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In der langen Geschichte der Bezugnahmen zwischen dem Kino und der Psychoanalyse gebührt dem Phantasma ein besonderer Rang. Jacques Lacan übernimmt in den 1950er Jahren den Phantasie-Begriff von Sigmund Freud im Sinne einer kinematografischen „Szene, in der sich ein unbewusstes Begehren zeigt“. Die Erfahrung des Films und der Medien insgesamt schien sich anzubieten, ein gegenüber dem Begründer der Psychoanalyse doch stark verändertes Bild des psychischen Geschehens zu entwerfen. War bei Freud die Phantasie noch strikt als individuelle, unbewusste Wunscherfüllung gedacht, wird das Phantasma zu einem komplexen psycho-sozialen Arrangement, in das die materialen Ausgangsbedingungen jeder Kultur wie Sprache und Bilder immer schon eingeschrieben sind. Die phantasmatischen Bilder und das subjektive Begehren sind hier wechselseitig aufeinander bezogen; als Sphäre des Imaginären werden sie innerhalb der modernen Gesellschaften symbolisch so angeordnet, dass sie das Reale dieser Gesellschaften verstellen. Das „Subjekt des Unbewussten“ setzt sich darin in Szene und deshalb liegt auch der Sinn der Bilder nicht in ihnen selbst, sondern in der Struktur ihrer Anordnungsweise.

Diese strikt defensive Definition des Phantasmas bei Lacan lässt keine Aufhebung zu. Das Phantasma kann nicht durchschaut werden wie die Ideologie. Es lässt sich nur „durchqueren“, was nichts anderes heißt als von einem Phantasma ins andere zu taumeln. Melanie Klein hatte hingegen bereits eine eher ambivalente Sichtweise auf die Phantasie vorgelegt. Sie setzte den Schwerpunkt ihres Interesses auf den Prozess der Differenzierung zwischen Phantasie und Realität. Erst im kontinuierlichen Abgleich miteinander können Phantasie und Realität voneinander unterschieden werden. Hierin wird die produktive Funktion der Phantasie für jedes Verständnis von Realität sichtbar. Das Phantasma scheint in dieser Sichtweise die Kritik an sich selbst immer schon zu implizieren, die ihm im Namen einer Realität genannten Sphäre Grenzen setzt. Was jedoch weder die Kritik noch die Realität davor feit, selbst zum Phantasma zu werden und die depressive Enttäuschung zur wahren Kulturleistung stilisiert. In ähnlichem Sinn betont Slavoj Žižek in seiner Lesart Lacans das Entbergende der Phantasmen. Sie verbergen den „Horror des Realen“ nicht nur; sie lassen ihn in entstellter Form gleichzeitig erst erscheinen. Auch bei Žižek warten die Phantasmen bereits auf den entschlüsselnden, kritischen Blick. Hierbei kündigt sich der „radikal intersubjektive Charakter der Phantasmas“ an, die Form nämlich, in der der Andere, die Gesellschaft, das Reale in meinem Begehren spricht.

Mit den durchaus unterschiedlichen Lesarten von Klein und Žižek werden nicht nur die produktiven Seiten des Phantasmas, sondern auch die wechselseitig konstitutive Funktion von Abwehr und Kritik, sowie von Phantasie und Realität benannt. In diesem Sinne wurzelt immer schon etwas Kritisches innerhalb der Phantasmen und etwas Phantasmatisches in der Kritik. Hier eröffnet sich ein Spielraum, der das „Durchqueren“ mit konkretem Sinn belegen kann. Aber lässt sich dieser Spielraum auch intentional beanspruchen? Wie kann ich  mit den Mitteln der Psychoanalyse, der Kunst, des Films oder der Politik die Phantasmen durchqueren, wenn die Phantasmen immer schon mich durchqueren, wenn mein Ich immer schon phantasmatisch aufgeladen ist? Was sagt mir dann mein Ich?

Diese Frage ist nicht beantwortbar, solange die unbewussten Phantasien nur auf Vorstellungen von Ganzheit, Synthese, Autonomie, Identität und Ähnlichkeit bezogen werden, auf die sich das imaginäre Ich stützt um seinen intrinsischen Mangel zu beheben und diese Kategorien dabei von der für jede Subjektivität konstitutiven Spiegelerfahrung auf die symbolischen Bedeutungsträger von Nation, Geschichte, Kapital, Kunst oder Gesellschaft überträgt. Denn die Entlarvung dieser Strukturen des Symbolischen wird selbst phantasmatisch sobald diese nicht als konstitutiv für die je eigene Aussageposition begriffen werden. Nation, Kunst, Kapital, Geschichte und Gesellschaft können nicht von außen kritisiert werden. Jede Kritik positioniert sich aus ihrem symbolischen Radius heraus, und bleibt darin auch begrenzt. Dementsprechend können heute, nach mehr als hundert Jahren Filmgeschichte, immer stärker verfeinerter Schnitttechnik und dramaturgischer Effektivität die Phantasmen auch das Fragmentarische, die Entfremdung, die Heteronomie und die Differenz betreffen. Der Film und das Kino lassen sich ebenso wie das Fernsehen und die Videoportale selbst als Formen des Symbolischen verstehen, deren spezifisches Phantasma in der Synthese von Gegensätzen, in der Identität der Differenz oder in der Totalität des Fragmentarischen zu finden wäre, wobei im Wechselspiel zwischen Mainstream und experimenteller Form der Fokus der phantasmatischen Aufladung sich immer wieder von einem Pol zum anderen verlagern kann.

Phantasmen können also weder intentional gestaltet noch grundsätzlich überwunden werden; man wird sich ihnen bis zu einem gewissen Grad immer schon ausgeliefert finden. Sie lassen sich auch nicht im Anderen verorten und dort verhandeln, weil dieses Andere immer schon im Eigenen präsent ist. Allerdings kann sich das Phantasma nicht schließen im Sinne einer perfekt manipulierten Welt, eben weil es immer schon ein Moment der Differenz und der Kritik beinhaltet, ohne das es nicht phantasmatisch sein kann. Erwartung und Enttäuschung kennzeichnen daher seine beiden Seiten, die es in ihrem Wechselspiel antreiben, zwischen denen jedoch auch navigiert werden kann. Dies setzt voraus, die je eigenen Motivationsressourcen und Antriebe eben nicht mit dem Getrieben-Sein der Produktionsapparate unmittelbar zu verschalten, sondern sich ihrer Differenz gerade in der Verbindung zu versichern. Es geht also weder um eine rein distanzierte Haltung noch um ein immersives Eintauchen; sich der Ambivalenz von Phantasie und Realität, Distanz und Nähe, Abwehr und Kritik auszusetzen wird vielmehr zur Voraussetzung, die Strukturen und Dynamiken des Phantasmatischen bearbeiten zu können.  

Entscheidend hierfür wird sein, die Medien des Phantasmatischen zu erforschen und zu erfassen. Mit Medien sind hier nicht einfach die medialen Bilder gemeint, sondern die Schnittstellen, an denen die Bilder in der Struktur der symbolischen Ordnung verankert sind. Es geht also darum, die Bilder stets mit den strukturellen Formen ihres in Erscheinung Tretens zu verknüpfen, und zwar sowohl auf der inhaltlichen, der formal-filmischen und der installativ-situativen Ebene. Inhaltlich lassen sich die Medien des Phantasmatischen, wie an der Auswahl des diesjährigen „Forum Expanded“ deutlich zu sehen, etwa am Archiv oder am Museum, am Territorium oder an der Grenze, an den Waffen des Krieges und an denen der Vorstellung festmachen als jenen Schnittstellen, an denen sich die Phantasmen von Geschichte, Nation und Kunst kreuzen. Wenn sich die Phantasmen schon nicht grundsätzlich überwinden lassen, so können sie doch gegeneinander in Stellung gebracht werden. Dabei können die ökonomischen, kulturellen und politischen Transfers ebenso nachgezeichnet wie die transversalen Dynamiken der Akteure sichtbar gemacht werden, die sich zwischen ihnen bewegen und damit die Differenz zwischen dem Hegemonialen und dem Subalternen überhaupt erst aufrufen.

Auf der filmischen Ebene kommen das dokumentarische, das dramaturgische, das experimentelle und das erzählende Bild zum Einsatz. Ihr Sinn scheint jedoch nicht in der strikten Definition einer Gattung zu liegen, die das phantasmatisch Wahre verkörperte, sondern strukturell im Differentiellen, in der Differenz der Bildformen zueinander zu liegen. Gerade in den Überlagerungen kann zwar das Arsenal des Experimentellen im Nicht-Identischen von Bild und Ton, Bild und Text, Abbild und Wirklichkeit, Bildinhalt und Bildträger aufgefahren werden, ohne darin selbst wiederum identisch zu werden. Auf ähnliche Weise wird auf Genres wie den Horror- oder den Kriegsfilm Bezug genommen ohne in ihnen aufzugehen.

Auch auf der installativ-situativen Ebene findet keine „Erlösung“ des Filmbildes im Raum statt. Der immersive filmische Raum weitet sich hier nicht ins Lounge-mäßige entspannter Partizipation und Akklamation aus. Stattdessen entstehen bereits innerhalb der einzelnen Arbeiten und auch zwischen ihnen Kreuzungspunkte, die nicht einfach zwischen dem jeweiligen autorschaftlichen Ich und einem neugierigen Publikum vermitteln. In der konstitutiven Überlagerung von technischen, künstlerischen und psychischen Projektionen und Introjektionen scheitert jede Vermittlung. Die Taktiken der Durchquerung: die Wiederholung und das Ritornell, das Zitat und die indirekte Rede, die Referenz und das Situative heben die Spannung zwischen Erwartung und Enttäuschung nicht auf. Es gibt hier keine Versöhnung zwischen dem Inhalt und seiner Erscheinung, zwischen dem Positionierten und dem Reflexiven, zwischen dem Begehren und seiner depressiven Bewältigung. Anstatt das Phantasmatische auf eine der beiden Seiten hin zuzuspitzen, wird es in seiner relationalen Form adressiert, als besondere Form der strukturellen Verknüpfung von Inhalt und Aussageposition, Form und Präsentation, von Autorschaft und Rezeption. Psychoanalytische, ästhetische und politische Erfahrung können daher grundsätzlich nicht von der Bestätigung der je eigenen Phantasmen ausgehen; diese werden gerade in der Erwartung an Wahrheit und Begehren, Form und Inhalt, Autorschaft und Werk enttäuscht. In dieser kategorischen Verfehlung des richtigen Moments der Vermittlung und des phantasmatischen Genießens insgesamt öffnet sich der Zwiespalt zwischen den Kategorien immer wieder von Neuem. Das Phantasmatische muss jedoch gewollt werden um verfehlt werden zu können. Erst darin liegt die Möglichkeitsbedingung des Symbolischen in Psychoanalyse, Kunst und Politik.

Helmut Draxler ist Kunstkritiker, Kurator und Professor für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Im Rahmen des Forum Expanded Programms hält er eine Keynote Lecture zum Thema.

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