in den USA über ihre Ehen, ihre Arbeitsstellen, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen nachdenken, und Helke Sanders EINE PRÄMIE FÜR IRENE wünscht sich Gleichberechtigung in der Waschmaschinenfabrik und beim nächtlichen Nachhauseweg. Dokumentarfilme wie THE MURDER OF FRED HAMPTON von Howard Alk und Mike Gray oder ANGELA – PORTRAIT OF A REVOLUTIONARY von Yolande du Luart solidarisieren sich mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Das Filmemachen selbst politisiert sich, Kollektive wie die Groupe Medvedkine Sochaux (SOCHAUX: 11 JUIN 68), das schon erwähnte Newsreel Kollektiv oder das Colectivo intelectuales y trabajadores (EL CUARTO PODER) nehmen den Platz des Regisseurs ein.

Das historische verknüpft sich mit einem aktuellen Programm, in dem zahlreiche Filme zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermitteln, so dass sich von einem Leitmotiv für das 50. Berlinale Forum sprechen lässt. In besonderem Maße gilt dies für den Eröffnungsfilm, EL TANGO DEL VIUDO Y SU ESPEJO DEFORMANTE von Raúl Ruiz und Valeria Sarmiento. Ruiz drehte ihn 1967 in Chile und konnte ihn nicht fertigstellen, bevor er 1973 ins Exil ging. Die Filmspulen tauchten viel später im Keller eines Kinos in Santiago auf. Die Schnittmeisterin, Regisseurin und Ruiz’ Witwe Valeria Sarmiento hat sie in einem aufwendigen Verfahren in eine fertige Form gebracht. EL TANGO DEL VIUDO spielt auf viele Weisen mit seiner eigenen Zeitlichkeit: Er umgreift das halbe Jahrhundert seiner Entstehung, er lässt seine Narration vorwärts und – buchstäblich – rückwärts laufen, und nicht zuletzt etabliert er eine Metaebene, weil man Motive, die Ruiz’ späteres Œuvre prägen, in ihrem Inkubationsstadium sehen kann – und zwar lange, nachdem sie zur Reife gelangt sind.

Dieser jede Vorstellung von Linearität herausfordernde Umgang mit der Zeit prägt auch andere Filme: etwa Constanze Ruhms GLI APPUNTI DI ANNA AZZORI / UNO SPECCHIO CHE VIAGGIA NEL TEMPO, der mit tableauartigen Reenactments, einem Filmdrehsetting und Archivmaterial zwischen der Gegenwart und den frühen 70er Jahren vermittelt. Die Frage nach dem Platz, den Frauen in der Filmproduktion einnehmen, steht dabei im Vordergrund.
Auch in Paula Gaitáns vierstündigem LUZ NOS TRÓPICOS galoppieren die Zeitebenen hin und her wie ungestüme Fohlen. Auf der Gegenwartsebene des Films reist ein junger Mann indigener Herkunft per Boot zu einem Dorf im Amazonasgebiet. In einem zweiten Strang folgt man europäischen Siedler*innen bei einer ähnlichen Flussreise, mit dem Unterschied, dass zwischen der ersten und der zweiten Reise circa 150 Jahre liegen. Später vermengen sich die Ebenen, tauchen die Figuren aus dem 19. Jahrhundert in der Gegenwart auf, andere aus einem winterlich verschneiten Neuengland dösen auf einer Bank im Amazonas-Dorf; nur ein Schnitt trennt Orte und Zeiten. LUZ NOS TRÓPICOS ist dabei auch eine fulminante Hommage an die Wälder und Flüsse Nord- und Südamerikas und an die indigenen Menschen, die hier leben. Das verbindet ihn mit anderen Filmen wie Viera Čákanyovás FREM oder Lois Patiños LÚA VERMELLA: Sie alle eint, dass sie das prekär gewordene Verhältnis zwischen Mensch und Natur erkunden.

Andere Filme – etwa Clarissa Thiemes WAS BLEIBT | STA OSTAJE | WHAT REMAINS / RE-VISITED, Radu Judes TIPOGRAFIC MAJUSCUL und Jonathan Perels RESPONSIBILIDAD EMPRESARIAL – fragen, wie sich die politische Gewalt der jüngeren Geschichte in Filmbilder übersetzen lässt. Jude entscheidet sich für die Methode des Reenactments, wenn er den Fall eines Teenagers, der in den 80er Jahren ins Visier der rumänischen Securitate gerät, aufgreift. Perel zeigt in statischen Totalen die Werkshallen von Unternehmen, die während der argentinischen Diktatur (1976–83) den Militärs zuarbeiteten. An diesen Orten, erläutert eine nüchterne Stimme aus dem Off, wurden Gewerkschaftsangehörige drangsaliert, Arbeiter*innen in Haft genommen, gefoltert, manchmal getötet oder nach der Festnahme zum Verschwinden gebracht.

Das im Kollektiv gedrehte Filmtriptychon OUVERTURES befasst sich mit dem Erbe der haitianischen Revolution und mit deren Anführer Toussaint Louverture (1743–1803); es mündet in eine Gegenwart, in der der Geist Louvertures keine Ruhe geben möchte. Mit gutem Grund: Denn in dem Maße, wie der Aufstand des Jahres 1791 ein Testfall für die Ideale der Aufklärung war – was ist von der Idee, dass alle Menschen Brüder seien, zu halten, solange es Sklaverei und koloniale Regimes gibt? –, ist auch das heutige Ideal eines dem Humanismus und der Demokratie verpflichteten Westens von Aporien durchzogen. Machen wir uns also durchlässig für die Geister von Port-au-Prince, damit sie uns helfen, unsere eigenen blinden Flecken zu gewahren. (cn)

Mitglieder im Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. erhalten für alle Vorführungen von Forum und Forum Expanded eine Ermäßigung auf den regulären Ticketpreis (gegen Vorlage des Mitgliedsausweises). Auch der Einsatz von Sammelkarten (erhältlich nur im Kino Arsenal) ist in allen Spielstätten von Forum und Forum Expanded möglich.

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