In der Filmgeschichte Ungarns nimmt Márta Mészáros einen einzigartigen Platz ein. 1931 geboren, studierte sie in den 50er Jahren an der Moskauer Filmhochschule WGIK und drehte anschließend zahlreiche, meist kurze Dokumentarfilme. 1968 realisierte sie mit ELTÁVOZOTT NAP (Das Mädchen) ihren ersten Spielfilm, der gleichzeitig der erste von einer Frau gedrehte ungarische Spielfilm war, und brachte damit eine dezidiert weibliche Perspektive in das ungarische und europäische Filmschaffen. Die vielfach ausgezeichnete Regisseurin, die 1975 unter anderem den Goldenen Bären der Berlinale für ADOPTION gewann, ist bis heute als Filmemacherin aktiv.
Besonders in ihren ersten Spielfilmen ist ihr filmischer Stil von einem dokumentarischen Realismus und genauen Milieuschilderungen geprägt. Später wendet sie sich einer opulenteren Filmsprache mit oft symbolistischen Bildern zu, bleibt ihren Themen aber immer treu. Im Mittelpunkt ihrer Filme stehen stets Frauen – arbeitende Frauen, wie Márta Mészáros in einem Interview einmal hervorhob – und ihr Streben nach Unabhängigkeit im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich. Regelmäßig lehnen sie sich gegen die patriarchale Ordnung auf, tun dies aber ohne große Worte oder Programm. Liebesbeziehungen sind meist ambivalenter Natur, von Konflikten geprägt und scheitern am starren Rollenverständnis des Mannes, während die Frauen mit großer Kompromisslosigkeit auf ihrer Souveränität bestehen und sich nicht in eine passive Rolle hineindrängen lassen. Allen Protagonistinnen gemein ist eine Skepsis gegenüber romantischen Versprechen und ein gänzlich illusionsloser Pragmatismus. Besonders in ihren frühen Filmen schildert Mészáros ungeschönt das Ringen von Frauen um Autonomie und Intimität, wobei ihre Haltung trotz eines klaren und unsentimalen Blicks von viel Sympathie für die Figuren geprägt ist.
Márta Mészáros versteht das Filmemachen immer auch als eine Reflexion der eigenen Biografie sowie der Geschichte ihres Landes. Sujets wie Elternlosigkeit, die Suche nach Mutterschaft, der Umgang mit Verlust und Vergessen sind von persönlichen Erfahrungen durchdrungen. Von den politischen Umständen und ihren Auswirkungen auf das Leben normaler Menschen können diese persönlichen Gefühle aber nie getrennt werden – eine Erfahrung, der sie als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborene Osteuropäerin nicht entkommen konnte. Besonders eng verknüpft ist diese Verbindung in Mészáros' in den 80er Jahren entstandener "Tagebuch-Trilogie", die man als ein Zentrum ihres filmischen Werks verstehen kann. Darin erlebt ihr Alter Ego Juli Kovács das Erwachsenwerden in den politisch dramatischen Zeiten des Stalinismus und des ungarischen Aufstands von 1956. Wie Juli verbrachte Márta Mészáros ihre Kindheit in der UdSSR, wohin ihre Eltern in den 30er Jahren ausgewandert waren. 1938 wurde ihr Vater, der Bildhauer Lászlo Mészáros, von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und verschwand spurlos. Wenige Jahre später starb ihre Mutter an Typhus. Das staatlich verordnete Vergessen des stalinistischen Terrors und seiner vielen Opfer beschäftigte sie zuletzt 2004 in THE UNBURIED MAN, einem Spielfilm über die letzten Jahre Imre Nagys, der als Regierungschef während des ungarischen Volksaufstands für demokratische Reformen einstand und später verhaftet und hingerichtet wurde.
Wir freuen uns, im Anschluss an die Hommage an Márta Mészáros auf dem goEast-Filmfestival in Wiesbaden eine Auswahl ihrer wichtigsten Filme zeigen zu können und eröffnen die Filmreihe mit ELTÁVOZOTT NAP und einer Einführung von Sabine Schöbel.