Film ist Theater ist Leben ist Film. Diese Gleichung steht im Zentrum des Kinos von Jacques Rivette. Der französische Filmemacher hat radikal wie kein anderer das Leben als Spiel und das Spiel als Kunst auf die Leinwand gebracht. Immer wieder setzt er die vielfältigen Beziehungen in Szene, die Fiktion und Realität, Kunst und Leben miteinander unterhalten können – Theaterproben sind nur deren bevorzugter Ausdruck. Rivettes Gabe, das Reale und Vertraute ganz unangestrengt ins Geheimnisvolle und Fantastische zu überführen ist prägend für sein Kino. Die Magie seiner Filme beruht auf der Kraft der Imagination.
Das Arsenal widmet Jacques Rivette eine komplette Retrospektive, darunter zahlreiche nur sehr selten zu sehende Filme. Auch Rivettes legendäres Opus magnum OUT 1, NOLI ME TANGERE (1970/90) mit einer Dauer von fast 13 Stunden kommt zur Aufführung. Zur Eröffnung am 2. Oktober präsentieren wir erstmalig in Berlin seinen letzten (und kürzesten) Film 36 VUES DU PIC SAINT LOUP (2009).
Jacques Rivette (*1928) gründete 1950 gemeinsam mit Eric Rohmer die Zeitschrift Gazette du cinéma. Nach deren Einstellung schrieb er von 1953 bis 1967 Kritiken für die Cahiers du cinéma, von 1963–65 als deren Chefredakteur. Früher als seine Kritiker-Kollegen Rohmer, Truffaut und Godard verwirklichte Rivette eigene Filmprojekte. Sein Kurzfilm LE COUP DU BERGER (1956) gilt als Beginn der Nouvelle Vague. Noch heute jedoch, nach über 20 Filmen in fünf Jahrzehnten, ist er der Außenseiter unter den großen Filmautoren Frankreichs und der Eigenwilligste der Nouvelle-Vague-Mitbegründer. Seine unkonventionelle und experimentierfreudige Arbeitsweise – ohne Drehbuch und mit viel Improvisation – macht schon die Dreharbeiten zu abenteuerlichen Unternehmungen. Doch auch das Sehen von Rivettes Filmen ist ein Abenteuer, da sie sich nicht an herkömmliche Erzählmuster halten, von außergewöhnlicher Dauer sind, und voller Rätsel, die ohne Auflösung bleiben. Die Stadt Paris spielt eine Hauptrolle – neben den Frauenfiguren, die Rivettes Filme dominieren, verkörpert von Schauspielerinnen wie Bulle Ogier, Juliet Berto, Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart, Jane Birkin und Jeanne Balibar. Ihre Körper im Raum, in Bewegung bestimmen den Verlauf der Filme. Häufig inspiriert von Literatur (vor allem Balzac, aber auch Diderot, Racine, Emily Brontë, Henry James, Luigi Pirandello, Lewis Carroll, Robert Louis Stevenson u.a.) entwirft Rivette einzigartige labyrinthische und fantastische Spielanordnungen.