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Im Sommer 1967 fand im hessischen Landesjugendhof auf dem Dörnberg bei Kassel das – wenn man will – erste Filmseminar des „Anderen Kinos“ statt. Vorausgegangen war eine Partisanenaktion in Oberhausen: Am Rande der Kurzfilmtage hatte der Experimentalfilmer Werner Nekes ein Gegenprogramm mit vom Festival abgelehnten Filmen gezeigt. Gerhard Büttenbender, der als Dozent für kulturelle Bildung zum Leitungsteam des Jugendhofs gehörte, lud Nekes daraufhin ein, dort Filmseminare abzuhalten.

Ein staatlicher „Jugendhof“ war zweifellos ein spezieller Ort für experimentelle Filmarbeit. Das autoritätskritische Konzept des Dörnberg-Teams und die Offenheit für künstlerische Experimente schufen jedoch Freiräume, die den Ort für ein paar Jahre zu einem Labor des Anderen Kinos machten. Ende 1968 gründete sich dort das „Kasseler Filmkollektiv“, dessen Kerngruppe neben Gerhard Büttenbender aus Adolf Winkelmann und den Zwillingsschwestern Jutta und Gisela Schmidt bestand, die sich als Student*innen der Kasseler Werkkunstschule schon kannten und in den Nekes-Seminaren Gelegenheit zu ersten 16-mm-Experimenten bekamen. Auch Bazon Brock bot Seminare am Dörnberg an. Gemeinsam mit Nekes entstand DAS SEMINAR (1967, 11.1.), in dem eins von Brocks „Trainingsseminaren“ als situationistisches Happening gefilmt wurde. In den drei Monaten, die Nekes und seine Partnerin Dore O. am Dörnberg blieben, drehten sie u.a. den berühmten Schaukelfilm JÜM-JÜM (1967, 11.1.) und die „Gurtrug-Filme“, von denen hier GURTRUG NR. 2 (1967, 11.1.) in analoger Doppelprojektion gezeigt wird.

In Adolf Winkelmanns ersten Filmen, mit denen er auf der Hamburger Filmschau 1968 zu einem Star des Anderen Kinos avancierte, ist der Einfluss von Nekes’ Formexperimenten ebenso spürbar wie die auf Selbsterfahrung ausgerichtete Dörnberg-Pädagogik. In ES SPRICHT: RUTH SCHMIDT (1968, 10.1.) ließ er seine künftige Schwiegermutter über die Überwindung ihrer Vorurteile gegen ihn und die Kunststudenten im Allgemeinen sprechen. In ADOLF WINKELMANN, KASSEL, 9.12.1967, 11.54H (1968, 10.1.) manövriert er mit vorgeschnallter Bolex-Kamera durch die Kasseler Fußgängerzone und filmt sich selbst als Blickfang.

Dem Viererkollektiv – das für kurze Zeit zu zwei Ehepaaren verschmolz und im Einheitslook auftrat – schlossen sich zeitweise auch Adolf Winkelmanns Bruder Wilhelm und dessen Freund Winfrid Parkinson, sowie weitere Kommiliton*innen der Kasseler Werkkunstschule und der HbK an. 1969, in ihrem produktivsten Jahr, war die Dörnberg-Gruppe bei den Oberhausener Kurzfilmtagen mit neun Filmen vertreten. Für den Halbstünder HEINRICH VIEL (1969, 11.1.), der in fixierter Einstellung die Fließbandarbeit im VW-Werk Baunatal zeigt, erhielten sie einen der Hauptpreise. Für DIE FRESSE (1969, 11.1.) hingegen handelte sich Adolf Winkelmann den Vorwurf ein, einen faschistischen Film gedreht zu haben. In seiner Variante der Milgram-Experimente werden statt fingierter Stromstöße reale Ohrfeigen verabreicht.

Als Reaktion auf einen Artikel des am Dörnberg tätigen Erziehungswissenschaftlers Christian Rittelmeyer, der die gesellschaftliche Wirkung des Anderen Kinos eher skeptisch beurteilte, kam vom WDR der Auftrag für die dreiteilige Dokumentation DAS ANDERE KINO (1969, 12.1.). Sie gibt einen ausgezeichneten Überblick über die unabhängige Filmemacher-Szene in der BRD und Westberlin, und war für die Kasseler eine Gelegenheit, sich auf dem Konfliktfeld Formalästheten vs. politische Filmemacher zu verorten. Sie rückten ihre Arbeit in die Nähe des Zielgruppen-Konzepts der von der DFFB relegierten „Berliner“ um Harun Farocki, Hartmut Bitomsky und Günter Peter Straschek, die auch häufige Gäste am Dörnberg waren.

Bei der Groschenroman-Verfilmung VERTRAUENDE LIEBE – GLÜHENDER HASS (1969, 10.1.), in der Dörnberg-Mitarbeiter die blaublütigen Romanfiguren interpretieren, wurden die Szenen mit Hilfe derselben Video-Anlage vorbereitet und diskutiert, mit der DFFB-Studenten zuvor in Oberhausen für das Ende des individuellen Filmemachens geworben hatten. Ein ähnlicher Selbstversuch in einer anderen Welt war der Film DER HÖCHERL (1969, 10.1.), für den die Kasseler dem CSU-Politiker Hermann Höcherl einen Hausbesuch abstatteten – einer hochkarätigen Hassfigur, die sich jedoch als recht umgänglicher Gastgeber erwies.
Bereits Ende 1969 trennten sich die Wege. Jutta Winkelmann und Gisela Büttenbender widmeten sich in Berlin und Bochum dem Aufbau der Jugendorganisation der KPD/ML. Gerhard Büttenbender und Adolf Winkelmann gingen in ihren letzten zusammen gedrehten Filmen zu eindeutigen Formen der Agitation über. WORIN UNSERE STÄRKE BESTEHT (1971, 11.1.) dokumentiert den Verlauf eines Rollenspiels, das Hauptschüler*innen zu proletarischem Bewusstsein verhelfen sollte. STREIK BEI PIPER & SILZ (1972, 11.1.) erzählt mit dem Pathos des Sozialistischen Realismus eine Episode aus der Zeit der Ruhrkämpfe und der Inflation. Von Filmemacherkollegen wurde der Film als „Proleten-Hollywood“ beschimpft. Gerhard Büttenbender kostete er seine Stellung am Dörnberg, für Adolf Winkelmann leitete er den Übergang von der Zielgruppen-Arbeit zum Spielfilm ein.
„Angegriffen zu werden, bedeutete damals, auf dem richtigen Weg zu sein“, so Winkelmann bei der ersten umfassenden Werkschau des Kasseler Filmkollektivs, die kürzlich auf dem Kasseler Dokfest stattfand und die das Arsenal hier wiederholt. Mit Unterstützung der Universität Kassel wurden bislang nur analog vorliegende Kopien digitalisiert und die Filme damit wieder zugänglicher. (ph/th)

In der Werkschau werden die Filme teils in digitaler Projektion, teils als 16-mm-Kopien gezeigt. Kuratiert von Peter Hoffmann und Tobias Hering. Dank an Jan Peters, Gerhard Wissner, Gerhard Büttenbender, Gisela Getty und Adolf Winkelmann. Das Programm am 12.1. findet in Zusammenarbeit mit dem Harun Farocki Institut statt.

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