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Eine Wiederentdeckung ist Ilona Baltruschs Flug durch die Nacht (1980), entstanden während ihres Studiums an der DFFB in einer Zeit, als Godard das Vorbild für eine ganze Generation war. Der Film zeigt ein bühnenhaft inszeniertes West-Berlin und bringt in philosophischen Endlosschlaufen das typische Endzeitgefühl der achtziger Jahre zum Ausdruck: Der filmische Prozess wird Teil eines Gedankenspiels über den Tod der Lebenden in der Stadt. Gleichzeitig ist Flug durch die Nacht in seiner Verspieltheit, mit der er den Regeln des Films und Theaters trotzt, gerade auch in unserer Zeit sehr aktuell.     Stefanie Schulte Strathaus

Flug durch die Nacht ist eines der eindrücklichsten Beispiele des in dieser Zeit sich neu orientierenden jungen Westberliner Kinos. (…) die beiden ProtagonistInnen, Gretel Kemeny und Martin Peter (…) treten zunächst als Duett im Schöneberger Café Mitropa auf, einem der Laufstege der damaligen New Wave- und Post-Punk-Szene, doch es sind dabei keine Gäste anwesend. Weder verheimlicht der Film, dass die Dreharbeiten nachts außerhalb der Publikumszeit stattfinden, noch fiktionalisiert er eine typische Bar-Atmosphäre. Die vom kalten Filmlicht durchflutete Gaststätte wirkt genauso lakonisch verfremdet, wie die einzige Textzeile, die Kemeny zur scheppernden E-Gitarre von Peter singt: „Denn sie wissen, was sie tun!“ Und auch wenn die beiden DarstellerInnen an späteren Stationen des Films – Bett, Dach, Küche, Brückengeländer, Pförtnerloge – plakative Dialogfragmente variieren, markieren sie dabei kein zielgerichtetes Anliegen, auch nicht das Epos einer Odyssee. Zwar erinnern vereinzelte Motive an Klassiker der Filmgeschichte (beispielsweise an das Gangsterpärchen Bonnie und Clyde), und zwischendurch erscheint der Film wie ein existenzialistisches Musical. Doch geht es weder um die Re-Inszenierung eines Mythos noch um die Kristallisation eines Zeit-Bildes. Brisant wird es vor allem, wenn sich die Regisseurin ihrerseits akustisch aus dem Off in die Szene einmischt. Etwa wenn sie sich lauthals vergewissert, dass die mitwirkende Tontechnikerin ihre Aufnahme macht, obgleich Kemeny/Peter lediglich darüber rätseln, wie sie ihre Rolle spielen sollen. Oder wenn Baltrusch ausdrücklich darauf besteht, dass die Kamera weiter läuft, auch wenn die beiden gerade schweigen und nichts besonderes zu zeigen wissen. „Scheiß auf das teure Filmmaterial!“ – So verkürzt es wäre, in solcher Geste den ironischen Reflex auf die von Subvention und Wohlstand geprägte Überflussgesellschaft des späten West-Berlins zu sehen, so wenig sind die vom Drehbuch vorgegebenen Dialogfragmente – „Es ist eine ungeheure Bedrohung über der Stadt“ ... „Der Tod wirbt mit einer Ausdauer um mich, dass es nicht auszuhalten ist.“ – allein auf jene die Stadt konturierenden militärischen Abschreckungsszenarien gemünzt. Vielmehr inszeniert Baltrusch die hier zwischen Privatheit und Öffentlichkeit irrlichternden BesucherInnen so abwechslungsreich, dass der Film geradezu ein Paradigma liefert für die – auch vom Kalten Krieg – dekonstruierten Rendezvous- und Stilpolitiken dieser Ära.     Rainer Bellenbaum

Die Bilder von Baltrusch sind dazu da, das Off zu studieren, das Off auszudifferenzieren, im Off zu sein, aus-zuhalten. Der Film tut das Unmögliche, er sucht nur das Off: das Off der leeren Leinwand voller Kratzer, das Off zwischen zwei Tafeln mit Pinselstrichen; das Off der Live-Musik, die aus dem Gitarrenverstärker kommt; das Off des Raumes, dessen Akustik stärker ist als die Stimme im On; das Off, dessen On das Set ist; das Off, dessen Off das Set ist; das Off wenn das Filmband durchgelaufen ist; das Off wenn das Tonband durchgelaufen ist; das Off, das entsteht, wenn die Kamera schwenkt, das Off das entsteht, wenn die Kamera zurückschwenkt und es gibt kein zurück. Das Off wenn die Kamera über das Ziel hinaus schwenkt. Kein Hors-Champ, denn da ist keine Kontinuität, keine Beziehung, nichts Berechenbares, kein Verhältnis zu Raum und Zeit, nur tiefes, schwarzes Off. Helles gleißenes Off, verunglücktes-On als Off. „I scheiter with it“ sagt die Baltrusch fluchend in die Nacht des Tonbands. Das Off, das der Mann für die Frau ist; das Off, das die Frau für den Mann ist. Das Off, das der Blick des Mannes für die Frau ist, das Off, das die Armbewegung der Frau für den Mann ist; das Off jenseits des Satzes „Ich habe Dich nie geliebt.“ Das Off, das der Tag in der Nacht ist; dass Off der Nacht draußen vor dem Fenster; das Off, das als Gegenlicht das Bild auffrisst. Das Off wenn jemand durch die Tür verschwindet, das Off wenn jemand hinter der Glastür eines Aufzugs steht und man nicht wissen kann, wann der abfährt. Auffährt. Das Off, aus dem die Regisseurin zu sprechen auffordert; das Off, aus dem die Kamerafrau die Regisseurin im Bild dirigiert; das Off eines Raumes, den es vor dem Filmen nie gegeben hat; das Off einer Bewegung, die wiederholt wird; das Off einer Schauspiel-Wiederholung mit Schnitt, das Off einer Schauspiel-Wiederholung ohne Schnitt. Das Off eines Schauspiels, das plötzlich abbricht.      Ute Holl

Land: BRD 1980
Produktion: Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin
Idee und Regie: Ilona Baltrusch
Betreuung: Valeska Schöttle
Produktionsleitung: Leonid Wawiloff
Kamera: Ulrike Pfeifer, Aribert Weiß, Ilona Baltrusch, Charly Rösch, Ulrich Malik
Kameraassistenz: Bärbel Freund; Ton: Ute Aurand, Bärbel Freund, Charly Rösch, Susanne Ebert, Rosa Droll, Bettina Thienhaus, Ulrike Pfeiffer, Georg Stankovski, Aribert Weiß;
Mischung: Fritz Poppenberg, Werner Günther
Schnitt: Ilona Baltrusch, Raimund Barthelmes
Trick: Irina Hoppe
Darsteller: Gretel Kemeny, Martin Peter, Ilona Baltrusch, Erwin Ventsch, Gerhard Laatz.
Format: 16mm, 2010 auf DigiBeta übertragen, Farbe;
Länge: 90 Minuten.

Ilona Baltrusch, geboren 1947 in Celle. 1969-76 Studium der Kunst bei Josef Beuys und Film bei Ole John, zusätzlich Kunsterziehung an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, 1. Staatsexamen Bildende Kunst. 1979-1986 Filmregie an der Film- und Fernsehakademie Berlin. Filme und Videos seit 1972. Auswahl: 1980: Filmmusik; 1986: Like a rat in the night; No names; 1992: No return.

Kontakt: www.arsenal-berlin.de
www.dffb.de

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