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103 Min. Deutsch.

Zwei geschundene Seelen begegnen sich zufällig, irgendwo auf dem platten Land. Ein Mann und eine Frau, beide nicht mehr jung und beide mit einer großen Enttäuschung konfrontiert. Sie verstehen einander, auch ohne viele Worte, und geben sich auf einer gemeinsamen Teilstrecke ihres Lebens gegenseitig Halt.
Das Kino hat schon verschiedenste Richtungen eingeschlagen, um von Verzweiflung, Schmerz, Trauer und Einsamkeit zu erzählen. Dieser Film geht einen ganz eigenen Weg. Er führt von einer verlassenen Tischlerwerkstatt über ein heruntergekommenes altes Haus zu einem Hafengelände. Die Gangart ist gemächlich, die Gegend menschenleer. Eine Flasche Schnaps, einen Strauß Gladiolen, ein paar Äpfel und Kartoffeln, eine Fotografie, einen Koffer und ein Buch mit russischen Gedichten – viel mehr braucht es nicht als Beiwerk für den minimalistischen Plot. Als der Mann ein Holzkreuz zimmert, ist das eine von mehreren Szenen, in denen Hände am Werk zu sehen sind. Zwischen Reduktion und Pathos, mit eindrucksvoll fotografierten Bildern von großer Intensität und gelegentlichem kraftvollem Percussion-Einsatz entfaltet sich ein intimes Drama, das um die Fragen kreist, woher man kommt und wohin man geht. (Birgit Kohler)

Ludwig Wüst wurde 1965 in Vilseck (Bayern) geboren. Von 1984 bis 1986 machte er eine Ausbildung zum Tischler. Seit 1987 lebt Ludwig Wüst in Wien, wo er eine Schauspiel- und Gesangsausbildung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst absolvierte. Seit 1990 ist er als Theaterregisseur, Autor und Schauspieler tätig, seit 1999 als Filmemacher.

Eine Reise zu den letzten Dingen

„Mono no aware“, der japanische Ausdruck für „die Trauer um den Fluss der Dinge“, hat mich zu diesem Film inspiriert, der uns auf eine intensive Expedition geschickt hat – eine filmische Reise zu letzten Dingen, die teilweise schon verschwunden sind und morgen nicht mehr möglich sein werden. Was kommt danach? (Ludwig Wüst)

Zwischen Archaik und Haiku-Poesie

Es beginnt mit einem Schrei, einem lang anhaltenden, wütenden Schrei gegen das peitschende Rattern eines Hochgeschwindigkeitszuges. Er dringt aus den Tiefen einer unbändigen Brust und setzt den ersten kraftvollen tonalen Höhepunkt des neuen Films von Ludwig Wüst, AUFBRUCH, der in 102 Minuten eine „filmische Reise zu letzten Dingen“ (Ludwig Wüst) unternimmt. Letzte Dinge sind dabei gleich auch erste Dinge: die elementaren Gefühle des Lebens (Tod, Trauer, Hoffnung, Liebe), dargeboten in einer Bildsprache, die eine wunderbare Brücke zwischen Archaik und Haiku-Poesie schlägt.
Nachdem der Mann im blauen Overall, mit dem Rücken zum Zuschauer stehend, seinen Wirbelsturm aus Empfindungen gegen das dahinziehende Leben geschleudert hat, wendet sich nun auch sein äußerliches Leben der Veränderung zu. Gegen Ende des Films entschlüsselt sich, was ihn dazu bringt, aus seinem bisherigen Leben herauszutreten und mit einem kleinen, drolligen Wagen (einem schönen Augenzwinkern in Richtung der viel gewaltigeren Gerätschaften, mit denen ein Road Movie sonst vonstattengeht) die Fahrt ins Weite des Landes anzutreten. Man lässt sich mit ihm treiben und wagt gar nicht, nach dem Warum zu fragen, weil die Suche an sich so faszinierend ist.
Bald gesellt sich eine ältere Frau zu ihm – in ihrer ersten Szene – da noch allein – und auch kurz nach einer Flucht sieht man sie bei einer im Kino überhaupt seltenen Tätigkeit, nämlich dem Lesen und Übersetzen von Gedichten.
Die beiden Drangbewegungen verschmelzen kurzzeitig zu einem gemeinsamen Impetus. Sie bilden ein unvergleichliches Gespann, das in seiner Verschiedenheit ein minimalistisches, doch üppiges Diorama der Menschlichkeit bietet.
AUFBRUCH ist ein Film von außergewöhnlicher Körperlichkeit: Man sieht Hände arbeiten (schreinern), Arme sich verausgaben (beim Ausmalen einer Wand), Schultern rudern, Lippen flüstern, raunen. Der Blick des großartigen Kameramanns Klemens Koscher findet die Nähe in der Distanz und umgekehrt und besticht durch ein überragendes Feingefühl für Licht und Stimmungen – mit den Figuren und den Wetterstimmungen wandelt sich auch die Farbpalette des Films, von den kälteren zu wärmeren, lichteren Tönen.
Die Reise der beiden Figuren beschließt sich an einem gleichsam mythischen und doch ganz gegenwärtigen Ort, sie führt über Wasser und Passagen zu einem End- wie Wendepunkt. Zärtlich und grausam zugleich ist ihr Abschied voneinander, er nimmt sich alle Zeit der Welt, denn es gibt hier keine mehr zu zählen. In den letzten (und ersten) Dingen dieses Films gilt es sich zu verlieren, wiederzufinden und neu zu denken. (Gary Vanisian)

Produktion Maja Savić, Ludwig Wüst. Produktionsfirma film-pla.net (Wien, Österreich). Regie, Buch Ludwig Wüst. Kamera Klemens Koscher. Montage Samuel Käppeli. Musik Andreas Dauböck. Sound Design Bernhard Maisch. Ton Tjandra Warsosumarto. Production Design Ludwig Wüst. Mit Ludwig Wüst (Mann), Claudia Martini (Frau), Suse Lichtenberger (Frau am Telefon).

Filme

2002: Ägyptische Finsternis (63 Min.). 2006: Zwei Frauen (58 Min.). 2007: Bon Voyage (47 Min.). 2009: Koma (83 Min.). 2011: Tape End (60 Min.). 2012: 2012: pasolinicode02112011 (15 Min.). 2013: Das Haus meines Vaters (63 Min.). 2014: Abschied (73 Min.). 2015: (ohne titel) (63 Min.). 2016: Heimatfilm (87 Min.). 2018: Aufbruch / Departure.

Foto: © Klemens Koscher

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