Direkt zum Seiteninhalt springen

Rezension zu It all depends #2

von Eckhard Weber

Am Sonntag, den 30. März 2014, standen drei Filme aus verschiedenen Ländern und Epochen auf dem Programm, die beiden Langfilme MUEDA, MEMORIA E MASSACRE  (Ruy Guerra, Mosambik 1979) und COME BACK, AFRCIA (Lionel Rogosin, Südafrika/USA 1958) sowie zwischen diesen beiden der Kurzfilm Matsogo (Lerato Shadi, Südafrika 2013). Begleitet wurden die Filme von Einführungen und Diskussionen, die die beiden KuratorInnen der Visionary-Archive-Veranstaltungsreihe "It all depends", Marie-Hélène Gutberlet und Tobias Hering, moderierten.

Zu Gast waren im Kino Arsenal KünstlerInnen aus Südafrika, die als Artists in Residence der Projektreihe On Fire von Ende Februar bis April 2014 in Berlin waren. On Fire – ein Projekt der Tanzcompagnie Constanza Macras/DorkyPark, kuratiert von Constanza Macras und Tamara Saphir – beleuchtet die Stituation südafrikanischer LGBTI (Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle) und ihrer AktivistInnen und hinterfragt die Normen von Gender- und sexueller Identität und ihre Konstruktionen. Bei den Diskussionen im Arsenal waren einige der beteiligten südafrikanischen KünstlerInnen anwesend: die Tänzerin, Schauspielerin und Choreografin Mmakgosi Kgabi, die Tänzerin und Choreografin Mamela Nyamza und der Tänzer und Choreograf Lucky Kele. Außerdem präsentierte die Videokünstlerin und Performerin Lerato Shadi ihre Videoarbeit MATSOGO.

"Mueda, memoria e massacre"

MUEDA, MEMORIA E MASSACRE (Mosambik 1979), gedreht vom 1931 in Mosambik geborenen brasilianischen Regisseur Ruy Guerra, war einer der ersten Langfilme, die das neu gegründete Nationale Filminstitut der Volksrepublik Mosambik (INAC) produzierte und die erste Spielfilmproduktion des Landes nach der Unabhängigkeit 1975. Von dem Film existieren mindestens zwei Schnittfassungen, denn die 35-mm-Kopie, die nach der Präsentation des Films im Rahmen des Berlinale Forum 1981 ins Archiv des Arsenal aufgenommen wurde, unterscheidet sich in einigen Szenen von der Kopie im Archiv des INAC in Maputo. Bei der Veranstaltung am 30. März 2014 wurde die deutsch untertitelte 35-mm-Kopie aus dem Arsenal-Archiv gezeigt und bei dieser Gelegenheit erstmals mit zusätzlich eingeklickten englischen Untertiteln versehen, die stellenweise ausführlicher waren als die ursprünglichen deutschen Untertitel. Im Rahmen von Visionary Archive bleiben die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen des Films ein Gegenstand der Recherche.

MUEDA, MEMORIA E MASSACRE handelt vom brutal niedergeschlagenen Aufstand gegen die portugiesische Kolonialregierung in Mueda, Distrikt Cabo Delgado im Norden Mosambiks, ein für das unabhängige Mosambik zentrales historisches Ereignis. Die portugiesischen Kolonialherren, die seit der Zeit der Konquistadoren Mosambik beherrschten, beuteten Jahrhunderte lang Ressourcen des Landes aus und zwangen die einheimische Bevölkerung in die Sklaverei. Noch bis ins 20. Jahrhundert wurde diese durch Zwangsarbeit unterdrückt und durch Erhebung hoher Abgaben (in Naturalien) in Armut und Elend gehalten. Im Juni 1960 forderten mehrere Delegationen der mosambikanischen Bevölkerung, darunter viele Exilanten, die in Tansania lebten, in Mueda vom lokalen portugiesischen Kolonialverwalter die Unabhängigkeit. Dieser verständigte den Gouverneur, und am 16. Juni 1960 wurden die Proteste mit dem Einsatz des Militärs brutal niedergeschlagen. Rund 600 Demonstranten wurden dabei getötet. Das Trauma dieses Massakers galt später als der Auslöser für den anti-kolonialen Befreiungskampf, der 1964 zu einem bewaffneten Kampf wurde und erst mit der Revolution in Portugal 1974 sein offizielles Ende fand und zur Unabhängigkeit führte. Bereits während des Befreiungskampfes wurde das Massaker von Mueda als Reenactment vor Ort jährlich von Laien nachgestellt, zunächst heimlich und unbemerkt von der portugiesischen Kolonialregierung, später nach der Unabhängigkeit als offizielle Gedenkveranstaltung vor und mit dem Publikum von Mueda. Ruy Guerra stellte eine Aufführung dieses Reenactments ins Zentrum seines Films, den er in distanzierter Erzählhaltung angelegt hat. Zudem hat er in das Geschehen Interviewsequenzen montiert, bei denen Zeitzeugen, u.a. ein Demonstrant von 1960, ein Polizist und ein Krankenpfleger, zu Wort kommen.

Der Film macht das Reenactment als kollektive Erinnerungskultur sichtbar, als jährlich stattfindendes Ritual, als performativ ausgeführtes Mahnmal und als Verarbeitung der schrecklichen Geschehnisse. Viele der Teilnehmer dieses Reenactment haben das Massaker selbst erlebt und kannten die Kollaborateure aus der Bevölkerung. Das von Laien aufgeführte Reenactment stellt nach, wie die Kolonialmacht und ihre ausführenden Organe die Bevölkerung drangsalieren, auf vielfache Weise demütigen und fundamentale Menschenrechte verletzen. Bei der Nichterfüllung der geforderten Abgaben wird körperliche Gewalt angewendet, beim geringsten Widerstand werden Menschen willkürlich festgenommen. Dabei werden die Portugiesen und ihre Helfer aus der Bevölkerung, aus denen sich das Personal der Polizei und der Armee rekrutiert, durch Mittel der Groteske karikiert. Ein Sekretär des Kolonialverwalters trägt in absurder Verfremdung (vielleicht als sarkastische Antwort auf die unselige Tradition des "Black facing" oder im Rekurs auf avantgardistische Theater- und Filmpraxen im Brasilien der 1970er Jahre?) eine lange weiße Pappnase und einen falschen Bauch unter seiner Uniform. Die Soldaten und Polizisten werden als tumbe, kriecherische Befehlsausführer gezeichnet. Ein herbeizitierter Priester soll die Delegierten des sich formierenden Widerstands taufen. Auf diese Weise wird in verschiedenen Szenen das Vorgehen der Kolonialmacht und der Verlauf der Proteste nachgestellt und die Mechanismen kolonialer Unterdrückung anschaulich bloßgelegt. Einzelne Delegationen des Unabhängigkeitskampfes treten auf, auch Bauern und Bäuerinnen, die für ihre Rechte auf Land bei der Kolonialverwaltung vorstellig werden. Als sich die Proteste ausweiten und die DemonstrantInnen konsequent auf ihren Forderungen beharren, eröffnet das Militär das Feuer und schießt wahllos in die Menge. Während des Spiels skandieren DarstellerInnen und das Publikum Parolen aus dem Freiheitskampf: "Freiheit und Menschenwürde!", "Der Kampf des Volkes ist gerecht!", "Ein Held ist, wer sein Leben gibt!", "Lang lebe FreLiMo (Frente da Libertação de Moçambique)!", "Der Kampf geht weiter!"

Gerade die Parole "Der Kampf geht weiter!" gehört neben der kollektiven Aufarbeitung der Ereignisse von Mueda zur zentralen Botschaft dieses Films. Viele der DarstellerInnen und das Publikum dieser Reinszenierung hatten selbst während des Unabhängigkeitskampfs Angehörige verloren und große Not erlebt. Neben dem Gedenken an die Opfer transportiert eines der Narrative dieses Films auch die Einsicht, dass am Ende dieses entbehrungsreichen und leidvollen Wegs die Unabhängigkeit des Landes steht. Und dass diese weiterhin verteidigt werden muss.

Bei der Diskussion betonten die südafrikanischen Gäste, dass für sie in MUEDA, MEMORIA E MASSACRE viele Parallelen zum Kampf gegen das Apartheid-Regime in Südafrika nachhallen – insbesondere der Aufstand in Soweto 1976, der brutal niedergeschlagen wurde. Gerade die wichtige Bedeutung des Reenactment von Mueda als kollektives Ritual konnten sie persönlich und gesellschaftlich nachvollziehen, geht es dabei doch auch um einen kontinuierlichen Heilungsprozess derjenigen, die mit den UnterdrückerInnen zusammenarbeiteten und die nach wie vor in dieser Gesellschaft leben. Auch dies ist die Botschaft der wiederholt im Film zu hörenden Parole "Der Kampf geht weiter": Die schmerzhafte Auseinandersetzung mit den traumatischen Ereignissen geht weiter. Es ist wenig hilfreich, sie ignorieren oder vergessen zu wollen.

"Matsogo"

Im Kurzfilm MATSOGO (Südafrika 2013) der südafrikanischen Performance- und Videokünstlerin Lerato Shadi sieht man die Hände der Künstlerin ein Stück Schokoladenkuchen auf der aufgeschlagenen Seite der New-York-Times-Aktienkurse zerbröseln. Sie formt aus den Krümeln eine Dreiecksform, die dem ursprünglichen Stück Kuchen gleicht, aber etwas Neues ist. Die wortlose Darstellung, lediglich unterlegt mit zwei Kinderliedern, hinterfragt die Wahrnehmung von Formen und Bedeutungen und stellt gleichzeitig Fragen nach ökonomischer und politischer Selbstbestimmung.

"Mit Essen spielt man nicht", wird Kindern gesagt. Genau dies macht Lerato Shadi in ihrem Video mit einem Kuchenstück – und kreiert damit aus dem Kuchen eine verwechselnd ähnliche Form. Kein einziger Krümel geht bei dieser Transformation verloren, sorgsam werden die einzelnen Krümel aufgelesen und in die neue Form eingeknetet. Shadis Film eröffnet eine Menge Deutungen: Steht der Kuchen für die Ressourcen des afrikanischen Kontinents? Oder für den Kontinent selbst, der noch immer Ziel postkolonial geprägter Manipulationen ist? Wer hat in Afrika Zugang zu Ressourcen? "Wir wollen nicht nur ein Stück des Kuchens, wir wollen die ganze Bäckerei" wurde während der Diskussion eingeworfen (ein Zitat aus den städtischen Verteilungskämpfen im Berlin der 1970er Jahre). Der Blick ging auch konkret nach Südafrika, wo noch immer krasse wirtschaftliche Ungleichheit herrscht, die strukturell mit den Folgen der Apartheid zusammenhängen, etwa im Bildungssystem oder in den unangetasteten Bodenbesitzverhältnissen. Erwähnt wurde auch der Skandal um das Anwesen des südafrikanischen Präsidenten Zuma in Nkandla in der Provinz KwaZulu-Natal, wo mehr als 200 Millionen Rand (15 Millionen Euro) an öffentlichen Mitteln für Baumaßnahmen auf seinem Besitz eingesetzt wurden, darunter für einen gigantischen Pool und ein Amphitheater. Lerato Shadis kurzer Film über ein Stück Kuchen formuliert insofern brisante Fragen nach ökonomischer Freiheit und Gleichheit.

"Come Back, Africa"

Der amerikanische Filmemacher Lionel Rogosin drehte mit seinem Independent-Film COME BACK, AFRICA (Südafrika/USA 1958) einen wichtigen Film, der sich kritisch mit dem südafrikanischen Apartheid-System befasste. Er setzt sich mit dem Schicksal eines schwarzen Arbeiters im Apartheid-Regime auseinander, mit Rassismus und damit einhergehend mit der Unmenschlichkeit, Brutalität und massiven Menschenrechtsverletzungen. Rogosin filmte in und um Johannesburg heimlich mit LaiendarstellerInnen. Die einzelnen ungeschnittenen Filmrollen wurden sofort außer Landes verschickt. Die südafrikanischen Behörden machte Rogosin indes glauben, er arbeite an einem Dokumentarfilm über die Musikkulturen der schwarzen Bevölkerung. Tatsächlich fanden in den Film zahlreiche Musikszenen Eingang, verschiedene Straßenmusiker werden gezeigt, darunter auch ein Gumboot-Tanz, und auch eine Szene mit der jungen Miriam Makeba in einer Shebeen.

Zachariah, die männliche Hauptfigur des Films, erlebt eine Art Odyssee in der rassistischen südafrikanischen Gesellschaft. Er arbeitet in einer der Goldminen von Johannesburg und lebt zuerst in einem Arbeiter-Hostel, getrennt von seiner Familie auf dem Land. Er darf sich in Johannesburg nicht frei bewegen. Die schwere und gefährliche Arbeit unter Tage wird derart schlecht bezahlt, dass Zachariah andere Verdienstmöglichkeiten sucht, bei denen er von den weißen Chefs gedemütigt, ausgenutzt und verleumdet wird. In einer Autowerkstatt wird er als vermeintlicher Kommunist beschimpft und entlassen, in einem Hotel unbegründet der sexuellen Belästigung beschuldigt und in einem weißen Privathaushalt fortwährend schikaniert. Ohne Rechte ist er den Launen und der Willkür seiner weißen Vorgesetzten und deren Umfeld ausgeliefert. Gleichzeitig zeigt der Film die Gewalt in den Townships, die von frustrieren, verbitterten jungen Männern ausgeht, aber auch heimliche Treffen von kritischen schwarzen Intellektuellen in einer Shebeen. In einer dieser Shebeen-Szenen werden die Positionen des schwarzen Widerstands gegen das Apartheid-System verhandelt: Die Weißen in Südafrika wiegelten die Schwarzen gegeneinander auf, hielten sie klein und behandelten sie wie unmündige Kinder.
Zachariahs Frau Vinah kommt ihm mit den Kindern nach und arbeitet als Haushaltshilfe in Johannesburg. Das Haus der Bediensteten im Garten ähnelt einer Baracke. Zachariah besucht sie und wird von der Polizei willkürlich festgenommen, weil seine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis nicht mehr gültig sind und er damit gegen die restriktiven Passgesetze verstößt. Während seiner Zeit im Gefängnis muss sich Vinah gegen Vergewaltigungsversuche, auch seitens der weißen Polizisten, wehren und wird schließlich von einem Kriminellen des Townsphips ermordet. Aus dem Gefängnis entlassen, entdeckt Zachariah seine ermordete Frau in ihrem Haus in Sophiatown.

COME BACK, AFRICA wirkt auch heute noch verstörend in seiner schonungslosen Darstellung der Vorgänge im Apartheid-Südafrika. Lionel Rogosin ergreift in diesem Film für die unterdrückte schwarze Bevölkerung Partei, und doch wird COME BACK, AFRICA heute mitunter zwiespältig aufgenommen. Gut gemeint, vielleicht, aber vielleicht nicht angemessen erzählt, wäre eine diplomatische Formel für die Reaktionen während der Vorführung am 30. März im Arsenal – es gab aber auch heftige Abwehr gegen den Film und seine Erzählweise. Die Diskussion verdeutlichte, dass Lionel Rogosins Position keinerlei Eindeutigkeit besitzt und sein Projekt, Ungleichheit und politisch gewollte Gewaltverhältnisse aufzuzeigen, Gefahr läuft, selbst despektierliche Umgangsweisen fortzuschreiben; dass man sich den Vorurteilen, Hierarchien und Klischees, auch wenn sie kritisiert werden sollen, historisch nicht vollends entziehen kann. Die Gäste aus Südafrika sahen zum Teil durchaus die Schicksale und Lebensgeschichten ihrer Großeltern und Eltern in COME BACK, AFRICA widergespiegelt, doch sie sahen auch rassistische Vorurteile filmisch wiederholt – schwarze Männer würden brutal und als Säufer inszeniert, selbst das Lied von Miriam Makeba handelt von einem betrunkenen Liebhaber, die Hauptfigur würde naiv gezeichnet; es fehle eine deutliche Gegenstimme gegen die klischeehafte Darstellung. Letztlich werde ihnen auch hier keine Stimme gegeben. Allein in einzelnen Momenten der Shebeen-Szenen mit den Leuten des DRUM-Magazins kämen überhaupt greifbare Positionen der Schwarzen zur Sprache. Die strukturelle Gewalt des Systems werde deshalb nicht ausreichend bloßgelegt, lediglich die Straßenszenen in den Hochhausschluchten von Johannesburg deuteten auf den Reichtum der weißen Minderheit und damit auf die ungleiche Verteilung des Kapitals.

Die Diskussion im Arsenal zeigt, dass aus einer kritischen Perspektive von heute auch ein engagierter Filmemacher wie Lionel Rogosin in den 1950er Jahren im rassistischen Denken seiner Zeit verhaftet war, gleichwohl er genau dieses Denken und Handeln entlarven wollte. Die Diskussion zeigt auch, wie differenziert und kritisch der Blick heute ist und wie verschieden die Perspektiven sind, wenn sie wie bei den Diskussionen im Rahmen der Veranstaltung vom 30. März 2014 im Arsenal auf Auffassungen und Erfahrungen von SüdafrikanerInnen der Post-Apartheid-Zeit treffen. Die Debatte nach der Vorführung des Films zeigte aber wohl auch die Relevanz eines Projekts wie Visionary Archive und solcher gemeinsamer Filmsichtungen, wenn es darum geht, in Berlin ein Forum für aktuelle Diskussionen um den afrikanischen Film und die damit verbundenen historischen, politischen und kulturellen Debatten zu bieten. Indem Gäste aus den Herkunftsländern der Filme eingeladen werden, ist die Möglichkeit gegeben, vielfältige Positionen zu den Filmen zu präsentieren. Positionen, die der europäische und eurozentrische Blick nicht imstande ist, alleine zu generieren. Das ist neben den spannenden Einblicken ins afrikanische Kino das Wertvolle bei den Veranstaltungen des Visionary Archive.