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Bertrand Bonello (*1968) ist eine zentrale Figur des zeitgenössischen französischen Kinos und als eigenwilliger Autorenfilmer international bekannt. Seine Filme erzählen von Pornografie, Prostitution, Mode, Terror, Dekadenz, gescheiterten Utopien, jugendlichem Aufbegehren – und vom Filmemachen. Sie nehmen dabei ganz verschiedene Formen an: Beziehungsdrama, Kostümfilm, Porträt, Thriller, Konzertdokumentation, Zombie-Film. Immer wieder überraschend entwirft Bonello sein Kino von Film zu Film neu, legt sich nicht fest, lässt Bewährtes mit Lust am Kontrast hinter sich und geht Risiken ein. In der Zusammenschau seiner so unterschiedlichen Filme lässt sich dennoch erkennen, dass sie ein Werk bilden. Als gelernter Musiker zeichnet Bonello neben Drehbuch und Regie auch selbst für den Score verantwortlich, Musik hat einen immensen Stellenwert in all seinen Filmen. Oft wird sie anachronistisch eingesetzt. Auch auf -erzählerischer Ebene finden sich wiederholt Sprünge in der Zeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwei Teilen einer Geschichte oder bei der achronologischen Anordnung von Szenen. Die häufige Verwendung von Splitscreens zeugt ebenfalls von einem ungewöhnlichen Umgang mit Zeitlichkeit und bringt einen eindrücklichen ästhetischen Effekt mit sich, wie auch die wiederkehrende Einblendung von Daten im Bild. Erzählerisch ist ein Interesse am Abgründigen in Menschen und Beziehungen in seinen Filmen ebenso auszumachen wie eine zunehmende Affinität zum Genrekino, beides sorgt bisweilen für verstörende Elemente. Dass seine Filme oft eine geschlossene Welt bzw. hermetische Orte beschreiben, wenn nicht sogar einem Kammerspiel ähnlich in Innenräumen situiert sind, heißt jedoch nicht, dass das Außen nicht von Belang wäre, im Gegenteil, gesellschaftliche Verhältnisse werden stets mitverhandelt. All das geschieht mit großer Eleganz.

Das Arsenal zeigt eine Werkschau der zwischen 1998 und 2020 entstandenen neun Lang- und sechs Kurzfilme Bonellos, darunter auch die während der jüngsten Ausgangsbeschränkungen realisierte kurze Arbeit OÙ EN ÊTES-VOUS? NUMÉRO 2. Außerdem ist er als Schauspieler in Antoine Barrauds LE DOS ROUGE zu sehen. Aufgrund der aktuellen Einreisebeschränkungen kann Bertrand Bonello nicht wie geplant am 2. und 3.10. in Berlin sein. Die Filmgespräche werden im Anschluss an die Vorführungen über Skype geführt.

ZOMBI CHILD (F 2019, 2.10., mit anschließendem Skype-Gespräch mit Bertrand Bonello) Inserts in rosa – Haiti 1962, 1980, heute – legen sich über die (angeblich) wahre Geschichte von Clairvius Narcisse, der durch Voodoo-Zauber zum versklavten Zombie wird und später in den Wäldern Haitis umherirrt. Seine Enkelin Mélissa, Überlebende des Erdbebens von 2010, besucht ein Pariser Eliteinternat für Mädchen, alle in blau-weiß-roter Uniform. Bei ihren Mitschülerinnen fällt sie durch ein merkwürdiges Knurren auf. Ihrer traumatischen Vergangenheit steht der Liebeskummer von Fanny gegenüber, die so besessen leidet, dass sie sich von einem Voodoo-Ritual Heilung erhofft. Auf dem Lehrplan findet sich neben Michelet auch Rihanna, der Rap von Damso ist allgegenwärtig und einem der Mädchen läuft grüne Soße aus dem Mund. Aus beiden Erzählsträngen kreiert Bonello mit Anleihen beim Horror- und Teeniefilm eine Konstellation, die die Ehrenlegion, französische Kolonialgeschichte, kulturelle Traditionen aus Haiti und deren popkulturelle Effekte verbindet.
Gewissermaßen als Fußnoten zeigen wir online auf arsenal 3 (www.arsenal-3-berlin.de) zwei Filme aus der Sammlung des Arsenal, die sich mit Voodoo-Ritualen in Haiti beschäftigen: Maya Derens Divine Horsemen: The Living Gods of Haiti (USA 1985) sowie Chants and Dances for Hand (USA/Haiti 1991–2017) von Larry Gottheim.
OÙ EN ÊTES-VOUS, BERTRAND BONELLO? (Where Are You, Bertrand Bonello?, F 2014, 2.10., mit anschließendem Skype-Gespräch mit Bertrand Bonello & 22.10.) Ein Selbstporträt in Form eines Briefs an seine Tochter. Bonello versammelt die ersten und die letzten Einstellungen seiner Filme, besucht Dreh-orte, hört Songs, die er verwendet hat, benennt Misserfolge, Erfolge und die verlorene Unschuld. Eine nachdenkliche Bilanz und ein Ausblick in die Zukunft: einen Horrorfilm will er endlich machen.

L’APOLLONIDE (SOUVENIRS DE LA MAISON CLOSE) (Haus der Sünde, F 2011, 3.10., mit anschließendem Skype-Gespräch mit Bertrand Bonello & 25.10.) Im prächtigen Salon des „Apollonide“, einem Pariser Edelbordell an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, treffen allabendlich vermögende Stammkunden ein, mit je speziellen Vorlieben bei der Wahl ihrer Gespielinnen. Die Tage der jungen Frauen sind geprägt von Erschöpfung, Langeweile, Ausstiegsfantasien, penibler Hygiene, medizinischen Untersuchungen, Ausbeutung, Abhängigkeit und Schulden, die das Haus für sie zum Gefängnis machen. Auch Gewalt kommt vor, wie eine fragmentierte Szene zeigt, zu der der Film mehrfach zurückkehrt. Weit entfernt von Exploitation oder Nostalgie inszeniert Bonello die geschlossene Welt des Bordells als sozialen Ort intimer Freundschaft unter Frauen, ohne die zerstörerischen Folgen der Prostitution zu ignorieren. Ein Kostümfilm im Fin-de-Siècle-Dekor – mit Splitscreens, anachronistischer Musik aus den 60er Jahren (u.a. „Nights in White Satin“), Traumsequenzen mit Spermatränen und einem finalen Zeitsprung zur heutigen Straßenprostitution.

LE PORNOGRAPHE (Der Pornograf, F/CDN 2001, 4. & 15.10.) Jacques Laurent (Jean-Pierre Léaud), ein alternder Filmemacher, lässt sich aus Geldnot darauf ein, an seine frühere Profession als Porno-Regisseur anzuknüpfen. Als solcher hat er in den 70er Jahren Maßstäbe gesetzt. Jetzt stoßen der Autoren-Anspruch und der unbedingte Kunstwille des Altmeisters beim Dreh von Sexszenen nicht gerade auf Gegenliebe beim Produzenten, der kurzerhand selbst die Regie übernimmt. Jacques wirkt verloren und müde. Gleichzeitig findet eine Wiederannäherung mit seinem 17-jährigen Sohn Joseph (Jérémie Renier) statt, einem politischen Aktivisten mit revolutionären Ideen, der seinerseits Konflikte zwischen individuellem Anspruch und ideologischem Überbau auszutragen hat. Eine filmische Reflexion über das Scheitern von Utopien und alternativen Lebensentwürfen, Engagement, Sex, Geschäft, Kunst und Politik.

QUELQUE CHOSE D’ORGANIQUE (Something Organic, F/CDN 1998, 6. & 14.10.) Nach ein paar Jahren funktioniert die Liebe nur noch über den Kopf oder sie verschwindet ganz – konstatiert Marguerite in aller Seelenruhe. Paul, der aus Griechenland stammt, und die Französin sind seit fünf Jahren verheiratet und leben in Montreal. Paul versteckt seinen Vater vor der Einwanderungsbehörde im Keller und besucht seinen todkranken Sohn im Krankenhaus. Nachts arbeitet er als Wächter im Zoo. Marguerite streift ziellos umher. Sie drängt sich auf und gibt sich hin … Die ersten beiden Szenen von Bonellos Langfilmdebüt markieren den Beginn und das dramatische Ende einer Beziehung – der Prozess dorthin wird jedoch anders erzählt als erwartbar wäre: mit stoischem Voiceover und weniger drastisch als vielmehr nüchtern, verhalten und ruhig.
THE ADVENTURES OF JAMES AND DAVID (F 2002, 6. & 14.10.) James besucht seinen jüngeren Bruder David in dessen neu eröffnetem Frisörsalon an einer Straßenecke in Montreal. David mag es klassisch, James eher hip. Auf Musik von Dean Martin können sie sich einigen, nicht aber darüber, was ein guter Haarschnitt ist …

TIRESIA (F/CDN 2003, 7. & 21.10.) Tiresia, eine Immigrantin aus Brasilien, ist transsexuell und arbeitet als Prostituierte auf dem Straßenstrich. Ein obsessiver Ästhet auf der Suche nach perfekter Schönheit nimmt sie mit zu sich nach Hause und lässt sie nicht mehr gehen. Doch mangels Hormoneinnahme bekommt Tiresia im Laufe der Gefangenschaft allmählich männliche Züge. Die Strafe ist grausam: Sie wird geblendet und im Wald ausgesetzt. Ein Mädchen nimmt sich Tiresias an und pflegt ihn gesund. Im Lauf der Zeit entwickelt er seherische Fähigkeiten und erregt die Aufmerksamkeit des Dorfpriesters, der seinem Treiben ein Ende bereitet. Ein pulsierender Lavastrom und Beethovens 7. Sinfonie durchziehen diese Aktualisierung des Teiresias-Stoffs aus der griechischen Mythologie, deren zwei Teile an Pasolini bzw. Bresson denken lassen. Im ersten wird Tiresia von Clara Choveaux, im zweiten von Thiago Telès gespielt.

DE LA GUERRE (On War, F 2008, 8. & 16. & 24.10.) Der Filmemacher Bertrand ist in einer Schaffenskrise. Bei Recherchen in einem Beerdigungsinstitut passiert ihm ein Malheur und er muss die Nacht in einem Sarg verbringen. Was er dort empfand, will er wieder spüren. Er folgt einem Unbekannten in ein abgelegenes Schloss, wo Uma (Asia Argento) ihrer Gefolgschaft mit militärischen Mitteln Freude, Ekstase und Wollust predigt und von Clausewitz’ „Vom Kriege“ liest. Bertrand lässt sich gehen und überdenkt sein Leben, seine künstlerische Arbeit, seine Beziehungen. Die Suche nach einem Ort, an dem radikale Utopien möglich sind, steht im Zentrum dieses waghalsigen, geradezu anarchischen Films. Besetzt mit einem All-Star Lineup angeführt von Mathieu Amalric als Alter Ego von Bonello enthält er tranceartige Tanzszenen im Wald genauso wie eine Sammlung plastinierter Körper, Bob-Dylan-Referenzen und das Remake einer Szene aus Apocalypse Now.

NOCTURAMA (F/D/B 2016, 9. & 17.10.) Die Zeit läuft. Pariser Jugendliche verschiedener sozialer und ethnischer Herkunft durchqueren die Stadt in der Metro, geeint durch ein diffus bleibendes Unbehagen an den herrschenden Verhältnissen. Ihre konspirative konzertierte Aktion läuft ab wie ein Uhrwerk, eine Choreografie von Körpern in Bewegung. Nach den Anschlägen auf ein Ministerium, die Börse, einen Banktower und eine Jeanne-d’Arc-Statue treffen sie sich in einem evakuierten Luxuskaufhaus, das als Versteck für die Nacht dienen soll. Hier verlieren sich Bestimmtheit und Tempo. Die Zeit dehnt, der Raum verengt sich zum Kammerspiel in einer glitzernden Konsumwelt, der sie sich hingeben und deren Teil sie sind: Einer der Teenager trifft auf eine Schaufensterpuppe im identischen Outfit. Radical chic. Es wird eine Nacht der lebenden Toten. Bonello verbindet seine Idee einer Jugendrevolte mit dem Genrekino – sowie einem selbst komponierten Elektro-Score und musikalischen Akzenten von Berlioz bis Blondie.

OÙ EN ÊTES-VOUS? NUMÉRO 2 (Where Are You? Number 2, F 2020 | 9. & 17. & 22.10.) Bonellos neueste Arbeit ist eine während der coronabedingten Ausgangssperre entstandene Fortführung von OÙ EN ÊTES-VOUS, BERTRAND BONELLO? (F 2014). Wieder in Form eines Briefs an seine Tochter denkt er zu neu montierten klaustrophobischen Nachtszenen aus NOCTURAMA über Stillstand, Verlust, das Ende der Dinge, die ungewisse Zukunft und geträumte Filmprojekte nach. Schließlich: There’s always the music!

SAINT LAURENT (F/B 2014, 10. & 23.10.) Er heiße Swann, sagt Yves Saint Laurent (Gaspard Ulliel) an der Rezeption und nein, er sei nicht geschäftlich unterwegs, sondern ins Hotel gekommen, um zu schlafen. Der Bezug zu Proust und das Vergehen der Zeit durchwirken den Stoff des Films, ein Porträt des Modeschöpfers, das sich auf die Dekade von 1967–1976 konzentriert. Die Jahreszahlen sind rot eingeblendet, aber nicht chronologisch angeordnet. Man sieht den bereits berühmten Couturier beim Zeichnen, beim Cruisen, bei der Anprobe mit den Models, bei exzessiven Drogenpartys, mit seinen weiblichen Musen, seinen männlichen Liebhabern, dem Geschäfts- und Lebenspartner Pierre Bergé und Moujik, dem Hund. Er führt ein Leben am Abgrund, die Welt entgleitet ihm. Nachrichtenbilder von Demonstrationen (Mai 68, Algerien, Prag) werden in einer Splitscreen-Montage mit der Kollektion einer Modenschau kombiniert. Popkultur. Velvet Underground. Maria Callas. Und: Helmut Berger, in der Rolle des alten Saint Laurent. 

INGRID CAVEN, MUSIQUE ET VOIX (Ingrid Caven: Music and Voice, F 2012, 11. & 20.10.) Ingrid Caven, bekannt geworden in der Entourage von Rainer Werner Fassbinder, hat zwei Karrieren: als Schauspielerin und als Sängerin. Vor allem in Frankreich ist sie als Chansonnette berühmt. Bonello hat ein ganzes Konzert gefilmt, das Ingrid Caven im Mai 2006 in der Cité de la musique in Paris gab. Das in Deutsch, Französisch und Englisch gesungene Programm umfasst u.a. Lieder von Peer Raben, Jean-Jacques Schuhl, Fassbinder, Joyce, Cage, Brecht und Weill, Schönberg und Brahms. Der Konzertfilm konzentriert sich ganz auf die Musik und die Stimme der Diva. Keine Schwenks ins Publikum, keine Backstage-Szenen, keine zwischengeschnittenen Interviews, die Kamera verlässt die Bühne nie – auf der die Caven wie ein Traumbild out of the dark erscheint.

LE DOS ROUGE (Portrait of the Artist, Antoine Barraud, F 2014, 13. & 18.10.) Ein berühmter Filmemacher, von Bertrand Bonello gespielt, sucht nach einem Gemälde, das in seinem nächsten Film für das zentrale Thema des Unheimlichen stehen soll. Eine exzentrische Kunsthistorikerin begleitet ihn durch Museen, sie betrachten und diskutieren Kunstwerke von Francis Bacon, Caravaggio und anderen. Merkwürdigerweise verändert sich von Treffen zu Treffen ihr Aussehen (erst Jeanne Balibar, dann Géraldine Pailhas) und auch bei ihm selbst findet eine Verwandlung statt: Auf seinem Rücken tauchen rote Flecken auf. Es scheint, dass die obsessive Suche nach dem Monströsen Spuren hinterlässt und seinen eigenen Körper kontaminiert …

CINDY, THE DOLL IS MINE (F 2005, 22.10.) Eine Hommage an Cindy Sherman, mit Asia Argento in einer Doppelrolle. Während einer Session im Fotostudio spielt sie sowohl die für ihre Selbstinszenierungen berühmte Fotografin als auch das posierende Modell im Mädchenkleid. Ein Song der New Yorker Band Blonde Redhead führt zu einem Gefühlausbruch – bei allen beiden.
WHERE THE BOYS ARE (F 2010, 22.10.) Der titelgebende Connie-Francis-Song wird zu Beginn Strophe für Strophe ins Französische übersetzt, von einem der vier Teenager-Mädchen, die später zusammen Musik hören, rauchen, trinken, sich küssen – frech, unsicher und erwartungsvoll. In Sichtweite arbeiten viele junge Männer auf der Baustelle der Moschee von Gennevilliers.
SARAH WINCHESTER, OPÉRA FANTÔME (F 2016, 22.10.) Der Chor, der Regisseur, die Ballerina proben eine Oper, die es gar nicht gibt, inspiriert vom Leben der Sarah Winchester, der reichen Witwe eines Waffenfabrikanten des 19. Jahrhunderts, die aus Schmerz über den frühen Tod ihrer Tochter ein labyrinthisches Haus baute, für die Geister der Toten. Die Musik schwillt an – und auch die Pariser Oper wird zum Geisterhaus. (bik)

Mit freundlicher Unterstützung von DFFB, Grandfilm und Institut français.

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