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REANIMATION & REENACTMENT. Filmische Formen der Wieder-Begegnung

Seit 2009 bietet das Arsenal – Institut für Film und Videokunst eine Summer School an, als Angebot an alle Interessierten, sich drei Tage lang gemeinsam und intensiv mit einem Thema an der Schnittstelle von Theorie und Praxis des Films auseinanderzusetzen. Die Arsenal Summer School bietet die Möglichkeit eines ergebnisoffenen Austauschs, bei dem die Fragen und Reflexionen der Teilnehmenden ihre eigene Dynamik entwickeln können.

Die nunmehr sechste Summer School vom 21. bis 23. August 2014 greift den im Arsenal wichtigen Bezug zum eigenen Archiv auf und lehnt sich an das laufende Projekt Visionary Archive an. Unter dem Titel "REANIMATION & REENACTMENT. Filmische Formen der Wieder-Begegnung" widmet sie sich den spezifischen Formen des Wieder-Sehens, mit denen im Kino Vergangenes gegenwärtig wird.

Zentraler Bestandteil dieser Summer School ist das gemeinsame Sichten von Filmen aus dem Archiv des Arsenal. Die Filmauswahl konzentriert sich auf die mannigfaltigen Formen der Reinszenierung, des Reenactments und der Begegnung mit Orten, an denen Vergangenes in offensichtlicher bzw. verborgener Form weiterlebt. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Filmen aus dem antikolonialen, außereuropäischen Kino und der in ihnen erinnerten Geschichte des Widerstands. In dieser Konstellation trifft der Blick ins Archiv auf Filme, die ihrerseits als Archive agieren. Sie sammeln und konservieren Bilder, Töne und Sichtweisen, füllen Löcher des Wissens und reißen andere auf. Sie lassen ein Kino in den Blick nehmen, das sich der kollektiv erlebten, aber widersprüchlich erinnerten Geschichte stellt.

Die gemeinsame Vergegenwärtigung dieser unterschiedlichen filmischen Memotechniken, zu der diese Summer School einlädt, ist nicht als unverfänglicher, distanzierter Blick von außen zu verstehen. Vielmehr soll dabei die in jedem Film angelegte Möglichkeit der Wieder-Begegnung in Anspruch genommen werden, bei der etwas Vergangenes in eine mögliche Zukunft involviert wird.

Mit Filmen von Neïl Beloufa, Vincent Dieutre, Assia Djebar, Ruy Guerra, Philip Scheffner, Ousmane Sembène, Pierre-Yves Vandeweerd.

Leitung: Marie-Hélène Gutberlet, Tobias Hering

Die Veranstaltungen finden in deutscher Sprache statt!

Programm als PDF zum Download

Veranstaltungsort ist das Kino Arsenal am Potsdamer Platz, Potsdamer Str. 2, 10785 Berlin.



Die Teilnehmerzahl ist auf 30 Personen begrenzt. Plätze werden nach Eingang der Anmeldungen vergeben.
Teilnahmegebühren: 125 Euro / 105 Euro (Mitglieder, Studierende, Berlin-Pass) / 85 Euro (Mitglieder im arsenal freundeskreis).

Anmeldeschluss ist der 11. August 2014.

Anmeldeformular als PDF zum Download

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: Nora Molitor oder Angelika Ramlow | Projektkoordination summerschool@arsenal-berlin.de

Programm

Donnerstag, 21.8. (#1 Begegnung & Wieder-Begegnung)

14 Uhr
Ankunft und Begrüßung

14.30 Uhr
Einführung

Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus (Arsenal – Institut für Film und Videokunst)
Marie-Hélène Gutberlet und Tobias Hering (künstlerische Leitung Visionary Archive)

15–17 Uhr
JAURÈS
, Vincent Dieutre, Frankreich 2012, Blu-ray, OmU, 83 min

Gemeinsam mit einer Freundin, der Schauspielerin Eva Truffaut, sichtet der Filmemacher Vincent Dieutre Videoaufnahmen, die er über Monate aus dem Fenster der Wohnung seines Geliebten Simon gemacht hat. Sie zeigen das Geschehen unweit der Pariser Metrostation Jaurès. Die Jahreszeiten vergehen. Wir sehen zufällige Straßenszenen, die vorbeifahrende Hochbahn, den Kanal, das aus Plastikplanen und Kartons unter einer Brücke gebaute Camp afghanischer Flüchtlinge, die Polizei-Razzien und schließlich die Räumung des Camps. Im vertraulichen Tonfall eines Zweiergesprächs kommentieren Truffaut und Dieutre die teilweise durch Übermalung veränderten Bilder. Sie sitzen in einem für Nachsynchronisierungen eingerichteten Sichtungsraum und ihr Gespräch mischt sich mit der Tonspur der Videoaufnahmen, mit Geräuschen aus der Wohnung und Gesprächsfetzen zwischen Dieutre und Simon, die jedoch nie ins Bild treten. Der zweite Blick auf diese Videoaufnahmen lässt Dieutre über sein beinahe klandestines Verhältnis zu Simon nachdenken, einem Sans-Papiers-Aktivisten, den er für sein politisches Engagement bewunderte, aber auch über seine eigene distanzierte Beobachtung aus dem Fenster, seinen Blick auf die afghanischen Flüchtlinge, die ihm gleichzeitig sehr nah und doch unendlich fern zu sein schienen.

17.30–19 Uhr
SANS TITRE
(Untitled), Neïl Beloufa, Algerien / Frankreich 2010, DVD, OmE, 15 min

In einer aus Pappe und Fototapeten gefügten Kulisse rekonstruieren verschiedene Stimmen die vorübergehende Okkupation einer Luxusvilla durch eine Gruppe ungreifbar bleibender Besetzer. Die Kommentare stützen sich auf Gerüchte, Medienberichte und aus der Ferne gemachte Beobachtungen, die aber das Rätsel nicht lösen können, weshalb sich die Besetzer ein weithin sichtbares Gebäude als Versteck ausgewählt und so wenige Spuren hinterlassen haben. Das Bild, das von den temporären Invasoren entsteht, bleibt so brüchig wie die fadenscheinig werdenden Kulissen des Bühnenraums.

Anschließend: Ausschnitte aus Tonspuren von Filmen, die an den nächsten Tagen zu sehen sein werden, und eine Diskussion über das Verhältnis von Bild und Ton / Gesehenem und Gespräch / Imagination und Hörensagen bei der Konstruktion und Rekonstruktion filmischer Realität.

20 Uhr
Abendessen

Freitag, 22.8. (#2 Reenactment & Nacherzählung)

10–12.30 Uhr
MUEDA, MEMORIA E MASSACRE
(Mueda, Erinnerung und Massaker), Ruy Guerra, Mosambik 1979, 35mm, OmU, 75 min

Ruy Guerras MUEDA, MEMORIA E MASSACRE zeigt ein öffentliches Reenactment der Ereignisse von Mueda, wo am 16. Juni 1960 portugiesische Soldaten das Feuer auf eine protestierende Menge eröffneten und hunderte Menschen töteten. Das Massaker ging als Auslöser des antikolonialen Kampfes in die Geschichte Mosambiks ein und wurde bereits seit 1968, noch während des Befreiungskrieges (1964–74), in populären Theaterinszenierungen erinnert. Das von Ruy Guerra gefilmte Reenactment war eines der ersten nach der Unabhängigkeit und fand am Originalschauplatz in Mueda statt. Repräsentiert werden nicht nur die Brutalität der Kolonialmacht, sondern auch die Ignoranz und Lächerlichkeit ihres Personals sowie die schmähliche Rolle ihrer Kollaborateure. Um den gewünschten didaktischen Effekt nicht zu verfehlen, wurden die Spielszenen des Reenactments im Film durch Zeitzeugenkommentare und erläuternde Texttafeln ergänzt. MUEDA, MEMORIA E MASSACRE war eine Produktion des neu gegründeten nationalen Filminstituts (INAC – Instituto Nacional de Audiovisual e Cinema) und stand im Kontext der politischen Aufklärungsarbeit der neuen Regierung von Samora Machel. Der gebürtige Mosambikaner Ruy Guerra war zuvor aus dem brasilianischen Exil zurückgekehrt, um die Leitung des INAC zu übernehmen. Als einer der Köpfe des brasilianischen Cinema Novo hatte er ein politisches Avantgarde-Kino mit entwickelt und sah sich nun mit den programmatischen Erwartungen eines postkolonialen Staatsapparats an das Kino konfrontiert. Durch seine ambivalente, sogar zwiespältige Form erzählt der Film daher auch von unterschiedlichen Erwartungen an ein Kino der Dekolonisierung.

Screening mit anschließender Diskussion

13.30–16.30 Uhr
CAMP DE THIAROYE
(Das Lager von Thiaroye), Ousmane Sembène, Thierno Faty Sow, Senegal 1988, 35mm, OmE, 150 min

CAMP DE THIAROYE erzählt von der Rückkehr der französischen Kolonialtruppen aus dem 2. Weltkrieg und dem Massaker von Thiaroye in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1944. Die als Tirailleurs Sénégalais bekannt gewordenen westafrikanischen Soldaten hatten gegen ihre Ungleichbehandlung gegenüber den weißen Soldaten-Kollegen protestiert. Um die Meuterei niederzuschlagen, eröffnete die französische Armee das Feuer und tötete über 300 Soldaten aus den eigenen Truppen. Der Film stellt die Frage des Rechts im kolonialen Kontext. Er skizziert verschiedene Charaktere und Denkmodelle im Umgang mit den Grundprinzipien der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, von denen die Kolonisierten ausgeschlossen sind. Vor dem Hintergrund des 2. Weltkriegs und der Beteiligung der Kolonialtruppen an der Befreiung Europas von den Nationalsozialisten, bekommt dieser Widerspruch besondere Virulenz. Der Perfidie und Grausamkeit der Ereignisse begegnet Sembène mit burleskem Übertreiben, Galgenhumor und Sprachwitz. Auf dem 45. Internationalen Filmfestival in Venedig gewann der Film den Spezialpreis der Jury, blieb jedoch in Frankreich bis Ende der 1990er Jahre verboten und wurde auch in Senegal zensiert.

Screening mit anschließender Diskussion

17–19 Uhr
TERRITOIRE PERDU
(Lost Land), Pierre-Yves Vandeweerd, Belgien / Frankreich 2011, DigiBeta, OmU, 75 min

Auf einer thematischen Ebene handelt TERRITOIRE PERDU vom sogenannten Westsahara-Konflikt, von der Vertreibung der früher überwiegend nomadisch lebenden Sahraui durch die marokkanische Besatzung, ihrem erzwungenen Exil in algerischen Flüchtlingslagern und ihrem Widerstand. Vandeweerd begleitet die Soldaten des Frente Polisario, der politischen und militärischen Organisation der Sahraui, auf ihren Patrouillen und bei ihren Routinen. Seit 1973 hat der Polisario einen bewaffneten Unabhängigkeitskampf geführt und ist bei der UNO als rechtmäßige Repräsentanz der Sahraui anerkannt. Als Marokko den 1991 vermittelten Waffenstillstand dazu nutzte, Fakten zu schaffen, und einen über 2.500 Kilometer langen Grenzwall durch die Wüste zog, wurde die militärische Mission des Polisario zum Paradox, denn die Soldaten bewachen nun eine Grenze, die sie selbst ausschließt. Filmisch, sinnlich, ist der in schwarz-weiß und auf Super8 gedrehte TERRITOIRE PERDU der Versuch, einer ausweglos erscheinenden politischen Situation, in der sich der Traum von der Rückkehr auf das verlorene Territorium bereits in die dritte Generation übertragen hat, einen visuellen und akustischen Ausdruck zu schaffen. Während sämtliche Bilder diesseits des Grenzwalls entstanden sind, auf dem kargen Gelände, das vom Polisario kontrolliert wird, handelt die Tonspur konsequent von einem Anderswo: von den Erinnerungen an die Zeit, als der Raum noch intakt war; vom Trauma der Vertreibung, den Massakern und den zurückgelassenen Gräbern; vom ungebrochenen Anspruch auf die Aufhebung der Grenze und dem zivilen Widerstand junger Sahraui in den Städten auf der anderen Seite.

Screening mit anschließender Diskussion

Samstag, 23.8. (#3 Archiv & Remix)

10–12 Uhr
LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI
, Assia Djebar, Algerien 1982, 16mm, OmU, 60 min

Als Romanautorin gehört Assia Djebar zu den international bekanntesten und meist gelesenen arabischen Autorinnen ihrer Generation. Im Zusammenhang ihres Engagements für die algerische Unabhängigkeit machte sie Ende der 1970er Jahre zwei Filme – LA NOUBA DES FEMMES DU MONT CHENOUA (1979) und LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI (1982) – die im Kontext einer antikolonialen Geschichtsschreibung von großer Bedeutung sind, auch wenn ihnen wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Für LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI verbrachten Assia Djebar und ihr Koautor Malek Alloula ein halbes Jahr in den Filmarchiven von Pathé und Gaumont und sichteten Filme und Filmreste, die französische Dokumentaristen während der Kolonialzeit gedreht hatten. Mittels der Montage werden diese "Bilder eines tötenden Blicks" gewissermaßen auf die Wahrheit abgesucht, die sie gerade nicht zeigen, auf den Widerstand, der sich "hinter die Maske" zurück gezogen hat. Verbunden ist dieses schonungslose Hinsehen mit einer Tonspur, auf der sich kämpferische Poesie, Sprechgesänge und experimentelle Musik zu einem Abgesang auf die koloniale Gewalt verbinden.

Screening mit anschließender Diskussion

13.30–15.30 Uhr
THE HALFMOON FILES
, Philip Scheffner, Deutschland 2007, BetaSP, OmU, 87 min

THE HALFMOON FILES ist eine Gespenstergeschichte, ein Dokumentarfilm und eine audiovisuelle Recherche zu den Verflechtungen von Politik, Kolonialismus, Wissenschaft und Medien. Ausgangspunkt des Films ist die Tonaufzeichnung eines Kriegsgefangenen aus Indien, Mall Singh, der zur Zeit des ersten Weltkriegs im "Halbmondlager" in Wünsdorf bei Berlin interniert war. Knisternd erklingt seine Stimme von einer 90 Jahre alten Schellackplatte, von denen Philip Scheffner einige Hundert im Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität vorgefunden hat. Die Aufnahmen konservieren die Stimmen von Kolonialsoldaten und entstanden in einer einmaligen Allianz aus Militär, Wissenschaft und Unterhaltungsindustrie in den letzten Jahren des preußischen Kaiserreichs. Philip Scheffner folgt in seiner Spurensuche diesen Stimmen an den Ort ihrer Aufnahme. Wie in einem Memoryspiel, das bis zum Ende unvollständig bleibt, deckt er Bilder und Töne auf, in denen plötzliche Verbindungen zwischen entfernten Orten und weit auseinanderliegenden Zeiten aufblitzen. Doch die Handlung der Geschichte entgleitet dem Erzähler und die Geister kehren zurück. Aus den akribischen Daten der Ethnologen und Lautforscher, den Aufzeichnungen ihrer Phonographen, den Stimmen der indischen und nordafrikanischen Kriegsgefangenen und aus der Abwesenheit ihrer Körper und ihrer Geschichten, den Spuren im heutigen Wünsdorf und dem Prozess des Suchens selbst entsteht ein vielschichtiges Geflecht von Stimmen, Geräuschen und Bildern.

Screening mit anschließender Diskussion

16–18 Uhr
Abschlussdiskussion mit anschließendem Umtrunk
 

Biografien

Marie-Hélène Gutberlet
studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Filmwissenschaft in Frankfurt/Main und Basel (Dr. Phil.) und arbeitet als freie Kuratorin, Publizistin und Filmwissenschaftlerin. Sie ist Mitgründerin der Experimentalfilmreihe "reel to real" (seit 2003 in Frankfurt/Main) und Ko-Initiatorin des Projekts "Migration & Media" mit Symposien und Ausstellungsprojekten – zuletzt "Shoe Shop" (Johannesburg 2012), "The Space Between Us" (Berlin und Stuttgart 2013–2014). Zahlreiche Veröffentlichungen und Zeitschriftenbeiträge zum Afrikanischen Kino, Black Cinema, Migrations-, Experimental- und Dokumentarfilm.

Tobias Hering studierte Philosophie in Frankfurt/Main und Berlin und arbeitet als Kurator und Publizist. Neben freien kuratorischen Projekten mit internationalen Film- und Kunstinstitutionen war er Teilnehmer des Projekts "Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart" (s.a. "Gespenster der Freiheit"). Zudem programmiert er im Kino Arsenal die fortlaufende Reihe "Der Standpunkt der Aufnahme", in deren Kontext er unlängst die Essaysammlung "Der Standpunkt der Aufnahme – Point of View" herausgegeben hat. Tobias Hering ist seit 2011 Mitglied im Auswahlkomitee des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestivals (dokfest).

Marie-Hélène Gutberlet und Tobias Hering sind gemeinsam für die künstlerische Leitung des Projekts Visionary Archive verantwortlich.

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