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92 Min. Deutsch.

Die Führungen im Reichstagsgebäude sind gut besucht, bei der simulierten Abstimmung über ein Gesetz gibt es viele Lacher. Im Infomobil des Bundestags am Standort Dresden beklagt ein Bürger fehlende Volksnähe. SPD-Abgeordnete üben in einem Workshop Strategien des Umgangs mit rechtspopulistischen Thesen. Eine Menschenmenge skandiert: Macht die Grenzen dicht! Journalisten von taz und Bild-Zeitung diskutieren die Themen des Tages. Eine TV-Redaktion des MDR produziert den Beitrag „Angriff auf die Demokratie – Die Neue Rechte“. Nüchtern und unaufgeregt versammelt Aggregat scharfsinnig beobachtete und angeordnete Szenen aus dem aktuellen politischen und medialen Alltag in Deutschland. Die Kamera ist konzentriert und lässt sich nicht ablenken, die Montage operiert mit Schwarzbildern und harten Schnitten. Die nicht verbundenen Fragmente zeigen unkommentiert Situationen, die Vermittlung von Politik oder Kommunikation über Gesellschaft betreffen. Dabei geraten die Rolle der Medien als vierte Gewalt und diverse die Berichterstattung prägende Kriterien genauso in den Blick, wie der Eindruck entsteht, dass es noch viel Kleinarbeit brauchen wird, um die große demokratische Idee zu bewahren. (Birgit Kohler)

Marie Wilke wurde 1974 in Berlin geboren. Von 1996 bis 1999 studierte sie an der Schule für Dokumentarfilm, Fernsehen und Neue Medien ZeLIG in Bozen (Italien). 2004 schloss sie ein Studium der Experimentellen Mediengestaltung an der Universität der Künste Berlin ab. Anschließend war sie bis 2014 Künstlerische Mitarbeiterin an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“ im Studiengang Regie (Dokumentarfilm). Seit 2000 ist Marie Wilke als Autorin, Regisseurin und Editorin für Dokumentarfilm und Fernsehen sowie als freiberufliche Dozentin an verschiedenen Filmschulen und Instituten für Regie und Stoffentwicklung tätig. Aggregat ist ihr zweiter abendfüllender Film.

Wie manifestiert sich Demokratie im Sprechen?

Im Vorraum des Plenarsaals im Reichstagsgebäude steht die Skulptur „Tisch mit Aggregat“ von Joseph Beuys. Ein schwarzer Kasten auf einem Holztisch, den Schnüre mit zwei Kugeln am Boden verbinden, die ursprünglich aus Erde geformt waren.
Ein Bild des brennenden Reichstags am 27. Februar 1933 in der Parlamentsausstellung im Deutschen Dom am Gendarmenmarkt. Eine Besuchergruppe bleibt davor stehen. Ein Fremdenführer erzählt über den Reichstagsbrand. Die Gruppe zieht weiter.
Die Beuys-Skulptur ist im Film zu sehen, die Situation im Deutschen Dom nicht. Doch der Reichstagsbrand taucht während einer Kunstführung auf einem Bild von Katharina Sieverding wieder auf. Das Bild des Brandes hat mich während der Dreharbeiten begleitet: als Ausdruck der Fragilität von politischen Systemen.
Mein Ausgangspunkt war auch ganz konkret die Frage, wie Demokratie sich zeigt, sich im Sprechen manifestiert. Das Tagespolitische hat mich insofern interessiert, als in den aktuellen Debatten während der Drehzeit häufig um Demokratie gerungen wurde; es wurde ausgehandelt, wie Menschen miteinander sprechen können, und es ging um ihre Schwierigkeiten, miteinander zu sprechen.
AGGREGAT ist für mich auch ein Film über Beziehungen – Beziehungen innerhalb der Gesellschaft. Es geht um Wut, Missverständnisse, alte Demütigungen, den Verlust von Gewissheiten und um Verunsicherung. Diese Situationen habe ich gesucht, im Laufe der Dreharbeiten an verschiedenen Orten, in konzentrierter Form. Mich haben die Brüche interessiert, die sich in Rollenbildern von Politikern, Bürgern und Journalisten auftun, und die verschiedenen Arten, über Gesellschaft und Politik zu sprechen.
Ich habe einige Jahre für die Fernsehnachrichten als Cutterin gearbeitet, parallel zu meinem Studium an der Kunsthochschule. Es hat mich interessiert, wie im Journalismus mit Bildern und Tönen von Politik erzählt wird, nach welchen Regeln über welches Ereignis berichtet wird. Das Spannungsfeld zwischen dem Herstellen von Politik und der Berichterstattung ist ebenfalls zentral für AGGREGAT.
Der Film sucht keine Ausgewogenheit oder Vollständigkeit. Er besteht aus Bruchstücken, Beobachtungen, Einblicken. Beim Drehen war es immer das Ziel, das notwendige Bild und den notwendigen Ton zu suchen. Die Form des Films erzählt von der Haltung und Beziehung zum Dargestellten. Die Bilder und Töne sind kein Vehikel für eine Aussage oder eine Aussageabsicht, sie stehen für sich. Wir waren mit einer großen Kamera vor Ort, wir waren sichtbar. Es gibt keine Schnittbilder. (Marie Wilke)

Gespräch mit Marie Wilke: „Nachrichten sind nicht objektiv, sondern von Menschen gemacht“

Birgit Kohler: Ihr Film versammelt Beobachtungen aus den Jahren 2016/2017, ist also ein aktuelles Zeitdokument aus dem Deutschland der Gegenwart. Die hier gespeicherten oder archivierten Aufzeichnungen dürften – jenseits der ästhetischen Strategien – zukünftig einmal für Historiker von Interesse sein. Hat AGGREGAT auch ein historiografisches Moment?

Marie Wilke: Der Ausgangspunkt meines Films war das grundsätzliche Interesse am Gefüge Demokratie und Parlamentarismus. Ich habe im aktuellen politischen und medialen Geschehen Situationen gesucht, in denen Politik sich abbildet und in denen es um die konkreten Begegnungen und Handlungen von Menschen geht, die in ihrer Summe Demokratie ausmachen. Für mich ist der Film auch das Dokument einer Zeit im Umbruch geworden, in der das demokratische System neu verhandelt wird. Es ist mir als Regisseurin wichtig, mich auf eine gewisse Art dem Gegenstand gegenüber fremd zu machen, sozusagen einen Schritt zurückzutreten und aus einer Distanz zu beobachten. Gleichzeitig bin ich mir natürlich meiner Beziehungen zur Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, bewusst. Aus dieser Verwurzelung entstehen zum großen Teil die Fragen, mit denen ich mich auseinandersetze, und die viel mit der spezifisch deutschen Geschichte zu tun haben. AGGREGAT ist für mich das Porträt eines Ausschnitts der deutschen Gegenwart. Gleichzeitig stellt der Film Fragen, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft reichen.

Die Kamera richtet den Blick auf das Volk, seine Vertreter*innen und die Medien. Sie beobachtet stoisch, mischt sich nicht ein, sie schweift nie ab und lässt sich nicht ablenken. Inwiefern entspricht das Ihrer Herangehensweise als Filmemacherin?

Wir waren beim Drehen mit einer großen Kamera anwesend und immer für alle Anwesenden sichtbar. Wir waren Teil des Geschehens. Ich stehe den Menschen und Situationen mit Offenheit gegenüber und betrachte das dokumentarische Drehen als Austausch: Ich möchte keine Aufnahmen gegen den Willen der Beteiligten machen, sondern sehe die Kamera als Verstärker der Situationen, die wir vorfinden. Die Kamera sucht die Bühne, auf der etwas abläuft. Dass sie meist statisch ist, deckt sich auch mit meiner Haltung als Filmemacherin, mich selbst zurückzunehmen und nicht zu kommentieren. Die Menschen gehen mit der Anwesenheit der Kamera um und reagieren darauf. Die Tatsache, dass sie sich dann auch manchmal selbst inszenieren bzw. für die Kamera agieren, ist für mich Teil des Films. Während des Drehens ist das Ziel, das richtige Bild zu finden, ganz im Sinne von Robert Bresson, „nicht schöne Bilder zu gestalten, sondern notwendige“. Das bedeutet für mich, dass die richtige Einstellung immer wieder aus einem Prozess heraus generiert werden muss, der während des Drehens im ständigen Überprüfen der eigenen Distanz zum Gegenstand und der eigenen Fragestellung besteht. Ich frage mich während des Drehens fortlaufend: Was ist wichtig? Worum geht es gerade? Welche Distanz zu den Menschen, zum Geschehen wollen bzw. können wir wählen?

Das Material, das Sie gesammelt haben, ist auf eine spezifische Weise angeordnet: Die Szenen bleiben unverbunden, sie sind durch Schwarzbilder und harte Schnitte voneinander getrennt, weder durch eine Off-Stimme aufeinander bezogen noch durch Textinserts kommentiert oder kontextualisiert. Wie kam es zu dieser fragmentarischen Form?

Zu Beginn der Dreharbeiten bin ich eher dem Arbeitsalltag von einzelnen Journalisten und Politikern gefolgt. Ich habe aber schnell gemerkt, dass diese Art des Fokus nicht zu den Situationen führt, die mich interessieren. Ich habe dann nach Situationen und Konstellationen gesucht, die für sich stehen und in denen die Themen verhandelt werden, die mich interessieren: zum Beispiel das Zusammentreffen eines Politikers mit Bürgern oder eine Arbeitsgemeinschaft im Bundestag, in der die Abgeordneten über ihre Rolle als Politiker sprechen. Die fragmentarische Form entspricht dem Inhalt bzw. meiner Sicht auf die einzelnen Teile der Gesellschaft, die sich eben nicht in ein Narrativ einfangen oder anhand einer Figur erzählen lassen. Sie macht auch deutlich, dass dieser Film ein Ausschnitt ist und nicht versucht, etwas in Gänze darzustellen oder zu definieren. Die Szenen des Films sind verbunden durch die Fragestellung nach der Möglichkeit von Demokratie und ihrer Ausgestaltung. In der Montage stellte sich heraus, dass die einzelnen Szenen die deutliche Trennung durch Schwarzbilder brauchen, um in ihrer fragmentarischen Form wahrgenommen zu werden. Die Hauptarbeit bei der Montage bestand darin, allen Szenen ihren Raum zu geben und zu verhindern, dass durch die Reihung der Eindruck einer Erzählung entsteht. Es war mir wichtig, dass der Film offen bleibt und keine Erklärungsmuster anbietet. AGGREGAT will kein Beleg für eine bestimmte Sicht der Dinge sein. Wie und in welcher Art die einzelnen Fragmente aufeinander bezogen werden, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen.

Der Titel des Films bringt das in seiner wörtlichen Bedeutung ja auch zum Ausdruck: ein Ganzes aus innerlich nicht miteinander verbundenen Teilen. Er verweist für mich außerdem auf ein gewisses Interesse am aus der Konkretion des Dokumentierten gewonnenen Abstrakten. Können Sie das Verhältnis von Konkretion und Abstraktion beschreiben?

Im dokumentarischen Beobachten von konkreten Vorgängen und Handlungen öffnet sich für mich auch der Blick auf abstrakte Konstrukte wie Demokratie, Gesellschaft, Institution. Im Betrachten der konkreten Situationen werde ich mir auch meiner eigenen Rolle innerhalb des Konstrukts Gesellschaft und der Notwendigkeit bewusst, mich zu positionieren. Der Ausgangspunkt für meinen letzten Film STAATSDIENER war die Frage, wie Menschen die abstrakte Idee der Staatsgewalt als Polizisten umsetzen. Auch für AGGREGAT war ein Ausgangspunkt das Spannungsfeld zwischen dem Ideal Demokratie und dem realen Zusammenspiel menschlicher Faktoren in der Gesellschaft. Die Kommunikation ist die Verbindung zwischen diesen Teilen.

In der Tat zeigt der Film, dass Demokratie und Politik nicht zuletzt auch eine Frage von Kommunikation und Vermittlung sind. Immer wieder geht es darum, wie über Gesellschaft und Politik gesprochen und geschrieben wird. Der konstatierten Verschränkung von Politik und Mediatisierung kann AGGREGAT selbst nicht entgehen – wie sind Sie dem begegnet?

Ich habe während meines Studiums an der Berliner Universität der Künste als Cutterin für Fernsehnachrichten gearbeitet und mich schon damals viel mit der Vermittlung von Politik und Ereignissen in den Massenmedien beschäftigt. Es ist eine Tatsache, dass die gesellschaftliche Kommunikation und politische Information in einer parlamentarischen Demokratie vor allem über Massenmedien geschieht. Nachrichten sind aber nicht objektiv, sondern von Menschen gemacht – letztlich ein Konstrukt wie auch der Film AGGREGAT selbst. Ich wollte daher in diesem Film, ohne zu werten, die Prozesse sichtbar machen, mit denen Information in den Medien hergestellt wird.
 
Im Reichstagsgebäude gibt es auch Kunst. AGGREGAT zeigt die titelgebende Plastik von Joseph Beuys, die in der Lobby vor dem Plenarsaal des Bundestags steht, außerdem ein Gemälde von Katharina Sieverding und eines von Anselm Kiefer. Inwiefern hat Sie diese Überlappung der Sphären von Kunst und Politik interessiert?

Das Spannungsfeld von Kunst und Politik hat mich von Anfang an interessiert. Alle Kunstwerke, die im Film zu sehen sind, beschäftigen sich mit Aspekten des menschlichen Lebens, der Politik bzw. der Gesellschaft, die über das Tagesaktuelle hinausweisen, und mit dem Thema Vergänglichkeit, auch von Systemen und Macht, wie bei Beuys und Kiefer. In Katharina Sieverdings Bild kann man den Reichstagsbrand erahnen, der auch ein Symbol dafür ist, dass Demokratie quasi über Nacht vorbei sein kann. Genau diese Fragen waren auch für mich zentral für die Arbeit an diesem Film. Ich habe sie in dokumentarischen Situationen gesucht.

(Interview: Birgit Kohler, Januar 2018)

Produktion Andreas Banz, Dirk Engelhardt, Matthias Miegel, Robert Thalheim. Produktionsfirmen Kundschafter Filmproduktion (Berlin, Deutschland), ZDF – Das kleine Fernsehspiel (Mainz, Deutschland). Regie, Buch Marie Wilke. Kamera Alexander Gheorghiu. Montage Jan Soldat, Marie Wilke. Sound Design Uwe Bossenz. Ton Uwe Bossenz. Redaktion Lucas Schmidt, Lucia Haslauer.

Filme

2000: Con anima e corpo (45 Min.). 2005: Berlin eins dunkel (52 Min.). 2015: Staatsdiener (80 Min.). 2018: Aggregat / Aggregate.

Foto: © Kundschafter Filmproduktion

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