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Das Projekt „re-selected – Filmgeschichte als Kopiengeschichte“, widmet sich seit 2018 im Rahmen von „Archive außer sich“ ausgewählten Filmen aus dem analogen Bestand des Archivs der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und untersucht Filmgeschichte als Geschichte individueller Filmkopien. Unter dem Titel Odd Ones Out präsentiert „re-selected“ im März Filme auf arsenal 3, deren analoge Kopien aus dem Archiv der Kurzfilmtage Seltenheitsstatus haben. Einige von ihnen wurden deshalb im Zuge des Projekts digitalisiert.

Das Filmkopienarchiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ist ein „Preisträgerarchiv“. Die Existenz der dort verwahrten Kopien verdankt sich also in aller Regel der Tatsache, dass ein Film von der internationalen Festivaljury oder einer der als bedeutend geltenden unabhängigen Juries mit einem Preis ausgezeichnet wurde.
Nicht immer war der Archivkopie damit jedoch eine dauerhafte Aufmerksamkeit garantiert. Während einige Kopien zumindest zeitweise für Filmprogramme bei Filmclubs oder Bildungsträgern im Umlauf blieben, andere als Meilensteine der Festivalgeschichte in Retrospektiven gezeigt wurden, blieben wieder andere Kopien weitgehend unbemerkt, wie die archivierten Laufkarten zeigen.
Wenn ein Film einen kommerziellen Verleih hatte oder von einem nationalen Filmarchiv vertrieben wurde, war die Oberhausener Kopie meist eine unter vielen und für das Nachleben des Films eher unerheblich. Anders jedoch, wenn die in Oberhausen archivierte Kopie eine von nur wenigen dieses Films war, oder wenn sich heute herausstellt, dass sie im Lauf der Jahre durch Kopienverluste und die Folgen der institutionellen Umstellung auf digitale Formate sogar zum Unikat wurde.

Fünf der insgesamt sechs ausgewählten Filme sind Archivfilme der Kurzfilmtage, zwei davon sind auch im Arsenal ‒ Institut für Film und Videokunst archiviert, was auf die oft parallel verlaufende Programmarbeit beider Institutionen verweist. Hinzu kommt ein Film des schwedischen Autodidakten Sven Elfström, dem es nie gelang, einen Film in Oberhausen zu zeigen. Wenn auch nicht alle der sechs Filme in der Vergangenheit völlig unbemerkt geblieben sind, so sind es Filme, deren Geschichte noch nicht wirklich geschrieben ist. Mit ihrer einmonatigen Präsenz auf arsenal 3 verbindet sich auch die Hoffnung, dass sie bei einigen Zuschauer*innen Assoziationen, Erinnerungen oder Wissen wachrufen, die zu ihrer weiteren Geschichtsschreibung beitragen können. Feedback ist daher willkommen an: re_selected@kurzfilmtage.de (Tobias Hering).

Am 18. März um 18 Uhr findet eine von Nikolaus Perneczky moderierte Online-Diskussion mit Tobias Hering, dem Kurator von „re-selected“, statt. Sie wird live auf dem Youtube-Kanal des Arsenals übertragen, Fragen können über den Chat gestellt werden.

ASOZIALE (Gernot Eigler, BRD 1970, OmE, 35 min)
Der einzige erhaltene frühe Film des Mannheimers Gernot Eigler (*1938) entstand 1970 als Beitrag für eine Reihe des SWF mit dem Titel „Armut in Deutschand“. Eigler arbeitete als Arzt, Psychiater und Arbeitsmediziner und wandte sich durch Freundschaften im Umfeld des Filmstudios der TU Aachen und der Kölner XScreen-Gruppe dem provokativen, experimentellen Kino zu. Bis Mitte der 1980er Jahre drehte er in seinen Urlaubszeiten weitere Filme für ZDF und SWF. ASOZIALE wurde 1971 auf den Oberhausener Kurzfilmtagen gezeigt und von der Jury der Filmothek der Jugend ausgezeichnet; eine Kopie verblieb im Archiv. Eigler lässt in seinem Film Nachkriegsverlierer, Stützeempfänger, Trebegänger und „Barackler“ ihre Situation beschreiben. Kontrastierend dazu setzt er die Reden derjenigen, die sich des „Problems“ administrativ annehmen.

SUEUR (Schweiß, Amor Nagazi, Tunesien 1986, ohne Dialog, 13 min)
SUEUR ist einer von nur zwei Filmen, die im Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen als 8-mm-Kopien verwahrt sind. Er wurde auf den 34. Kurzfilmtagen 1988 im Wettbewerb gezeigt, nachdem Amor Nagazi ihn, wie er sich erinnert, auf Eigeninitiative eingereicht hatte. Ein Preis der FIPRESCI-Jury führte gemäß Festivalreglement zum Ankauf der Kopie für das Archiv. Amor Nagazi war Mitglied des Amateurfilmclubs seiner Heimatstadt Kairouan, einer Gruppe junger Filmemacher, die vorwiegend mit Super 8 arbeiteten. Der Club richtete zudem in zweijährigem Turnus ein eigenes Filmfestival in Kelibia aus, das schnell zum Treffpunkt von Amateurfilmer*innen nicht nur des arabischen Raums wurde und bis heute besteht. SUEUR dokumentiert Schritt für Schritt die handwerkliche Herstellung von Lehmziegeln, aus denen nicht nur die meisten Gebäude von Kairouan, sondern auch die imposante Stadtmauer einst gebaut wurden. Nagazi konzentriert sich auf die unaufdringliche Beobachtung der schweren körperlichen Arbeit und der gleichzeitig versierten Bewegungen. Aufgrund des Produktionshintergrunds und des Drehformats Super 8 ist davon auszugehen, dass es sich bei der Oberhausener Kopie von SUEUR um das Original handelt.

WASEYAT RAGOL HAKIEM (Ratschläge eines alten, weisen Mannes zu Fragen des Dorfes und der Bildung, Daoud Abdel Sayed, Ägypten 1976, OmE, 19 min)
Im Februar 1978 wurden den Kurzfilmtagen Oberhausen in einem Telegramm von Ronald Trisch, dem Leiter der Leipziger Dokumentarfilmwoche, zwei ägyptische Filme zur Ansicht angeboten, darunter WASEYAT RAGOL HAKIEM, der dort 1977 gelaufen war. Im Folgejahr lief der Film dann auch in Oberhausen und wurde mit einem Ehrendiplom der Internationalen Volkshochschuljury ausgezeichnet. Er ist heute einer der wenigen ägyptischen Filme im Archiv der Kurzfilmtage. Abdel Sayed thematisiert darin den Paternalismus gegenüber der Landbevölkerung, indem er eine dokumentarische Erzählung über eine erfolgreiche Bildungsinitiative mit einer missgünstigen Kommentarstimme unterlegt, die sich als Persiflage auf den „weisen Mann“ des Titels entpuppt. Für die Kurzfilmtage kam 1978 über das Kairoer Goethe-Institut eine 35-mm-Kopie ohne Untertitel nach Oberhausen. Der deutsche Text wurde vermutlich während der Vorstellung eingesprochen. Vor Rückversand der Kopie ließen die Kurzfilmtage eine 16-mm-Klatschkopie anfertigen, also eine Kopie von der Kopie. Diese verblieb ‒ ohne das Wissen des Regisseurs, wie Recherchen der Kuratorin Alia Ayman ergaben ‒ als Archivkopie in Oberhausen. Heute ist diese Kopie die einzig verfügbare des Films. „re-selected“ zeigte sie 2019 auf den 65. Oberhausener Kurzfilmtagen und ließ sie anschließend im Einvernehmen mit Daoud Abdel Sayed digitalisieren und untertiteln.

LA ZONA INTERTIDAL (Die Zwischenzone, Grupo los Vagos (Guillermo Escalón, Marie-Noëlle Fontan, Lyn Sorto, Manuel Sorto), El Salvador 1980, OmE, 13 min)
LA ZONA INTERTIDAL entstand in einer Zeit, als in El Salvador staatliche und paramilitärische Terrorakte an der Tagesordnung waren und die internationale Wahrnehmung des Landes bestimmten. Anstelle der Agitprop-Montagen, die das politische Kino Lateinamerikas der 60er und 70er Jahre geprägt hatten, dominiert diesen Film das Gefühl einer trügerischen Ruhe: ein Strand, auf den Wellen schwappen, ein Lesender in einer Hängematte, zwei Männer im Gespräch. Die Gewalt, die in diese Szenen einbricht, wird mehr angedeutet, als dargestellt. Erst eine abschließende Texttafel, die den Film den ermordeten Lehrern El Salvadors widmet, stellt einen eindeutigen politischen Kontext her. LA ZONA INTERTIDAL lief 1982 auf den Kurzfilmtagen Oberhausen und wurde dort mit einem der Hauptpreise der Internationalen Jury ausgezeichnet. Als Autor des Films war im Festivalprogramm eine „Grupo los Vagos“ aufgeführt, was für ein vierköpfiges Kollektiv stand, das seit 1969 als Theaterkollektiv Taller de Los Vagos zusammengearbeitet hatte und später zur Filmarbeit übergegangen war. Die Gruppe stand dem ERP (Ejército Revolucionario del Pueblo / Revolutionäre Volksarmee) nahe und drehte unter anderen Namen auch Filme in dessen Auftrag.
Sowohl bei den Kurzfilmtagen Oberhausen, als auch im Arsenal ist eine 16mm-Kopie des Films archiviert. Im Zuge des Projekts „Ism, Ism, Ism: Experimental Cinema in Latin America“ von Luciano Piazza und Jesse Lerner wurden von dem von Guillermo Escalón bereitgestellten 16-mm-Original-Negativ neue lichtbestimmte Kopien von LA ZONA INTERTIDAL hergestellt. Dies ermöglichte den Erwerb weiterer 16-mm-Kopien für die Archive des Arsenals und der Kurzfilmtage Oberhausen.

UTVECKLING? (Fortschritt?, Sven Elfström, Schweden 1971, OmE, 5 min)
Sven Elfström (1927–2017) war hauptberuflich Industriearbeiter und zunächst als Schweißer bei einer Werft in Uddevalla beschäftigt. Später zog er in die Industriestadt Nynäshamn südlich von Stockholm, um in einer Produktionsstätte der staatlichen Telefongesellschaft Televerket zu arbeiten. Elfström begann bereits in Uddevalla, 8-mm-Filme in einem Amateur-Filmclub zu drehen und kaufte sich später eine 16-mm-Kamera. Es entstanden elf selbst finanzierte 16-mm-Filme, darunter experimentelle Kurzfilme, politische Dokumentarfilme und Spielfilme. Familienmitglieder und Freunde agierten darin als Darsteller*innen. Oft drehte er aus Kostengründen auf Umkehrfilm, in den meisten Fällen existieren deshalb weder ein Negativ noch weitere Filmkopien, sondern lediglich das geschnittene Umkehroriginal, das auch projiziert wurde. UTVECKLING? beginnt mit einer scharfen Kritik am Kapitalismus, der Konsumgesellschaft und der Ausbeutung der Welt durch den Menschen. Mit einer in einem Wald aufgenommenen Sequenz ändert sich dann abrupt die Geschwindigkeit des Films und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Natur.
Das 16-mm-Umkehroriginal von UTVECKLING? sowie Elfströms selbst veröffentlichte Romane und Kurzgeschichten befinden sich im regionalen Archiv der schwedischen Provinz Värmland. Das Digitalisat des Films entstand auf private Initiative in Zusammenarbeit John Sundholms mit Filmform (Stockholm).

LIBER ARCE – LIBERARSE (Mario Handler, Mario Jacob, Marcos Banchero, Uruguay 1969, OmE, 13 min)
LIBER ARCE – LIBERARSE gehört zu einer großen Zahl an Filmen, von denen Kopien sowohl im Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen als auch des Arsenals verwahrt sind. Der Film lief 1971 auf den Kurzfilmtagen, nachdem dort bereits im Vorjahr zwei Filme von Mario Handler zu sehen gewesen waren: EL PROBLEMA DE LA CARNE (Das Problem des Fleisches, 1969) und ME GUSTAN LOS ESTUDIANTES (Ich mag die Studenten, 1968). Liber Arce ist der Name eines Studenten, der bei Protesten in Montevideo von der Polizei getötet worden war. Sein Begräbnis wurde zur größten Demonstration, die die Stadt bis dahin erlebt hatte. Der Film dokumentiert die Ereignisse vor und nach dem Begräbnis. Der Titel verwandelt den Namen des Getöteten in einen Aufruf: liberarse, sich befreien.
In Oberhausen nahm die Internationale Jury der Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten LIBER ARCE – LIBERARSE zum Anlass, „Mario Handler und sein Filmkollektiv“ ex aequo mit dem Kolumbianer Carlos Álvarez und dessen Kollektiv mit Geldpreisen auszuzeichnen. In der Begründung heißt es, es sei „ein politischer Preis“, der beiden Kollektiven „den nächsten Schritt in ihrem Kampf“ ermöglichen solle. Die Auszeichnung war vermutlich der Anlass, die Kopie für das Festivalarchiv zu erwerben. LIBER ARCE – LIBERARSE wurde 1973 auch in den Verleih des Arsenals (damals: Freunde der Deutschen Kinemathek) aufgenommen. 2018 und 2019 fand in Kooperation zwischen dem Arsenal, den Kurzfilmtagen Oberhausen und Karin und Mario Handler eine digitale Restaurierung des Films (sowie auch von ME GUSTAN LOS ESTUDIANTES) statt. Zur Sicherung des Films wurden zudem ein neues 35-mm-Negativ und Filmkopien hergestellt.

Die Nutzung von arsenal 3 kostet 11€ pro Monat. Weitere Informationen und Anmeldung hier.

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