FotoKino Fotografen und Fotografie im Spielfilm
Was will das Kino von der Fotografie? Anders gefragt: Warum und unter welchen
Voraussetzungen werden die Vertreter des einen Mediums für die Vertreter
des anderen interessant? Nach wie vor nämlich scheint die fotografische Profession
auf Filmemacher und Regisseure eine gewisse Anziehungskraft auszuüben. Als
Polizei-, Kriegs-, Zeitungs- und Amateurfotografen, als Voyeur (Rear Window),
Ermittler (Blow Up), Zeugen (Life According to Agfa) oder Täter (Two Evil
Eyes), als Künstler (High Art) oder als Dienstleister (One Hour Photo) behaupten
Fotografen ihre Position unter den favorisierten Figuren des Kinos, ebenso wie
es nicht wenige Filme gibt, deren Plot um ein Foto oder mehrere organisiert ist
(A Zed and Two Noughts, Memento).
Das Kino zeigt sich von der Fotografie fasziniert, immer noch: von der fotografischen
Arbeit und den Gesten, aus denen sie sich zusammensetzt (das Blitzlicht, der Auslöser,
die Dunkelkammer); von der Materialität des fotografischen Bildes (Kultobjekt,
aber auch anfällig für Zeichen des Verfalls); von der Insistenz des
fotografischen Blicks; vom Fotografen als einem Protagonisten des Sehens, der
in der Welt des Kinos vielleicht nicht seinesgleichen hat. Fotografen
sind Zuschauer, Konsumenten des Anblicks, doch treten sie auch in Erscheinung
als Agenten und Chronisten, als Aufklärer und Produzenten einer spezifischen
Art von Anschauungsmaterial. Ähnlich facettenreich der Status des fotografischen
Bildes, das im Kino als Beweismittel, aide mémoire, Fetisch, Enigma, uvm.
seinen Auftritt hat, als stehendes, anhaltendes Bild aber stets eine Irritation
in der Ordnung des filmischen Bildablaufs darstellt.
Wo die Fotografie im Film auftaucht, treten zwei Bildmedien in eine Beziehung,
die im Spielfilm (und das macht ihn interessant) unter der Hand gestaltet wird.
Keine ausgestellte Selbstreflexion, keine auffallenden formalen Experimente; statt
dessen eine Politik der Narrativierung, die das mediale Verhältnis auf der
Folie einer anderen Geschichte oder in der Maske eines anderen Konflikts thematisiert.
Die Filmreihe FotoKino und die Beiträge der im Kino Arsenal stattfindenden
Tagung (18.
20.11.) wollen erkunden, was das Kino nicht zuletzt das des sogenannten
Mainstream zu Mythologie, Theorie und Reflexion der Fotografie beizutragen
hat. (Stefanie Diekmann)
CITY OF GOD/CIDADE DE DEUS (Kátia Lund, Fernando Meirelles, Brasilien 2002),
fulminanter Actionfilm und dokumentarisch anmutende Milieustudie gleichermaßen,
erzählt die Geschichte der Jugendgangs in der Stadt Gottes, einer
Barackensiedlung am Rande von Rio de Janeiro: von den Anfängen der Gewalt
in den 60ern, der Ausweitung des Drogenhandels in den 70ern und der Eskalation
der Bandenkriege in den 80ern. Das vielschichtige Puzzle wird aus der Perspektive
eines Jungen erzählt, der sich dem Kreislauf der Gewalt entzieht, indem er
die Pistole mit einer Kamera vertauscht. Als er einen Fotoapparat geschenkt bekommt,
rückt die Erfüllung seines Traumes näher: als Foto-Reporter das
Leben in den Favelas einfangen zu können. Kein Fotograf hatte sich bisher
dorthin gewagt, um Fotos der rivalisierenden Gangster zu bekommen
(11.11.)
In HIGH ART (Lisa Cholodenko, USA 1998) ermutigt die junge, etwas naive Journalistin
Syd die zurückgezogen lebende Fotografin Lucy Berliner (Ally Sheedy), wieder
zur Kamera zu greifen. Syd arbeitet als Redaktionsassistentin beim New Yorker
Fotomagazin Frame. Durch Zufall gerät sie in die Wohnung von
Lucy Berliner, die vor einigen Jahren ihre Karriere als Fotografin aufgegeben
hat. Lucy lebt mit ihrer Geliebten Greta in einer Welt aus Parties und Drogen.
Während Greta, eine ehemalige Fassbinder-Schauspielerin, nur noch in der
Vergangenheit lebt, wird Lucy durch ihre Begegnung mit Syd daran erinnert, dass
es auch ein anderes Leben gibt. Zwischen den ungleichen Frauen entwickelt sich
eine Liebesgeschichte. Die Fotos in Cholodenkos Regiedebüt stammen von der
New Yorker Foto- und Videokünstlerin JoJo Whilden, die wie Nan Goldin stets
die vertraute Umgebung porträtiert. (12.11.)
Auch der Protagonist von Atom Egoyans Film CALENDAR (Armenien/Kanada/Deutschland
1992/93) ist Fotograf, ein kanadischer Fotograf armenischer Abstammung. Er reist
mit seiner Frau nach Armenien, um für einen Kalender zwölf Aufnahmen
von bedeutenden Kirchen zu machen. Aus dem Geschäftsbesuch wird eine Identitätssuche.
Zurück in Kanada, betrachtet er die auf Video festgehaltenen Erinnerungen,
die zugleich das Protokoll der Entfremdung von seiner Frau sind. Während
der Fotograf Bilder hervorbringt, die die nationale Identitätsbildung fördern
sollen (da Armenier ihre Kirchen über alle Maßen schätzen), bezeugt
er durch die Kamera gleichzeitig den Zerfall der Beziehung zu seiner Frau und
ihr gemeinsames Erlebnis im Land ihrer Vorfahren. (A. Egoyan) (13.11.)
Der Fotograf als Voyeur sowie Freud und Leid der Schaulust stehen im Zentrum von
Hitchcocks REAR WINDOW (Das Fenster zum Hof, USA 1954). Eine zerbrochene Kamera,
Fotos mit spektakulären Motiven, das große Negativ einer Frau und kurz
darauf dasselbe Foto auf dem Titelblatt einer Illustrierten so wird der
Sensationsfotograf Jeffries eingeführt, der wegen eines gebrochenen Beines
an den Rollstuhl gefesselt ist. Aus Langeweile, ausgestattet mit Fernglas und
Teleobjektiv, beobachtet er über den Hinterhof hinweg das Geschehen in den
Wohnungen gegenüber. Schließlich kommt ihm ein Verdacht, er glaubt,
Zeuge eines Verbrechens zu sein: Obwohl er die Tat nicht gesehen hat, wundert
ihn das seltsame Verhalten eines Nachbarn, dessen Frau verschwunden ist
(14.11.)
Ein Auto stößt mit einem tieffliegenden Schwan zusammen. Zwei Frauen
sterben, eine überlebt. Die Witwer, das Zwillingspaar Oswald und Oliver,
beide Zoologen, empfinden tiefen Schmerz, der in beiden den Wunsch auslöst,
dem Nachleben des Körpers auf die Spur zu kommen. Zu diesem Zweck
führen sie fotografische Experimente mit verwesenden Tierkadavern durch.
Sie stellen im Fotolabor die Schöpfung auf den Kopf, indem sie mit Kameras
in Zeitrafferaufnahmen Verwesungsprozesse untersuchen. In die fintenreiche Geschichte
von Peter Greenaways A ZED AND TWO NOUGHTS (Ein Z und zwei Nullen, GB/NL 1985)
sind außerdem ein symmetriebesessener Chirurg, ein beinloser Liebhaber,
diverse Zebras, ein Zoodirektor, der partout kein schwarzweißes Tier in
seinen Gehegen sehen möchte, und viele(s) andere mehr verwickelt. (15.11.)
Helke Sanders DIE ALLSEITIG REDUZIERTE PERSÖNLICHKEIT REDUPERS (1977)
erzählt von der freiberuflichen Pressefotografin Edda, die den Lebensunterhalt
für sich und ihre Tochter bestreiten muss. Sie muss häufig schlechtbezahlte
Auftragsarbeiten übernehmen und kann es sich eigentlich nicht leisten, gründlich
nachzudenken, bevor sie knipst. Nebenher arbeitet sie gemeinsam mit einer Frauengruppe
an einem Projekt, das Berlin als persönlichen Lebensraum abbilden soll. Die
Frauen wollen das nicht-offizielle Berlin dokumentieren und die großformatigen
Fotos in den öffentlichen Raum zurückbringen, so zum Beispiel ein Foto
von der Mauer vor die Mauer. Ein Essay über die Bedingungen, unter
denen eine Frau sich heute von der Stadt ein Bild machen kann. (K. Witte,
1978) (16.11.)
In Louis Malles in einer Atmosphäre unterkühlter Spannung inszeniertem
Debütfilm ASCENSEUR POUR LÉCHAFAUD (Fahrstuhl zum Schafott,
F 1957) durchkreuzen ein steckengebliebener Fahrstuhl, ein schickes Auto, ein
verliebtes Blumenmädchen, eine Dunkelkammer und der Zufall einen sorgfältig
ausgeklügelten Plan. Florence (Jeanne Moreau) plant zusammen mit ihrem Liebhaber
Julien den perfekten Mord an ihrem Ehemann, einem reichen Waffenhändler.
Doch Julien bleibt nach der Tat im Fahrstuhl des Bürogebäudes stecken.
Während Florence vergeblich auf ihn wartet und verzweifelt durchs nächtliche
Paris hastet, versucht er mit allen erdenklichen Mitteln, sich aus dem Aufzug
zu befreien
(17.11.)
Mit dem Thriller ONE HOUR PHOTO (Mark Romanek, USA 2002), der die aggressive Komponente
im Blick des Voyeurs betont, und einem Vortrag von Stefanie Diekmann mit dem Titel
Post-Fotografie eröffnen wir am 18.11. die in die Filmreihe integrierte
Tagung. The photo-guy das ist der stets lächelnde Sy,
der im Fotolabor einer Supermarktkette arbeitet. Mit Hingabe und Sorgfalt überwacht
er die Entwicklung der ihm anvertrauten Fotos: glückliche Momente aus dem
Leben glücklicher Menschen. Die Fotos sind für den isoliert lebenden
Mann die einzige Möglichkeit, wenigstens indirekt an zwischenmen-schlichen
Beziehungen teilzuhaben. Besonders die heile Welt seiner Stammkundin Nina Yorkin
hat es ihm angetan: Die Wand seines Wohnzimmers ist mit heimlich kopierten Schnappschüssen
der scheinbar perfekten Familie tapeziert. Als Sy durch einen Zufall entdeckt,
dass Will Yorkin seine Ehefrau betrügt, tritt er einen fotografischen Rachefeldzug
an
(18.11.)
In BLOW UP (Michelangelo Antonioni, GB 1966) fungiert der Fotograf als Ermittler
doch ist es nicht etwa so, dass ein Verbrechen seine Abbildung nach sich
zieht, sondern die Zeichen einer Fotografie das Verbrechen erst konstruieren.
Ein junger Starfotograf folgt in einem Londoner Park mit der Kamera einem Paar
und entdeckt bei der Entwicklung einer Aufnahme, dass er vermutlich Zeuge eines
Mordes gewesen ist. Er vergrößert einzelne Auszüge der Fotos stark,
fertigt sogenannte Blowups an. Doch was ist auf den Bildern wirklich zu sehen,
was ist Einbildung, was ist Realität? Die Entdeckung von Indizien für
ein Verbrechen in den Bildern verläuft parallel zum Verlust von dessen Spuren
in der Wirklichkeit. (19.11.)
Der neue Antonioni! So wird in Edward Yangs Familienchronik
YIYI A ONE AND A TWO (Taiwan/Japan 2000) der 10jährige Yang-Yang von
seinem Lehrer gehänselt, der auf seinen Fotos nur kahle Wände zu sehen
vermag dabei hatte Yang-Yang versucht, die Mücken an der Wand aufzunehmen.
Wie kann ich wissen, was Du siehst? Wie kannst Du wissen, was ich sehe?
fragt er seinen Vater, der ihm daraufhin das Fotografieren vorschlägt. Schließlich
verlegt er sich auf Fotos von Hinterköpfen: Ich möchte das aufnehmen,
was den Menschen normalerweise verborgen bleibt, die Hälfte ihres Wesens
zum Vorschein bringen, die sie normalerweise nicht sehen können. (19.11.)
Angela Schanelecs MARSEILLE (D 2004) ist in gewisser Weise fotografisch gedacht,
geht vom Standbild aus. Die Kamera gestaltet ruhige Kader. Sophie tauscht ihre
Wohnung mit einer Studentin in Marseille. Sie überlässt sich der Stadt,
sie ist allein, sie fotografiert, das scheint ihre Art der Annäherung zu
sein. Auch zu Hause in Berlin spielen Fotografien eine Rolle: Der Freund ihrer
besten Freundin ist Fotograf. Man sieht ihn bei der Arbeit, er fotografiert Fabrikarbeiterinnen.
Man sieht ihre Posen, ihre Unsicherheit oder Gleichgültigkeit. Der Fotograf
bestimmt, was abgebildet wird. Die Abzüge sehen wir nicht. Sophie geht wieder
nach Marseille. Der Film endet am Meer la mer quon voit danser
le long des golfes claires
(20.11.)
Ein komplexes System aus Notizen und Polaroid-Fotos dient in Christopher Nolans
Thriller MEMENTO (USA 2000) einem Mann, der seit dem Mord an seiner Frau nur noch
über ein fragmentarisches Kurzzeitgedächtnis verfügt, als Erinnerungsstütze.
Er sucht fieberhaft nach dem Täter, und besonders wichtige Hinweise auf den
Mörder hat er sich auf seinen Körper tätowieren lassen. MEMENTO
lässt die Geschichte rückwärts ablaufen: am Anfang steht ein Mord,
den Lenny begeht, ein Racheakt für die Ermordung seiner Frau, danach wird
in Rückblenden versucht, sich langsam an das heran zu tasten, was vielleicht
die Wahrheit ist. Durch die filmische Struktur hat man an der Orientierungslosigkeit
des Protagonisten Anteil und verliert sich dabei in einem Dickicht aus Intrigen.
(20.11.)
LIFE ACCORDING TO AGFA (Assi Dayan, Israel 1992) schildert eine lange Nacht in
einer Bar in Tel Aviv: Zufluchtsort und Kriegsschauplatz zugleich. Hier treffen
aufgeheizte Soldaten auf liberale Bohème, arabische Intifada-Anhänger,
progressive Israelis und radikale Zionisten. Die Stimmung ist eine Mischung aus
Aggressivität und Zärtlichkeit, Lebenshunger und Verzweiflung, offenem
Hass und liebevollem Humor. Die Wirtin und Fotografin Leora macht Fotos von ihren
Gästen und hält die Ereignisse des Abends fest. Der Fluss des Films
wird unterbrochen von diesen Standbildern, Momentaufnahmen einer zerrissenen Gesellschaft.
Auf Agfa, in schwarz-weiss. (20.11.)
Die Vortragsveranstaltungen der Tagung (am 19.11. ab 11 Uhr und am 20.11. ab 14
Uhr, Eintritt frei) sowie das detaillierte Programm können Sie dem ausliegenden
Faltblatt entnehmen.
Im Rahmen der für alle Interessierten offenen Tagung gibt es Beiträge
von: Heiko Christians, Stefanie Diekmann, Winfried Gerling, Christine Karallus,
Birgit Kohler, Petra Löffler, Winfried Pauleit, Kathrin Peters, Marc Ries,
Jens Schröter, Fabian Störmer, Katharina Sykora, Ralph Ubl/Lars Nowak.
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit Stefanie Diekmann (Graduiertenkolleg
Repräsentation Rhetorik Wissen, Frankfurt/Oder);
Winfried Gerling (Europäische Medienwissenschaft, Potsdam); Winfried Pauleit
(Kunstwissenschaft/ Kunstpädagogik, Universität Bremen).