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Coronazeit ist Wartezeit: auf ein Ende warten, ohne zu wissen, woran man es erkennt. Das Warten zum Selbstzweck machen. Vielleicht kommt es gar nicht darauf an, die Welt zu verändern, auch nicht die Erwartungen an die Welt, sondern das Erwartete.

Statt auf den nächsten Kunden zu warten, eignet sich eine Kartenverkäuferin die Umgebung des Pornokinos an, in dem sie arbeitet (VARIETY von Bette Gordon), und die Verkäuferin eines der ersten Onlineshops der BRD den Bildschirmtext (DIE OPTISCHE INDUSTRIEGESELLSCHAFT ODER DARF’S EIN VIERTEL PFUND MEHR SEIN? von Riki Kalbe). Kalbe drehte auch HEXENSCHUSS: Drei Frauen einer Berliner WG wollen nicht länger warten und bauen einen Störsender, um den Sexismus der Medien offen zu legen.

30 Jahre später wartet eine Mutter mit ihren Kindern vor dem Fernseher darauf, dass die Zeit vergeht (ANOTHER COLOR TV von The Youngrrr), in LILY’S LAPTOP (Judith Hopf) dagegen ist die Tochter allein zu Haus. Vielleicht sind ihre Eltern bei der Arbeit und verbringen den Tag mit Konferenzen, Meetings und Sitzungen: BESPRECHUNG von Stefan Landorf führt in die Welt der Phrasen und Rituale.

Chronophobie klingt wie ein Produkt dieser Welt: Es bezeichnet die Angst vor dem Vergehen der Zeit. Die Heilung besteht darin, diesen Prozess zu verlangsamen oder zu stoppen. DIE ZEIT VERGEHT WIE EIN BRÜLLENDER LÖWE von Philipp Hartmann versucht das Unmögliche.

Während das Virus unsere Gegenwart nicht nur ausbremst, sondern gleichzeitig beschleunigt, uns bedroht, aber auch Denkräume öffnet, bringt das Warten unzählige Menschen in akute Lebensgefahr und das nicht erst seit Corona. LE CUIRASSÉ ABDELKARIM (Battleship Abdelkarim von Walid Mattar) inszeniert eine Gruppe junger Menschen, die darauf warten, ein Visum für Europa zu bekommen. NOW: END OF SEASON (Ayman Nahle) macht uns zu Mithörer*innen eines gescheiterten Telefonats, während wir syrischen Geflüchteten beim Warten in der Türkei zusehen: Präsident Hafiz al-Assad wartet in der Leitung auf Ronald Reagan, der beim Reitausflug ist. LES SAUTEURS (Moritz Siebert, Estephan Wagner, Abou Bakar Sidibé) zeigt das Warten auf den nächsten „Sprung“ von Afrika in die EU, vom Berg Gurugu in die spanische Enklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste.

Meanwhile: THE MERMAIDS, OR AIDEN IN WONDERLAND (Karrabing Film Collective) erzählt von einer Zukunft, in der es Europäer*innen nicht mehr möglich ist, für längere Zeit im Freien zu überleben. Es scheint, als könnten nur indigene Menschen noch existieren.

PHANTASIESÄTZE (Dane Komljen) befragt die Bäume, nachdem die Städte am Fluss vor langer Zeit von einer Seuche befallen wurden.

Aufgrund der hohen Nachfrage haben wir Tamer El Saids IN DEN LETZTEN TAGEN DER STADT noch einmal ins Programm genommen. Auch hier geht es um’s Warten: Auf eine neue Wohnung, einen neuen Film – auf eine Zukunft.

Und schließlich zeigen wir den lang ersehnten zweiten Teil von Ulrike Ottingers Berlin-Trilogie: FREAK ORLANDO.

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VARIETY (Bette Gordon, USA 1983, OmU, 100 min) Christine jobbt in New York als Kassiererin eines Pornokinos. Beim Warten auf den nächsten Kunden hat sie Zeit, sich ihre Umgebung anzueignen. Nach und nach entwickelt sie eine Faszination für die Pornoindustrie. Als ein Kunde sie zu einem Baseballspiel einlädt und abrupt aufbricht, beginnt sie, ihn zu verfolgen. Ihre Obsession führt sie in dunkle Straßen, auf Fischmärkte, vielleicht in die Welt der Mafia. VARIETY ist der Versuch, männlich dominierte Blickstrukturen aufzubrechen.

DIE OPTISCHE INDUSTRIEGESELLSCHAFT ODER DARF’S EIN VIERTEL PFUND MEHR SEIN? (Riki Kalbe, BRD 1983, OmE, 47 min) Ein Film über BTX und die schöne neue Medienwelt, in der die vermutlich erste feministische Hackerin ihre Zeit für anarchische Ausflüge nutzt und Verschiedenes in andere Kanäle leitet. Gleichzeitig ist er eine Kritik an den Arbeitsverhältnissen in der entstehenden Informationsdienstleistungsindustrie. Er kombiniert dokumentarische Sequenzen, Fernsehausschnitte und Interviewpassagen mit dem damaligen Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling mit einer fiktiven Rahmenhandlung und mischt Video und 16mm.

HEXENSCHUSS (Riki Kalbe, BRD 1979, OmE, 30 min) Berlin 1978. Drei Frauen einer Berliner WG wollen nicht länger warten und bauen einen Störsender, um den Sexismus der Medien offen zu legen. Warum sie das tun, vermittelt eine polemische Montage von TV-Archivmaterial, die zeigt, wie Männer in führenden gesellschaftlichen Positionen über Frauen reden und wie sich sich ihnen gegenüber verhalten.

ANOTHER COLOR TV (The Youngrrr (Yovista Ahtajida, Dyantini Adeline), Indonesien 2013, OmE, 9 min) ist ein Dokumentarfilm, der die Interaktion einer Familie vor dem Fernsehapparat beobachtet und zeigt, wie Fernsehen zur Entfremdung von der Realität führt. Die Mutter ist der kommunikative Mittelpunkt der indonesischen Familie, die in einer Vorstadt lebt. Weil sie ihre Zeit allein zuhause verbringt, übernimmt der Fernseher allmählich die Rolle eines besten Freundes. Die Werte, die sie über das Fernsehen vermittelt bekommt, überträgt sie auf ihre Familie. Doch die anderen Familienmitglieder orientieren sich an der Außenwelt. Das führt zu Konflikten mit der Mutter, weil die Welten nicht zusammenpassen wollen.

LILLY’S LAPTOP (Judith Hopf, D 2013, ohne Dialog, 5 min) ist die aktualisierte Adaption des Suffragetten-Films LE BATEAU DE LÉONTINE (1911). Wie es für viele Suffragetten-Filme der Stummfilmzeit kennzeichnend ist, wird von einer Hausangestellten eine bourgeoise Wohnung gründlich zerstört . Die Macht- und Beschäftigungsverhältnisse geraten für einen Moment auf ausgesprochen komische Weise außer Kontrolle.

BESPRECHUNG (Stefan Landorf, D 2009, 92 min) Konferenzen, Meetings und Sitzungen gehören zum Arbeitsalltag. Sie verlaufen nach eigenen Dynamiken Leerlauf inklusive, sie haben eigene sprachliche Kodes und sind Spiegel der Verfasstheit eines Unternehmens. „Mit besonderem Fokus auf der Sprache und den Gesten der Beteiligten zeigt BESPRECHUNG Sitzungen in unterschiedlichsten Institutionen. Er führt in eine Welt der Floskeln, Phrasen und Rituale und zeigt Besprechungen als Bühne für (Selbst-)Inszenierungen aller Art. Auf den Punkt gebracht wird das durch performative Einheiten, in denen einzelne Sätze von Protagonisten wiederholt und von Schauspielern beim Kulissenschieben vorgetragen werden – als flexibel einsetzbare Versatz-Stücke, losgelöst von jeglichem Inhalt.“ (Birgit Kohler)

DIE ZEIT VERGEHT WIE EIN BRÜLLENDER LÖWE (Philipp Hartmann, D 2013, OmE, 80 min) Kaleidoskopartig versucht der Regisseur Philipp Hartmann, Zeit und Warten zum Gegenstand des Kinos zu machen. Sein Film kreist um einen Filmemacher, der in der statistischen Mitte seines Lebens an Chronophobie leidet. Zur Heilung muss ein Weg gefunden werden, das Vergehen der Zeit zu bremsen. „DIE ZEIT VERGEHT WIE EIN BRÜLLENDER LÖWE – eine Behauptung, die von der Großmutter des Filmemachers stammt – ist ein höchst vergnüglicher, lehrreicher, fantastischer und am Ende doch möglicher Essay über das Unmögliche." (Viennale 2013)

LE CUIRASSÉ ABDELKARIM (Battleship Abdelkarim, Walid Mattar, Tunesien 2003, OmE, 8 min) Eine Gruppe junger Menschen, die darauf warten, ein Visum für Europa zu bekommen. Alle ihre Anträge werden abgelehnt, aber es muss doch irgendeine Lösung geben! Eine Revolution? Dieser Schwarz-Weiß-Stummfilm wurde innerhalb von ein paar Stunden gedreht. War der Panzerkreuzer Potemkin Symbol für den Ausgangspunkt der russischen Revolution, ist Panzerkreuzer Abdelkarim Symbol für das, was denjenigen bleibt, die nie revoltieren werden. Das Zitat Eisensteins ist dabei treffend: die durch das Zitat transportierte 'versetzte' Stimmung schützt den Film davor, sich in Manierismus aufzulösen und das Ende des Films entspricht der dunkelsten Seite der Realität.

NOW: END OF SEASON (Ayman Nahle, Libanon, Syrien 2015, OmE, 20 min) Während Ronald Reagan beim Ausritt ist, versucht sein syrischer Amtskollege Hafiz al-Assad erfolglos, ihn telefonisch zu erreichen. NOW: END OF SEASON macht uns zu Mithörer*innen eines gescheiterten Telefonats, während wir syrischen Flüchtlingen beim Warten in der Türkei zusehen. „Es ist still hier, abgesehen vom nachhallenden Lärm, vom Klang des Augenblicks und vom Seufzen der Wartenden. ‚Es ist noch nicht zu spät, es hat noch Zeit.’ Familien, Alte, Frauen, Kinder, Jugendliche, Kriegsversehrte und die Schlepper – sie alle sind hier, als gehöre der Ort ihnen. In Izmir Garage machen sich täglich tausende Geflüchtete für die Reise ins Ungewisse bereit. Manche warten in einem Café, andere lachen und reden; der Rest sitzt ruhig und still da und schaut den Kindern zu. Der Zustand: Warten. Jeder hier wartet auf den Vermittler mit den Tickets. Wird er heute kommen? Oder wird sich die Reise um einen weiteren Tag verschieben? Izmir Garage liegt auf der Hälfte des Weges auf der langen Route der syrischen Migrant*innen. Nach den Strapazen der Ankunft in der Türkei müssen sie noch eine weitere Etappe auf See auf sich nehmen, bevor sie Europa erreichen.“ (Ayman Nahle)

LES SAUTEURS (Those Who Jump, Moritz Siebert, Estephan Wagner, Abou Bakar Sidibé, Dänemark 2016, OmE, 82 min) Vom Berg Gurugu blickt man auf die spanische Enklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste. Afrika und die Europäische Union werden hier durch eine hochgesicherte Grenzanlage, bestehend aus drei Zäunen, voneinander getrennt. In den Wäldern des Bergausläufers leben Geflüchtete, meist aus der Subsahara-Region, die versuchen, diese direkte Landgrenze zwischen Marokko und Spanien zu überqueren. So auch der Malier Abou Bakar Sidibé, der zugleich Protagonist und auch Dokumentierender in LES SAUTEURS ist. Nach 14 Monaten im informellen Camp und mehreren gescheiterten Versuchen, das Zaunsystem zu überwinden, beginnt Abou zu filmen – seinen Alltag, die Umgebung, das zermürbende Warten auf den nächsten "Sprung". Er gibt Einblick in die soziale Organisation der Community und tristen Ausblick auf das vermeintliche Eldorado Europa. In LES SAUTEURS findet ein einzigartiger Perspektivenwechsel statt: Dem abstrakt anonymen Wärmebild der Überwachungskamera wird der subjektive Blick eines Individuums entgegengesetzt. Nach einer Begegnung mit Moritz Siebert und Estephan Wagner übernimmt Sidibé ihre Kamera. Unermüdlich dokumentiert er seine Lebensrealität am Rande einer abgeschotteten EU. (Caroline Pitzen)

THE MERMAIDS, OR AIDEN IN WONDERLAND (Elizabeth Povinelli, Karrabing Film Collective, Australien 2018, OmE, 26 min) In nicht allzu ferner Zukunft ist es Europäer*innen nicht mehr möglich, für längere Zeit im Freien zu überleben. Nur indigene Menschen scheinen in der Lage, in den vom Kapitalismus vergifteten Landschaften zu existieren. Aiden, ein junger indigener Mann, wurde als Baby seiner Familie entrissen, um für ein medizinisches Experiment als Versuchsperson zu dienen, das „die weiße ‚Rasse’ retten“ sollte. Jetzt wird er wieder in die Welt seiner Vorfahren entlassen. Während er mit seinem Vater und seinem Bruder die Landschaft durchquert, wird er mit zwei möglichen Zukunfts- und Vergangenheitsversionen konfrontiert. THE MERMAIDS, OR AIDEN IN WONDERLAND ist eine Intervention in aktuelle Debatten über die Auswirkungen des Klimawandels, extraktiven Kapitalismus und industrielle Toxizität aus der Sicht indigener Welten.

PHANTASIESÄTZE (Dane Komljen, Deutschland, Dänemark 2017, OmE, 17 min) Vor langer Zeit wurden die Städte am Fluss von einer Seuche befallen. Die Dinge begannen sich schleichend zu wandeln und es war nicht klar, ob die Veränderungen Symptome der Seuche waren oder aber ein Weg, ihr zu entkommen. Alles war verseucht: Tiere, Pflanzen, Steine, Böden, Männer, Frauen und Kinder, deren Gedanken, Träume und Erinnerungen. Eine alte Frau erzählte mir einmal, wie sich alle Erinnerungen in Bäume verwandeln. Ich verstand nicht, was sie meinte. Sie sagte, sie könne die Bäume singen hören: Sei ein Leib, irgendein Leib. Nach der Seuche schienen die Städte unberührt zu sein. Man musste genau hinsehen, um Spuren der früheren Zeit zu sehen. Was würden die Bäume sagen, wenn man ihnen zuhören könnte? Ein Ausweg, ein Ausweg? (Dane Komljen)

Berlin Trilogie: FREAK ORLANDO (Ulrike Ottinger, BRD 1981, OmE, 126 min) erzählt eine Irrtümer, Inkompetenz, Machthunger, Angst, Wahnsinn, Grausamkeit und Alltag umfassende "Histoire du Monde" vom Anbeginn bis heute am Beispiel der Freaks. "Dies ist kein karitativer Film, der um Verständnis bittet für Abnormes. Er arbeitet mit vielen Tricks, nur nicht mit dem, auf den das Kino sonst baut, Identifikation. Er zitiert den berühmten Film von Tod Browning (1932), in dem das Kino seine Fähigkeit zum Wundertum Lügen strafte durch eine unvorstellbare Schau realer Monstren. Aber er selbst ist anders." (Frieda Grafe)

AKHER AYAM EL MADINA (In den letzten Tagen der Stadt, Tamer El Said, Ägypten 2015, OmU, 118 min) Downtown Kairo ist ein Organismus, der im Winter 2009/10 noch zu leben scheint, aber selbst jenen immer fremder wird, die dort geboren sind. Khalid ist auf Wohnungssuche. Er ist Filmemacher. Seine Bilder sieht er immer wieder an, als warte er darauf, dass sie einen Sinn ergeben. Die Geschichten seiner Protagonist*innen scheinen von irgendwoher aus seinem Inneren zu stammen, in der Außenwelt sucht er nach Anknüpfungspunkten. Je mehr er sucht, desto mehr scheinen sie zu verschwinden, nicht abrupt, sondern in Momenten voller Zartheit verabschiedet er sich von seiner Freundin, die ihn verlässt, von seiner kranken Mutter, von Freunden, die zur Premiere ihrer Filme wieder in der Stadt waren. Für sie alle stellt Kairo einen Fixpunkt dar. Als sie beschließen, Khalid Videomaterial aus ihren Städten zu schicken, geht es weniger darum, ihm bei seinem Film zu helfen, als dadurch die Verbindung zu etwas aufrechtzuerhalten, was sie noch mit Kairo verbindet, wohl wissend, dass es bereits ein Phantasma ist. Ein fast geräuschloser Film, in dem die Geschichte die Zeit überholt.

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