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Jeder Klang sucht einen Körper, weil er weiß: Was auch immer ihn verursacht hat, war in Bewegung. Meistens bezeichnen wir Klänge nach ihren Ursachen. Um vibrieren zu können, wird ein Körper benötigt. Der zitternde Körper und seine Umgebung: Voraussetzung für jeglichen Klang. Die Stimme ist eine ultimative Körpersucherin. Sie will verstanden werden, will etwas, worin sie sich ausdrücken kann. Die Stimme erkennen wir an und schenken anderen Geräuschen so lange keine Beachtung, bis die gesprochenen Worte befolgt werden. Die Tyrannei der Sprache, wie Artaud es nennt.

Eine verkörperte Stimme ist verwurzelt in etwas, das berührt werden kann. Sie besetzt einen Ort, von dem aus Maß genommen wird, zu dem man in Beziehung steht. Sie ist ausgerichtet. Sie ist untergebracht. Aber was ist mit Stimmen, denen der Körper enteignet wurde? Umherirrende Stimmen, staatenlose Stimmen, orientierungslose, geflohene. Denken Sie an all die Körper, die sich diese Stimme einverleiben könnten. Nicht-menschliche Körper, Landschaftskörper, mineralische Körper, Pflanzenkörper, Sternenkörper, der Körper der Filmzuschauer*in, der Ihrige, ja, Sie – Ihr eigener Körper. Die vagabundierende Stimme, die sich in irgendeinen Verwandtschaftsbezug setzt zu den anderen Darsteller*innen des Films und Machtbande knüpft, bevor sie sich plötzlich wieder herauszieht. Die opportunistische Stimme des Einsiedlerkrebses, die sich ein Heim aus unterschiedlichen Bruchstücken von Materie baut. Oder die Stimme, die unbefestigt bleibt, unenthüllt, allwissend, Welten ins Leben rufend. Bauchrednerin der Materie.

Markiert die enteignete Stimme eine Auflösung des Selbst? Es heißt, die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Es geht nicht darum, was meine Sprache mir erlaubt, sondern darum, wozu sie mich zwingt. Obligatorische Gewohnheiten wie Kausalität, Zeitlichkeit, das Bezeichnen dessen, was gefolgert wird, im Gegensatz zu dem, was erlebt wird, Geschlecht, Geographie. In den Bosavi-Sprachen ist das Wort für „morgen“ dasselbe wie für „gestern“.  Einige Sprachen verwenden für die Selbstbeschreibung der Körper Himmelsrichtungen anstelle von „links“ und „rechts“: „Wenn der Wintu den Fluss hinaufgeht, liegen die Hügel im Westen, der Fluss im Osten, und ein Moskito sticht ihn in den Westarm. Wenn er zurückkehrt, liegen die Hügel immer noch im Westen, aber wenn er sich den Mückenstich kratzt, kratzt er sich am Ostarm.“  Hier ist es die Welt, die stabil ist und das Selbst kontingent. Wir sind nicht die Herrscher*innen unseres Universums. Es trägt uns in seiner Tasche und wir kommen daraus hervor.

Es gibt Stimmen der Fiktion und Stimmen der Wirklichkeit. Der ersteren machen wir Zugeständnisse wie einer archaischen Macht, einer Beschwörerin. Die wirkliche, die festgehaltene Stimme ist stärker eingezäunt, bei ihr steht mehr auf dem Spiel, weil sie versucht, das Innere Einer Bestimmten Person in Sprache zu fassen. Diese Person ist nicht austauschbar. Auch dann nicht, wenn diese Person durch nichts als ihre Stimme präsentiert wird und daher in andere Körper schlüpfen kann.

Trauer macht uns wieder vertraut mit der Gesamtheit des Selbst. Wenn wir den Verlust einer Gemeinschaft, einer Spezies, eines Ortes oder einer Person beweinen, werden wir uns selbst unbegreiflich. „Auf der einen Ebene denke ich, ich habe ‚dich‘ verloren, nur um dann zu entdecken, dass ‚ich‘ mir selbst ebenfalls abhanden gekommen bin.“  Das Fehlende, das Enteignete erlangt angesichts einer wahrgenommenen Abwesenheit psychologische Präsenz. Ein Phantomkörper – er höhlt das Bild aus, kann es aber auch andicken.

Eine Stimme auf Bilder zu legen (voicing-over), ist eine Angewohnheit der Macht. Weshalb es interessant ist, das einmal auszuprobieren. Ich probiere außerdem, die Stimme mehr unter die Bilder zu legen (voicing-under), sie zwischen oder neben die Bilder zu legen, sie in die Bilder hineinzulegen (voicing-in). Sie mehr aus den Bildern herauszunehmen (un-voicing). Dem zu vertrauen, was ohne Stimme erzählt werden kann.
 

Deborah Stratman ist Künstlerin und Filmemacherin. Sie lebt in Chicago und lehrt an der University of Illinois. Stratmans Arbeiten sind zum vierten Mal im Programm von Forum Expanded vertreten. Ein Still aus ihrem Film LAST THINGS ziert auch das gemeinsame Key Visual von Forum und Forum Expanded 2023.

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