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An einem Steenbeck Schneidetisch des Arsenals Filme zu sichten, inmitten der täglichen Geschäftigkeit des Instituts, in dem Raum, in welchem Filmkopien vorbereitet und geprüft, dann mit lautem Geräusch zurückgespult werden, zusätzlich zu dem Lärm, der vom Sony Center Plaza zum 6. Stock des Filmhauses heraufdringt – das allein ist eine spezielle Erfahrung. Es ist die Erfahrung der Materialität von Film, nicht nur im Sinne eines offenen Kinoapparats, sondern als Ort und Kontext des Archivs. Ich schaue auf die kleine Mattscheibe des Schneidetisches und sehe und höre die bewegten Bilder und Töne in Beziehung zu dem, was um mich herum passiert – all das, was der klassische Kinoraum so beflissentlich eliminiert. Vielleicht halte ich den Film an, unterbreche ihn: Ein einzelnes Filmbild bleibt stehen. Ich mache mir Notizen oder schreibe mir eine Stelle des Filmdialogs auf. Möglicherweise gehe ich zurück und spiele eine Szene ein zweites Mal ab. Oder ich drücke eine 16mm-Kopie, die über die Jahre wellig geworden ist, auf dem rotierenden Teller leicht nieder, um ein unregelmäßiges Aufspulen zu verhindern. Es handelt sich um eine taktile Beziehung zu Film, die Kuratoren und Forscher im Arsenal erleben.

"Also gehen sie und kaufen" baut auf dieser Sichtungserfahrung und Arbeitspraxis auf. Das Projekt widmet sich chilenischen und westdeutschen Filmen der frühen 1970er Jahre. Dieser Fokus ist inspiriert durch die Tradition des Arsenals, politische Filme zu zeigen, zu verleihen und zu erhalten. Etwa 30 zwischen 1968 und 1973 in Chile produzierte Dokumentar- und Spielfilme befinden sich in der Sammlung des Arsenals, teilweise deutsch untertitelt, in einigen Fällen als seltene Originalkopien. Diese Filme – entstanden während der fortschrittlichen Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei Ende der 1960er Jahre und anschließend unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende – repräsentieren das Aufkommen einer politisch engagierten, nationalen Filmkultur. Der außerhalb Chiles einzigartige Bestand umfasst auch viele Titel aus den 1980er Jahren, als der Widerstand gegen das Pinochet-Regime an Kraft gewann. Zusammen zeugt dies von der besonderen Beziehung des Arsenals sowie des Internationalen Forums des Jungen Films zum chilenischen Kino, für dessen Protagonisten West-Berlin neben den Festivals in Oberhausen und Leipzig eine wichtige Anlaufstelle war – vor und nach dem Militärputsch am 11. September 1973. Für in Westdeutschland und besonders in West-Berlin produzierte, unabhängige Filme spielte das Arsenal eine wesentliche Rolle. Neben seinen Kino- und Festivalaktivitäten, seiner Verleih- und Publikationstätigkeit regte das Arsenal Diskurse zur feministischen Filmpraxis und zu Filmen über die Arbeitskämpfe Anfang der 1970er Jahre an. Viele der frühen an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) realisierten Filme fanden Eingang in die eklektische Sammlung des Arsenals.

Chile und Deutschland, Vergangenheit und Gegenwart, Sprachen und Bilder zu verbinden, korrespondiert mit meiner persönliche Geschichte. 1970 geboren, bin ich alt genug, die Zeit des Kalten Krieges mitbekommen zu haben. Ich begreife die kulturellen Produkte der alten BRD als Teil meiner politischen Identität. Eine neue persönliche Beziehung zu Chile hat einen Raum radikaler Unterschiede und bemerkenswerter Ähnlichkeiten eröffnet. Diese beiden weit voneinander entfernten Orte haben eine Geschichte verschiedener Zusammenhänge – von der deutschen Emigration nach Chile im 19. Jahrhundert, chilenischen Exilanten in beiden Deutschlands während der Pinochet-Diktatur bis zu zeitgenössischen Werbeplakaten entlang des chilenischen Teils der Panamericana, gespickt mit deutschen Firmenlogos.

Vor diesem Hintergrund begann ich die Betrachtung von Filmen zu vertiefen, die sich mit dem Thema sozialen und ökonomischen Wandels befassen. Im Blick auf die frühen 1970er Jahre sticht Chile als das erste Land hervor, das eine sozialistische Regierung nach demokratischen Regeln wählte. Während Allende die utopische Vision einer Umverteilung von Macht und Wohlstand umzusetzen versuchte, stellten die westlichen Industrienationen, voran die USA, die Weichen zur Radikalisierung des Kapitalismus durch die Flexibilisierung der Devisenkurse und die Loslösung des internationalen Währungssystems vom Goldstandard. Neben der Rückführung der Staatsquote und der Privatisierung öffentlicher Aufgaben bedeutet die Deregulierung des Kapitalverkehrs einen wesentlichen Bestandteil neoliberalen Wirtschaftens. Nach dem Militärputsch vom September 1973 machte Pinochet Chile zu einem Musterland des Neoliberalismus nach Vorbild der Chicagoer Schule – eine Wirtschaftspolitik, die von vielen Ländern weltweit nachgeahmt wurde. Die Effekte dieser Machtverschiebung von der Arbeit zum Kapital lassen sich in den jüngsten Krisen der globalen Finanzwirtschaft und der Eurozone erkennen.

Die für das Projekt wichtigsten Filme sind Raúl Ruiz' LA EXPROPIACIÓN (Chile 1972) und Hellmuth Costards TEILWEISE VON MIR – EIN VOLKSSTÜCK (BRD 1973). Die einzige 16mm Blowup-Kopie des Letzteren ist Teil des Arsenal-Archivs. Meine Recherchen führten zur Übertragung des Super-8-Originals nach Berlin. Dies ermöglicht nun die Digitalisierung von TEILWEISE VON MIR im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Arsenal und der Stiftung Deutsche Kinemathek.

Einzelne chilenische und westdeutsche Filme und Filmkopien, ihre Entstehungskontexte und "Lebensgeschichten“ vor dem Hintergrund der Geschichte gesellschaftlicher und ökonomischer Veränderungen aufeinander und auf heute zu beziehen, ist das Anliegen und Experiment von "Also gehen sie und kaufen". Die konstruierten, mal nahe-, mal fernliegenden Bezugsetzungen manifestieren sich in Form kuratierter Programme, einer filmbasierten Vortragsperformance und einer Publikation als Teil des Living-Archive-Projekts KEYwording Notes on Enculturation of Words and Word Practice within the Image Archive von Madhusree Dutta und Ines Schaber. All diese Elemente entspringen der Reflektion der Lebendigkeit des Filmarchivs im Allgemeinen und der Sammlung des Arsenals im Besonderen. Filme sind Produkte und Produzenten einer Geschichte, die niemals vollständig oder abgeschlossen ist. Geschichte ist nie nur eine Geschichte, vielmehr ist sie etwas, das im Moment der subjektiven Aneignung und Interpretation immerzu aktualisiert wird, im Sehen, Hören und Lesen historischer Filmdokumente.

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