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„Beute-Filme“, angekauft

Am 30. September 1994 verließen die letzten Einheiten der einstigen Sowjetarmee das wiedervereinigte Deutschland. In 15.000 Wagons der Militärtransporte, die dafür benötigt wurden, fand sich für alles Platz, nur nicht für die 60.000 Filmkopien, die der Unterhaltung der Truppe dienten und im Lager der Sowjetarme in Fürstenwalde/Spree untergebracht waren. Um die Filme vor der Vernichtung (Silbergewinnung) zu retten, haben einige europäische Filmarchive die Kopien gekauft. So auch die Freunde der Deutschen Kinemathek. Die damalige Reise nach Fürstenwalde ist einen eigenen Film wert. Die 154 auf diese Weise geretteten Kopien wurden von den Freunden der Deutschen Kinemathek damals archiviert, beschrieben, jedoch seitdem kaum gezeigt. Viele dieser „Beute-Filme“ sind Durchschnittserzeugnisse, Alltagsproduktionen einer großen Filmindustrie. Sie wurden jemals weder für ein Festival ausgewählt, noch von einem ausländischen Verleih gekauft. Die Namen ihrer Macher sind auch bei den russischen Zuschauern in Vergessenheit geraten worden, auch ist ihr Wert als heute noch funktionierende Unterhaltung nicht sonderlich hoch. Doch Film ist nicht nur ein Produkt von Kunstambitionen, Ideologie und/oder Unterhaltung. Retrospektiv betrachtet, vermitteln uns diese vergessenen Filme Bilder einer untergegangenen Welt, die bis 1991 Sowjetunion hieß, und lassen Träume, Werte, Moden, Beziehungsmodelle auferstehen. Der sowjetische Film belebte zwar oft Vorstellungen von Geschichte, Gedächtnis, Gegenwart, Kindheit, Liebe, Familie, Arbeitswelt, wie sie sich die Gesellschaft wünschte, doch war er gleichzeitig eine Schule des Sehens, die einen Zusammenstoß offenbarte – zwischen dem heraufbeschworenen Phantom und dem realen, dahinter „zurückgebliebenen“ Zustand der Gesellschaft. Bilder, Klänge und Farben dieser Filme stehen heute in einem krassen Kontrast zu den neuen Traumwelten, sozialen Rollen und Film-Moden der Russen heute. Die Langsamkeit der Erzählung ist weg, die Körper werden neuen Schönheitsidealen angepasst, und die Ziele, die sich die Filmhelden setzen, stehen den damaligen diametral gegenüber.

Wir werden diese Filme sichten, eine Auswahl von Szenen treffen und daraus eine Collage schneiden: eine Zeitreise, „Das ABC eines verschwundenen Lebens“, in dem stets wiederkehrende Alltagssituationen vorkommen. Wie bewegen sich Kinder und Erwachsene, wie sieht der Tag in einem Kindergarten, einer Schule, einem Büro, einer Werkhalle, Uni oder einer Kaserne aus? Wie verhalten sich Menschen auf der Straße, im Bus, im Laden, beim Arzt oder beim Friseur, während einer Versammlung, auf einer Feier und im Schlafzimmer? Welche Beziehungsmodelle, welche Geschlechterrollen, welche Machtverhältnisse werden hier vorgeführt, ausgeblendet, welche Umgangsformen pflegen Mann und Frau miteinander, Eltern und Kinder, Junge und Alte, Vorgesetze und Untergebene?

Dabei wollen wir auf Zeichen (und Vorzeichen) latenter Veränderungen achten, die 1956 und 1989 so explosiv an die Oberfläche traten und zu den bekannten Umwälzungen in der Geschichte nicht nur der Sowjetunion führten. Zueinander können uns die eines Tages so ungewöhnlich spektakulär im Archiv aufgetauchten Schätze Einblicke in die Atmosphäre vor und nach zwei historischen Wendepunkten ermöglichen, die in Filmen ganz verschiedener Art und Güte ihren Fußabdruck hinterließen.

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