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66 Min. Japanisch.

„Japaner können einfach nicht spontan tanzen“, ist die 16-jährige Amiko überzeugt. Gerade hat sie es ausprobiert, in einer Tokioter Untergrundpassage, mit wildfremden Menschen. Amiko, die findet, dass sie überdurchschnittlich viele erlebt von jener Art Tage, an denen einem alles egal ist, ist aus dem provinziellen Nagano in die Metropole abgehauen, um ihren Schwarm Aomi zur Rede zu stellen. Ein Jahr zuvor hatte sie mit dem hübschen Jungen einen langen Winterspaziergang unternommen und geglaubt, einen Gleichgesinnten zu finden. Einen, der sich wie sie fragt, welche Phase des Lebens eigentlich fürs Glücklichsein übrigbleibt. Dann aber ist Aomi Richtung Tokio verschwunden, ausgerechnet mit Miyako, diesem „Inbegriff der Massenkultur“, einer Nemesis der antibürgerlichen, wild romantischen Amiko.
In puncto Einfallsreichtum und spielerischer Leichtigkeit braucht das erquickliche Regiedebüt der 20-jährigen Yoko Yamanaka keinen Vergleich zu scheuen. Vielleicht ist die aufmüpfige Amiko entfernt verwandt mit Louis Malles Zazie in der Metro. Zudem atmet der fantasievolle, freche Film den selten gewordenen rebellischen Geist der „Hachimiri“-Bewegung der 80er Jahre. (Christoph Terhechte)

Yoko Yamanaka wurde 1997 in Nagano (Japan) geboren. Ein Filmstudium am College of Art der Nihon University brach sie nach sechs Monaten ab. Amiko ist ihr erster Spielfilm.

Zwanghaftes Denken

Ich musste schon immer grübeln, über alles nachdenken. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich mich beim Abendessen gefragt, ob meine Eltern sich noch lieben oder nicht. Nachdenken war für mich keine freudvolle Angelegenheit, ich tat es, weil ich keine andere Wahl hatte. Alles, was um mich herum geschah, sprach mich an; ständig wirbelten Gedanken in meinem Kopf herum. Ich konnte nichts dagegen tun.
Die unvermeidliche und weithin bekannte Wahrheit ist, dass viele Wunder dieser Welt sich nicht erklären lassen. Aber obwohl mir das bewusst war, konnte ich das Nachdenken niemals abstellen, das war wie ein Fluch. Natürlich suchte ich Trost in Büchern, und es dauerte nicht lange, bis ich zu einer Art Fantastin wurde. Auf der High School verschrieb ich mich dann ganz und gar dem Film – mein zukünftiger Weg stand fest. Der erste Film, den mir mein Kunstlehrer zeigte, war Alejandro Jodorowskys LA MONTAÑA SAGRADA (1973).
Auch der Umzug aus meiner langweiligen Heimatstadt Nagano nach Tokio befreite mich nicht von der Qual, ständig nachdenken zu müssen; vielmehr hatte ich den Eindruck, dass der Zwang stärker wurde. Zwei Monate nach Beginn meines Filmstudiums besuchte ich meine Mutter in Nagano und teilte ihr mit, dass ich das Studium abbrechen wollte. Ein halbes Jahr später ging ich nicht mehr zur Universität. Tagsüber schlief ich, nachts war ich wach. Alles, was ich aß, nur beschissenes Zeug aus dem Supermarkt, schmeckte wie Asche. Jeden Tag fühlte ich mich elender, irgendwann wusste ich nicht mehr weiter. In dieser Zeit streunte ich oft durch das nächtliche Tokio, und manchmal wurde mir erst gegen Ende der Nacht klar, dass ich zehn Kilometer gelaufen war. Nach einem Jahr in diesem Zustand setzte die Einsamkeit ein.
Schließlich überkam mich der Impuls, einen zu Film drehen, den ich nicht alleine realisieren konnte, für dessen Herstellung ich andere Menschen einbeziehen musste. So begann die Arbeit an AMIKO. Mein kleines Team bestand aus einigen Freunden, meinen Kameramann hatte ich auf Twitter kennengelernt, und auch meine Hauptdarsteller fand ich online. An meiner Schule hatte ich niemanden, den ich hätte bitten können, uns vorübergehend das nötige technische Equipment zu überlassen. Auf eine besonders gute Bildqualität kam es mir aber sowieso nicht an. Gefühle sterben und entstehen jeden Tags aufs Neue. Ich wusste, dass es ausreichen würde, all jene Momente in meinem Film neu zu erschaffen. Auch mit meiner Unfähigkeit, dem Denken Einhalt zu bieten, konnte ich im Lauf der Dreharbeiten Frieden schließen.
Amiko weiß wahrscheinlich nicht, was sie wirklich möchte. Doch eines ist sicher: Sie ist eine hoffnungslose Romantikerin, was gleichermaßen auch auf mich zutrifft. Im Leben geht es vielleicht darum, sich für das zu entscheiden, was man wirklich möchte, und dann alles daranzusetzen, es zu erreichen. Ich könnte diese Art von Leben nicht ertragen. Genau aus diesem Grund verhält Amiko sich so unvorhersehbar und tut wilde, verrückte Dinge – sie ist auf der Suche nach einer neuen Art von „Romantik“. (Yoko Yamanaka)

Gespräch mit Yoko Yamanaka: „Es geht beim Filmemachen darum, sich der Person zu stellen, die man wirklich ist“

Gabriela Seidel-Hollaender: Sie sind eine der jüngsten Regisseurinnen, die im Forum einen Film gezeigt haben. Sie haben Kunst studiert, dann aber beschlossen, dieses Studium aufzugeben und sich dem Kino zuzuwenden. AMIKO ist Ihr erster Film. Gibt es eine Verbindung zwischen Ihrer Arbeit als bildende Künstlerin und als Filmemacherin?

Yoko Yamanaka: Seit ich klein war, habe ich viel gezeichnet. Meine Lehrer und meine Eltern haben mir immer Komplimente dafür gemacht. Als ich merkte, dass es Zeichnungen gab, die sie lobten, und andere, die sie nicht mochten, begann ich auf eine Art und Weise zu zeichnen, von der ich wusste, dass sie ihnen gefallen würde. In der Grundschule habe ich noch sehr kindlich gemalt, in der Mittelschule fertigte ich dann detailliertere Skizzen an. Aber mit der Zeit habe ich meine Originalität verloren. Das Zeichnen fiel mir immer schwerer, weil ich nicht wusste, was ich eigentlich zeichnen wollte. Deshalb habe ich damit aufgehört, bevor ich auf das Gymnasium ging. Ich habe das Gefühl, dass ich mit AMIKO – obwohl ich mich damit auch auf einige andere Filme beziehe – in der Lage war, das umzusetzen, was ich wirklich machen wollte, ohne mich um die Erwartungen anderer zu kümmern.

Wenn man Ihren Film sieht, bekommt man den Eindruck einer sehr spielerischen Herangehensweise an unterschiedliche Genres: AMIKO ist eine Mischung aus Drama und Komödie und hat sogar einen musikalischen, choreografierten Teil. Was war Ihre ursprüngliche Herangehensweise, als Sie mit dem Drehbuchschreiben begannen?

Ich habe ursprünglich an eine viel ruhigere, stillere Geschichte mit weniger Dialog gedacht. Als ich aber mit dem Schreiben anfing, wurde mir schnell klar, dass es für mich einfacher ist, aus der Sicht der Hauptfigur zu schreiben. Filme wie Claude Chabrols UNE AFFAIRE DE FEMMES haben mich dazu inspiriert, darüber nachzudenken, inwieweit Humor innerhalb einer ansonsten ernsthaften Handlung besser zur Geltung kommt.

Wie haben Sie generell am Drehbuch gearbeitet? Haben Sie jede Szene genau geplant, oder gab es Raum für Improvisation mit den Schauspielern?

Den größten Teil der Geschichte habe ich in zwei oder drei Tagen geschrieben. Bei den letzten Szenen war ich plötzlich blockiert; ich konnte das Buch nicht beenden. Deshalb sind einige Teile der Geschichte, die nach Amikos Ankunft in Tokio spielen, improvisiert. Die Szene zum Beispiel, in der Amiko und der Verrückte sich anschreien, haben wir erst am Set entwickelt.

Ihre Protagonistin ist eine impulsive junge Frau, die sehr weit geht, um ihre Gefühle zu verstehen und herauszufinden, weshalb ihre Liebe nicht in dem Maß erwidert wird, wie sie es angenommen hatte. Gibt es eine reale Person, die Sie zu diesem Charakter inspiriert hat? Und wie haben Sie Ihre Schauspieler ausgewählt?

Es gibt kein reales Vorbild für meine Protagonistin, aber wenn ich mich auf jemanden beziehen würde, dann auf mich selbst. Es gibt einen Teil von mir in Amiko, den ich, obwohl ich älter und reifer werde und mich langsam verändere, in meinem Herzen behalten werde. Ich möchte mich später daran erinnern, dass es einen Teil von mir gab, der so war wie sie. Das Wichtigste bei der Auswahl meiner Darsteller*innen waren für mich ihre Augen. Ich suchte online nach jemanden mit einem durchdringenden Blick. Ich habe etwa hundert Instagram- und Twitter-Accounts durchgesehen, bis ich die beiden Schauspieler gefunden hatte, die nun in dem Film zu sehen sind.

Was ist Ihre Vorstellung vom Filmemachen im Allgemeinen? Wie würden Sie Ihr Credo formulieren?

Ich habe noch nie über mein Credo nachgedacht. Ich möchte auf diese Frage etwas Eindrucksvolles entgegnen, aber ich habe nichts vorbereitet, und ich glaube nicht, dass ich bis jetzt jemals wirklich darüber nachgedacht habe. Ich habe, wenn ich an einem Film arbeite, nicht das Bedürfnis, etwas Eindrucksvolles zu machen. Ich denke, dass es beim Filmemachen darum geht, sein unvollkommenes Selbst anzunehmen und sich der Person zu stellen, die man wirklich ist.

Gibt es Filmregisseure, die Sie besonders beeindruckt haben, und gibt es jemanden, der Ihre filmische Arbeitsweise beeinflusst hat?

Mein Kunstlehrer auf dem Gymnasium hat mich mit Filmen wie Alejandro Jodorowskys LA MONTAÑA SAGRADA und Peter Greenaways A ZED AND TWO NOUGHTS bekannt gemacht. Nachdem ich bis dahin Filme mit Happy End und gängige Filmklassiker konsumiert hatte, war das eine Erfahrung, die mir die Augen öffnete. Mir wurde klar, dass man im Film alles machen kann.

Wie waren die Produktionsbedingungen von AMIKO?

Ich hatte keine Zeit, die Produktion dieses Films zu planen. Es war ein sehr spontanes Projekt, und selbst an den intensivsten Tagen waren wir nur zu fünft oder zu sechst. Am Ende übernahm ich auch die Kamera selbst, und am Set waren nur ich, jemand für den Ton und Amiko. Wir hatten nicht viel Geld und konnten uns deshalb auch keine richtige Ausrüstung leisten. Stattdessen haben wir die Spiegelreflexkamera meines Freundes, die ungefähr 500 Dollar wert ist, benutzt. Insgesamt hat der Film 2.500 Dollar gekostet, aber allein 500 davon musste ich für die Reparatur des Autos bezahlen, mit dem ich auf dem Weg nach Nagano, wo wir drehen wollten, einen Unfall hatte.

(Interview: Gabriela Seidel-Hollaender, Januar 2018)

Regie, Buch Yoko Yamanaka. Kamera Asuka Kato, Yoko Yamanaka. Montage Yoko Yamanaka. Musik Shotaro Ohori. Ton Yurie Okazaki. Production Design Yoko Yamanaka. Mit Aira Sunohara (Amiko), Hiroto Oshita (Aomi), Maiko Mineo (Kanako), Ayu Hasegawa (Mizuki), Miayu Hirowatari (Mami), Yukino Abe (Tanzendes Mädchen), Ginji Kaneko (Tanzender Junge).

Weltvertrieb Pia Film Festival

Foto: © Yoko Yamanaka

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