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„Alles was du gibst, gehört dir, alles was du nicht gibst, ist verloren", lautet ein georgisches Sprichwort. "Alles, was in meinen Filmen geschieht, dreht sich um die Schwäche des Menschen für den Besitz", der dazu beiträgt, „die wahren Werte wie Gefühle zum Verschwinden zu bringen", beschreibt Otar Iosseliani sein Werk. Und man könnte hinzufügen: Alle Filme Iosselianis handeln vom Verschwinden von Kultur und Sinnlichkeit, Uneigennützigkeit und Solidarität. Es sind poetische Tragikomödien, gekennzeichnet durch feinen Humor, leise Wehmut, reduzierte Dialoge und eine fließende Bildsprache.

Otar Iosseliani, 1934 in Tiflis geboren, studierte zunächst Musik und Mathematik, ehe er ab 1955 Regiekurse bei Alexander Dowshenko an der Moskauer Filmhochschule WGIK besuchte. Sein mittellanger Abschlussfilm APRILI (1962), der sich kritisch mit dem Besitzstreben des Kleinbürgertums auseinandersetzt, wurde in der Sowjetunion verboten. APRILI ist – wie zahlreiche folgende Arbeiten – ein Film weitgehend ohne Dialog und Kommentar. Nach Iosselianis Überzeugung dürfen Worte in einem Film nicht bestimmend sein und keine wichtigen Informationen tragen. In seinen Arbeiten spielt sich das Wesentliche in Blicken, Mimik und Körperhaltung ab, Worte stehen als gleichberechtigtes Element der Tonspur neben der Musik und den Geräuschen.

Nach drei abendfüllenden Filmen, die Iosseliani zwischen 1966 und 1975 drehte, erhielt er in der Sowjetunion keine Arbeitsmöglichkeit mehr und ging 1982 nach Frankreich. Seither hat Otar Iosseliani ein gutes Dutzend Filme gedreht, im Senegal, in Italien, in Frankreich und in Georgien. Er betrachtet sie ausnahmslos als georgische Filme, Filme, die von arm und reich, Stadt und Land, Traditionen, dem Verlust von Werten und dem Vergehen der Zeit erzählen. Sie sind melancholisch und heiter zugleich, denn „wenn die Dinge sehr ernst stehen, dann ist es schwer, ernst von ihnen zu sprechen" (Otar Iosseliani).

Das Arsenal – Institut für Film und Videokunst verleiht das Gesamtwerk von Otar Iosseliani in Deutschland. Wir zeigen im April auf unserem Streamingbereich www.arsenal-3-berlin.de eine Auswahl von sieben abendfüllenden Filmen, vom Langfilmdebüt GIORGOBISTVE aus dem Jahr 1966 bis zu Iosselianis vorläufig letztem Film CHANT D’HIVER von 2015.

Im Rahmen der Werkschau bei arsenal 3 findet am 13. April um 18 Uhr eine Online-Diskussion mit Ulrich Gregor und Barbara Wurm statt. Sie wird live auf dem Youtube-Kanal des Arsenals übertragen. Fragen können über den Chat gestellt werden.

GIORGOBISTVE (Die Weinernte, UdSSR 1966, 91 min) Niko hat gerade die Schule beendet und lebt mit seiner Mutter, Großmutter und den beiden kleinen Schwestern in Tiflis. Der Berufseinstieg in eine Weinkooperative konfrontiert ihn auf unangenehme Weise mit der Welt der Erwachsenen: Um den Plan zu erfüllen, wird Wein schlechter Qualität abgefüllt, und Niko muss erkennen, dass er der Einzige ist, der sich der Praxis widersetzt. Auch die erste Liebe zu einer Kollegin ist desillusionierend. Marina amüsiert sich lediglich über Nikos „Naivität". Iosselianis Debüt ist nicht nur ein Film übers Erwachsenwerden, es ist vor allem eine Hymne an diejenigen, die sich in einer Welt der Anpassung und des Pragmatismus behaupten und sich nicht korrumpieren lassen.

IKO SHASHVI MGALOBELI (Es war einmal eine Singdrossel, UdSSR 1970, 80 min) Der Film schildert 36 Stunden aus dem Leben des jungen Musikers Gia, der im Orchester in Tiflis die Pauke schlägt und sich sowohl durch seine Freundlichkeit wie durch seine regelmäßigen Verspätungen auszeichnet. Spontane menschliche Kontakte erscheinen ihm wichtiger als seine Arbeit. Gia ist ein unangepasster Träumer, unfähig, ein Verhältnis zur Zeit zu finden, das mit seiner Umgebung harmoniert.

PASTORALI (Pastorale, UdSSR 1975, 95 min) Ein Musiker-Quartett aus der Stadt verbringt den Sommer in einem Dorf; die Kinder der Familie, die ihnen Zimmer im Obergeschoss vermietet hat, fühlen sich von den Besuchern angezogen. Iosseliani erzählt diese Geschichte, ohne den Anschein des Erzählens zu erwecken, multipliziert sie und fügt unendlich viele Anfänge neuer Geschichten ein. „Ein Film von träumerisch schönen Schwarzweiß-Gesichtern, mit Tierstimmen an Stelle von Dialogen und geduldigen, beinahe stummen Sequenzen der Charaktere beim täglichen Schuften an Stelle von treibender Handlung." (Ilya Grigorev)

LES FAVORIS DE LA LUNE (Die Günstlinge des Mondes, F / I / UdSSR 1984) Der Film, „der sich seiner ausufernden Parallelhandlungen wegen unmöglich nacherzählen lässt, handelt vom Tausch der Dinge und, in einem Reigen wechselnder Liebschaften, vom Tausch der Gefühle. In der nur scheinbaren Überschaubarkeit des 13. Pariser Arrondissements bildet Iosseliani die hektische Betriebsamkeit der dem Tauschgesetz Unterworfenen als heitere Komödie ab. Seine ca. 40 Figuren, namenlos, aber in ihren Handlungen wohl charakterisiert, verkörpern die ganze Gesellschaft im Kleinen. Dass ausgerechnet die Diebe überleben, ist nicht verwunderlich, in einer Welt, die vom Diebstahl lebt, ohne es wissen zu wollen. Während die Bürger Getriebene sind, deren Zusammensein der Zeitraffer nur noch als sinnlos abstrakte Bewegung zeigt, sind die Diebe die Hedonisten, die sich prächtig amüsieren." (Eva Hohenberger)

ADIEU, PLANCHER DES VACHES! (Marabus!, F / I / CH 1999, 115 min) Der 19-jährige Nicolas versucht, dem goldenen Käfig seiner reichen Familie zu entkommen und verlässt den mondänen Landsitz heimlich per Boot, um sich in Paris mit Clochards und jugendlichen Kleinkriminellen zu treffen. Er verliebt sich in Paulette, die Tochter des Bistrobesitzers, die jedoch mehr an Gaston interessiert ist, dessen Erscheinung ihr in gesellschaftlicher Hinsicht vielversprechender erscheint. „Der Film beginnt wie ein Gleichnis über das Gefühl der Unzufriedenheit, das uns innewohnt. Praktisch seit unserer Geburt zwingt man uns, in einer Muschel zu leben, die für uns vorbestimmt war, und jeder von uns träumt davon, diese Muschel zu verlassen, einen anderen Raum zu finden, eine andere Dimension des Lebens. Ist man reich, denkt man, die Armen seien glücklich: frei, sorglos und von echten Freunden umgeben. Ist man arm, stellt man sich das Leben der Reichen wunderbar vor." (Otar Iosseliani)

CHANTRAPAS (F / Georgien 2010, 122 min) Der eigensinnige georgische Filmemacher Nicolas beharrt gegenüber den sowjetischen Behörden auf der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, woraufhin die Partei die Freigabe seiner Filme verweigert, weil sie sich nicht an die vorgegebenen Regeln halten. Nicolas emigriert nach Frankreich und sieht sich dort bald mit neuen Widerständen konfrontiert. Der autobiografisch gefärbte Film setzt sich anhand der fiktionalen Geschichte eines georgischen Regisseurs, der nirgendwo seinen Platz findet, mit den Themen Exil, künstlerische Freiheit sowie dem Interessenskonflikt zwischen Autor und Filmindustrie auseinander.

CHANT D’HIVER (Winter Song, F/Georgien 2015, 117 min) Leichtfüßig und melancholisch zugleich erzählt Iosseliani in seiner unnachahmlichen Weise von der Französischen Revolution und der Räumung von Flüchtlingslagern im gegenwärtigen Europa, von Clochards und Waffenhändlern in Paris, Krieg und Freundschaft und wie alles zusammenhängt. CHANT D’HIVER ist ein kraftvolles Alterswerk von beeindruckender Frische und großer ästhetischer Freiheit, in dem der Regisseur und Schauspieler Pierre Étaix (1928–2016) seinen letzten Leinwandauftritt hat.

Die Nutzung von arsenal 3 kostet 11€ pro Monat. Weitere Informationen und Anmeldung hier.

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