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Leos Carax (1960 als Alexandre Oscar Dupont geboren) kann mit Fug und Recht als Ausnahme-Filmemacher bezeichnet werden. Vom einstigen Regiewunderkind der frühen 80er Jahre hat er sich zu einem kontrovers diskutierten Protagonisten des internationalen Autorenfilms entwickelt und bis heute eine Sonderstellung im französischen Kino inne. Euphorisch gefeiert oder entschieden abgelehnt umgeben den großen Einzelgänger viele Legenden, nicht zuletzt seit der aufsehenerregenden Produktionsgeschichte von LES AMANTS DU PONT-NEUF, wo er Budget und Zeitplan bei weitem überschritt. Nur sechs Langfilme hat Carax in knapp 40 Jahren gedreht. Sein schmales Werk ist jedoch überaus reich an Attraktionen und Obsessionen. Exzessiv in den Mitteln, radikal stilisiert und von großer Wucht lassen sich seine Filme auf kein Genre festlegen. Sie bersten vor visuellen und akustischen Einfällen und zeugen von einem außerordentlichen Ideenreichtum, der die Überdosis nicht scheut und mit zahlreichen cinephilen Verweisen und filmgeschichtlichen Bezugnahmen aufwartet. Carax’ großes Thema ist die unglückliche Liebe, sein bevorzugter Schauplatz die Stadt Paris. Denis Lavant fungiert als sein Alter Ego, die von ihm verkörperten Figuren tragen die Vornamen des Filmemachers: Alex und Oscar.

Anlässlich der Berlinpremiere von Annette, dem aktuellen Film von Leos Carax, zeigt das Arsenal im Rahmen der Französischen Filmwoche eine Werkschau seiner zwischen 1983 und 2012 entstandenen fünf Langfilme.

BOY MEETS GIRL (Leos Carax, F 1983, 27.11.) Alex (Denis Lavant) und Mireille (Mireille Perrier), beide Anfang 20, treffen als Verlassene aufeinander. Er hat seine Freundin an seinen besten Freund verloren – und diesen deshalb fast erwürgt –, sie wurde gerade von ihrem Liebhaber sitzen gelassen. Während Mireille lesend einen Steptanz vollführt, streunt Alex im karierten Jackett durch die Pariser Nacht und David Bowie singt dazu „When I Live My Dream“. Bei einer Party, deren Gäste einem Kuriositätenkabinett entstammen, kommen sie schließlich ins Gespräch, der Welt entrückt. Aus der jungen Frau mit Kurzhaarfrisur und schwarzer Sonnenbrille wird eine Dreyer’sche Jeanne d’Arc. Carax’ Debütlangfilm in strahlendem Schwarzweiß hat den stilisierten Look der 80er Jahre und ist voll von ungewöhnlichen Einfällen und skurrilen Situationen, die sich zu einem romantisch-tragischen Liebesfilm über die Unmöglichkeit der Zweisamkeit fügen.

MAUVAIS SANG (Die Nacht ist jung, Leos Carax, F 1986, 28.11.) Paris, in einer unbestimmten Zukunft: Ein Komet kommt der Erde gefährlich nahe, das Klima spielt verrückt, und ein geheimnisvolles Virus befällt alle Menschen, die Sex haben,  ohne sich zu lieben. Es gibt einen Impfstoff, den zwei alternde Gangster mit Hilfe des geschickten Zauberkünstlers und Bauchredners Alex (Denis Lavant) aus einem Labor entwenden wollen. Alex verlässt für den Coup seine Freundin (Julie Delpy) und verliebt sich in Anna (Juliette Binoche), die junge Gefährtin seines Auftraggebers (Michel Piccoli) – was sich in einem ekstatischen Tanz zu David Bowies „Modern Love“ äußert. Eine extrem stilisierte Farbdramaturgie, cinephile Anspielungen (u.a. auf Grémillons La petite Lise, Anna Karina in Godards Vivre sa vie und auf Jean Cocteau), Schwarzblenden und Stummfilmästhetik sind nur einige der Elemente aus Carax’ reichem Ideenfundus.  

LES AMANTS DU PONT-NEUF (Die Liebenden von Pont-Neuf, Leos Carax, F 1991, 29.11., Einführung: Jérôme d’Estais) Alex (Denis Lavant), ein obdachloser Feuerspucker, der auf der wegen Restaurierungsarbeiten gesperrten Brücke Pont Neuf im Herzen von Paris haust, begegnet eines Nachts der herumirrenden Malerin Michèle (Juliette Binoche). Da sie aufgrund einer Augenkrankheit allmählich erblindet, hat sie ihr bourgeoises Dasein aufgegeben und ist dem Leben auf der Straße nun hilflos ausgesetzt. Die Brücke wird für beide zum Refugium und zum Ort einer Amour fou, die ihrer armseligen Existenz rauschhafte Momente beschert, so z.B. einen aberwitzigen Wasserskilauf auf der vom Feuerwerk zur 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution erleuchteten Seine. Im Wechsel von naturalistischen Aufnahmen und mythischer Überhöhung, Feuer und Wasser, Licht und Dunkelheit und mit seiner atemlosen Montage ist dieser spektakuläre Film so maßlos und entgrenzt wie auch die Liebe zu sein vermag.

POLA X (Leos Carax, F/D/J/CH 1999, 30.11.) Auf den Prolog mit Kriegswochenschauen und dem Shakespeare-Zitat „Die Zeit ist aus den Fugen“ folgt ein Bild der Idylle: ein Schloss in der Normandie. Dort lebt Pierre (Guillaume Depardieu), ein junger Schriftsteller, mit seiner Mutter (Catherine Deneuve), die ihm inzestuös zugetan ist. Die Heirat mit seiner Verlobten steht kurz bevor, als er im Wald einer geheimnisvollen Frau (Katerina Golubeva) begegnet, die behauptet, seine Schwester zu sein und aus einem Kriegsgebiet in Osteuropa kommt. Pierre lässt unversehens alles hinter sich und folgt ihr nach Paris, wo er in die Armut taumelt, soziale Ausgrenzung erlebt und sich einer obskuren Künstler-Anarchisten-Kommune anschließt. Carax’ Verfilmung von Herman Melvilles Roman „Pierre, or the Ambiguities“ (1852) ist seine umstrittenste Arbeit, eine metaphernreiche Passionsgeschichte, in der Großartigkeit und Scheitern eng beieinander liegen.

HOLY MOTORS (Leos Carax, F/D 2012, 1.12.) Der mysteriöse Monsieur Oscar (Denis Lavant) lässt sich von seiner Chauffeurin (Edith Scob, Georges Franjus einstiger Muse) in einer weißen Stretch-limousine kreuz und quer durch Paris kutschieren. Auf dem Rücksitz verkleidet er sich immer wieder neu, denn sein Beruf besteht darin, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Er ist ein Mann, der viele Identitäten annimmt – u.a. Industrieboss, Auftragskiller, Bettlerin und Monster –, selbst aber keine besitzt. Auf dem Dach des verlassenen Kaufhauses „La Samaritaine“ singt ihm Eva (Kylie Minogue) mit Blick auf den Pont Neuf und die Lichter der nächtlichen Stadt ein sehnsuchtsvolles Lied. HOLY MOTORS ist ein irrwitziger Paris-Trip, ein fulminanter Bilderrausch, eine tiefe Verbeugung vor Denis Lavant – und ein Film über das Kino: von der Serienfotografie Mareys über die Künstlichkeit Holly-wood’scher Studiofilme bis hin zum digitalen Motion-Capture-Verfahren. (bik)

Eine Veranstaltung mit freundlicher Unterstützung des Institut français.

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